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du jetzt so harmlos eine Kinderfahrradglocke kaufst? Wollte jemand dem Geschäft schaden?

      »Ein Set Satteltaschen fehlt. 145 Franken«, meldete Markus.

      Valerie fluchte. »Und ihr habt beide nichts gesehen?«

      Betretenes Kopfschütteln. Sie war ungerecht, Valerie wusste es. Sie hatte ja ebenfalls nichts bemerkt. Seltsam war es schon, dass sogar Dinge verschwanden, die nicht so einfach zu verbergen waren wie Kilometerzähler oder Sport-T-Shirts. Aber Valerie wusste, dass andernorts ganze Musikanlagen aus Geschäften hinausgetragen wurden.

      »War Tschudi heute mal da?«, fragte sie.

      Luís nickte. Insgeheim hatte Valerie Hugo Tschudi im Verdacht, die Diebstähle zu begehen. Er war Kunde – nun ja, ›Kunde‹ war ein großes Wort. Ein komischer Vogel, fuhr einen Schrottesel, mit dem er wieder und wieder in den Laden kam. Irgendetwas daran zu flicken gab es immer. Aber vermutlich kam er gar nicht deshalb. Hugo mochte um die 50 sein, wirkte ungepflegt, schien nicht zu arbeiten. Er war lang und hager, die meist ungewaschenen Haare hingen ihm ins Gesicht, die Kleider stammten aus dem Brockenhaus, einem Secondhandladen. Irgendwie war er der Zeit in den 70er-Jahren vom Karren gefallen und dort hocken geblieben. Er kam, um Gesellschaft zu haben, um seine Weltanschauung zu predigen – und möglicherweise, um schönes Fahrradzubehör abzustauben und weiterzuverkaufen, mutmaßte Valerie gereizt. Von irgendetwas musste er ja leben. Sie entließ Markus und Luís in den Feierabend und schloss hinter ihnen ab.

      Anschließend warf sie einen Kontrollblick auf die Fahrräder, die auf ihre Reparatur warteten. Wieder entdeckte sie eines mit einem schwarz übermalten FahrGut-Sticker. Komisch, dachte sie. Das fiel ihr seit einigen Monaten auf, dass immer wieder Räder in die Werkstatt kamen, bei denen der kleine, grün-weiß gestreifte Werbesticker, der auf dem Schutzblech jedes bei ihr gekauften Velos klebte, unkenntlich gemacht worden war. Valerie hatte die Kunden nie darauf angesprochen. So wichtig war es ja nicht. Sie fand es einfach ein bisschen seltsam. Ging jemand mit einem dicken schwarzen Filzstift durch Zürich, der es auf ihre kleinen Werbebotschaften abgesehen hatte? Der Gedanke war absurd. Und doch. Es gab ja auch jemanden, der klaute. Gab es eine Verbindung zwischen diesen beiden Vorgängen? Gab es eine Person, die etwas gegen FahrGut hatte? – Ach was, Unsinn, rief sich Valerie zur Ordnung. Erst mal war es so, dass sie ein Problem mit jemandem hatte: Angela Legler. Valerie stieg die Gitterwendeltreppe entschlossen hinab in den unteren Stock.

      Dort waren die große Fahrradausstellung, die Velobekleidung samt Umkleidekabine, eine Kinderecke und ihr Büro untergebracht. Der Hund folgte ihr, er war ihr immer auf den Fersen. Seinen Pfoten zuliebe hatte sie auf der Metalltreppe kleine Spannteppichstücke platziert. Im Büro startete Valerie Gut den Computer und klickte sich in die Kundenkartei. Gab den Buchstaben L ein. Da war sie. Legler, Angela. Name, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse. Bearbeiten. Markieren. Delete. Gelöscht. ›Ermorden‹ nannte Valerie es, wenn sie einen besonders unangenehmen Kunden aus der Versandliste entfernte. Sie tat es selten. Aber mit Befriedigung. Angela Legler war für sie gestorben.

      2. Teil

      Im oberen Stockwerk schaute sie sich um. Das war ihr Reich. Seit fast zehn Jahren. Sie war nach wie vor stolz auf diese zweimal 80 Quadratmeter: Werkstatt, Ausstellung, Verkaufsfläche. Geräumig, zweckmäßig eingerichtet, die Produkte vorteilhaft präsentiert. Drei Arbeitsplätze und 3.000 Kunden in der Kartei. Sie schloss hinter sich ab.

      Der alte Laden hatte ganz anders ausgesehen. Darin war sie praktisch aufgewachsen. Ihr Vater war Velomechaniker gewesen, hatte eine kleine Bude im Quartier gehabt. Die Mutter hatte ihm ›das Büro gemacht‹, wie man damals sagte. Und für die kleine Valerie war die enge, etwas schmuddelige und nicht sehr helle Werkstatt der spannendste Ort der Welt gewesen. Es hatte dort so viele wunderbare Dinge gegeben: weiches himbeerfarbenes Kugellagerfett und dunkles Grafitfett, in das sie ihre kleinen Hände tauchte; silbern glitzernde Rädchen, Schrauben und Muttern, aus denen sie sich mithilfe von dünnem Draht Schmuck bastelte. Mit altem Werkzeug durfte sie auf zerbeulten Schutzblechen herumhämmern, ausprobieren, ob sie einen kaputten Schlauch wieder dicht bekam. Sie hatte ihrem Vater so oft bei den gleichen Reparaturarbeiten zugesehen, seine Bewegungen beobachtet, wie er das Werkzeug ansetzte – ihr schien es, als habe sie es wie von selbst gelernt. Bevor sie zehn war, konnte sie einen platten Reifen und eine Bremse reparieren, ein Rad zentrieren, Speichen einsetzen. Nach der Schule saß sie zuerst bei der Mutter im Büro und machte Hausaufgaben und anschließend ging sie in die Werkstatt hinüber, wo der Vater sie an schrottreifen Velos herumbasteln ließ.

      Valerie nahm den Hund an die Leine und befestigte sie an der Halterung ihres Fahrrads. Sie schob das Rad über die Birmensdorferstrasse, stieg auf und fuhr an der Haltestelle Schmiede Wiedikon vorbei in die Zurlindenstrasse in Richtung Sihl. Seppli zog an der Leine. Sie überquerte den Hertersteig und bog bei der Sportanlage in die Sihlpromenade ein. Dort ließ sie ihn frei laufen. Da sie es nicht eilig hatte, ging sie zu Fuß weiter.

      Sie war gerne zur Schule gegangen, hatte gute Noten gehabt. Ihr Vater war stolz auf sie gewesen und hatte gewollt, dass sie aufs Gymnasium ging und studierte. Das hatte Valerie auch gemacht: Betriebswirtschaft und Ökonomie. Sie hatte in einigen Betrieben gearbeitet, in einer Messerfabrik in Delémont das Marketing übernommen, später in der Geschäftsleitung einer kleinen Textilfabrik in Mollis Einsitz gehabt. Ihr Vater hatte gehofft, sie würde in einen großen Konzern eintreten, Karriere machen. Es war für Valerie nicht ausgeschlossen gewesen, diesen Weg einzuschlagen.

      Sie lief der Sihl entlang, die träge dahinfloss, schob das Rad neben sich her und schaute ab und zu nach Seppli. Er tobte mit einem anderen Hund herum, mit offenem Maul und fliegenden Ohren. Die Tiere jagten den Sihlhügel hoch und runter.

      Dann hatte ihr Vater mit Mitte 60 einen Herzinfarkt erlitten und gleich darauf einen leichten Hirnschlag, von dem er sich nie mehr vollständig erholte. Schnell war klar: Er würde nicht mehr arbeiten können. Plötzlich hatte Valerie gewusst, dass es ihr Spaß machen würde, das Geschäft zu übernehmen. Der Vater war zuerst etwas irritiert gewesen. Hatte seine Tochter an der Universität studiert, um mit Ende 20 das Gleiche zu machen wie er, der gelernte Velomech? Nun ja, es ihrem Vater gleichzutun, hatte Valerie gerade nicht vor, auch wenn sie ihm das natürlich nicht ins Gesicht gesagt hatte. Sie wollte es besser machen. Sie gestaltete den Laden völlig um. Zwischen Werkstatt und Verkaufsteil ließ sie eine Mauer herausbrechen und die dunkle Holzdecke entfernen, sodass der Raum heller, höher, geräumiger wurde und großzügiger wirkte. Sie ließ die Wände neu anstreichen, veränderte die Einrichtung, ging die Produkte durch, warf einiges aus dem Sortiment, führte anderes neu ein, gab dem Geschäft einen Namen, entwarf knackige kleine Inserate für die Quartierpresse und machte nebenher die Fahrradhändlerprüfung.

      Im ersten Jahr war sie allein im Laden. Ihr Vater hatte ebenfalls keine Angestellten gehabt, aber die Mutter hatte mitgearbeitet, die Buchhaltung gemacht, sich um Bestellungen gekümmert, geputzt. Valerie hingegen war auf sich gestellt, was ihr anfangs zu schaffen machte. Natürlich ließ sie sich das nicht anmerken. Die Mutter hatte ihr angeboten, weiterhin die Buchhaltung zu übernehmen, aber das wollte Valerie nicht. Es wäre kein richtiger Neuanfang gewesen. Sie wimmelte die Mutter taktvoll ab und diese hatte zudem genug mit der Pflege des Vaters zu tun. Valerie traute sich in der ersten Zeit kaum, aufs Klo zu gehen, fürchtete sich davor, morgens zu verschlafen oder gar krank zu werden. Aber es ging gut. Am allerersten Tag war zwar ihr erster ›Kunde‹ ein Vertreter gewesen, der ihr eine Kaffeemaschine andrehen und sie, als sie ablehnte, zu Jesus bekehren wollte. Sie entkam der Situation elegant mithilfe einer Nachbarin, die ihr gerade im richtigen Moment zur Neueröffnung ein Stück Kuchen vorbeibrachte. Neben der Stammkundschaft aus dem Quartier, die dem Laden treu blieb, zog sie neue Kunden an. Im ersten Sommer arbeitete sie manchmal bis 23 Uhr oder kam am Montag, ihrem freien Tag, für ein paar Stunden. War das zu Zeiten ihres Vaters genauso gewesen? Es war ihr früher gar nicht aufgefallen, wie viel er gearbeitet hatte. Im zweiten Sommer war klar, dass sie jemanden anstellen musste. Nach drei Jahren bewarb sie sich um ein größeres Ladenlokal, ganz in der Nähe, aber in einer besseren Lage, gleich gegenüber der Tram- und Bushaltestelle Schmiede Wiedikon und neben einem Supermarkt, und zog um. Jetzt konnte sie ein breiteres Sortiment führen, mehr Auswahl anbieten, ein größeres Lager haben. Es war nicht mehr so eng zu zweit, und nach einigen Jahren begann sie, einen Anlehrling oder

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