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Jahre inspirieren.) Mehr noch: Die von der Weltwirtschaftskrise geschwächten USA der dreißiger Jahre wirkten bei weitem nicht mehr so mächtig und dominant wie zuvor. Und Franklin D. Roosevelts Entscheidung, die Kanonenbootdiplomatie und Marines-Politik seiner Vorgänger zu beenden, konnte nicht nur als »gutnachbarschaftliche Politik«, sondern (fälschlicherweise) ebenso als Zeichen der Schwäche verstanden werden. Das Lateinamerika der dreißiger Jahre verspürte keine Neigung dazu, nach Norden zu blicken.

      Von jenseits des Atlantiks gesehen sah es aber zweifellos so aus, als würde der Faschismus zum großen Erfolg des Jahrzehnts werden. Wenn denn überhaupt irgendwas einem unternehmungslustigen Politiker und potentiellen Staatsführer auf dem Kontinent, der sich schon immer von den kulturell hegemonialen Regionen inspirieren ließ (und auf der Suche nach einem Rezept war, wie man modern, reich und groß werden konnte), als nachahmenswertes Beispiel dienen konnte, dann mit Sicherheit Berlin und Rom; denn London und Paris hatten versagt, und Washington hatte ausgedient (und Moskau wurde noch immer als Modell für die soziale Revolution gesehen, was seine politische Anziehungskraft stark einschränkte).

      Doch wie verschieden von ihren europäischen Vorbildern waren dann schließlich die politischen Aktivitäten und Errungenschaften all der Männer, die aus ihrer intellektuellen Schuld gegenüber Mussolini und Hitler nie einen Hehl gemacht hatten! Der Autor erinnert sich an seinen Schock, als sogar der Präsident des revolutionären Bolivien, ohne zu zögern, in einem privaten Gespräch diese Schuld eingestand. Doch in Bolivien sollten dann genau die Soldaten und Politiker, die ein Auge auf Deutschland geworfen hatten, 1952 jene Revolution organisieren, die Zinnminen verstaatlicht und radikale Landreformen zugunsten der indianischen Landbevölkerung durchgesetzt hat. In Kolumbien hatte der große Volkstribun Jorge Eliezer Gaitán, weit entfernt davon, sich auf die politische Rechte zu schlagen, die Führung der Liberalen Partei übernommen und hätte sie als Präsident gewiß in eine radikale Richtung gelenkt, wenn er nicht am 9. April 1948 in Bogotá ermordet worden wäre. Diesem Attentat folgte auf dem Fuße ein Volksaufstand in der Hauptstadt (gemeinsam mit der Polizei) und in vielen Provinzstädten des Landes die Proklamation von Revolutionsgemeinden. Was lateinamerikanische Führer wirklich vom europäischen Faschismus übernahmen, das war die Vergötterung des populistischen Führers, der als starker Mann Reputation genoß. Aber die Massen, die diese Anführer mobilisieren wollten und tatsächlich auch mobilisierten, waren nicht diejenigen, die Angst davor hatten, etwas zu verlieren, sondern diejenigen, die einfach nichts zu verlieren hatten. Und die Feinde, gegen die sie diese Massen mobilisierten, waren nicht die Ausländer und Außenseiter (obwohl die antisemitischen Elemente in der peronisrischen und auch in der weiteren argentinischen Politik unbestreitbar sind), sondern »die Oligarchie«, also die Reichen und die jeweils regional herrschende Klasse. Perón erhielt die meiste Unterstützung aus der argentinischen Arbeiterklasse, und seine wichtigste politische Maschinerie war eine Art Arbeiterpartei, die aus der von ihm favorisierten Massengewerkschaftsbewegung hervorgegangen war. Auch Getúlio Vargas erging es in Brasilien nicht viel anders: Es war die Armee, die ihn 1945 stürzte und 1954 in den Selbstmord trieb; es war die Arbeiterklasse aus den Städten, die – im Gegenzug für ihre politische Unterstützung – seinen sozialen Schutz erhalten hatte und ihn schließlich als Vater des Volkes betrauern sollte. Die faschistischen Regime Europas haben die Arbeiterbewegungen zerstört; die lateinamerikanischen Führer, inspiriert von den europäischen Faschisten, haben die Arbeiterbewegungen gegründet. Welcher Art die intellektuelle Urheberschaft in historischer Sicht auch gewesen sein mag: Es kann nicht davon die Rede sein, daß es sich hier um ein und denselben Charakter einer politischen Bewegung gehandelt hat.

      5

      Diese Bewegungen müssen zu den Verursachern des Niedergangs und des Untergangs des Liberalismus im Zeitalter der Katastrophe hinzugezählt werden. Denn obgleich der Aufstieg und Sieg des Faschismus den Rückzug der Liberalität natürlich am dramatischsten verkörperte, wäre es ein Fehler, diesen Rückzug ausschließlich mit ihm erklären zu wollen – nicht einmal, wenn es um die dreißiger Jahre geht. Am Ende dieses Kapitels müssen wir uns also fragen, was diesen Rückzug nun tatsächlich verursacht hat. Aber zuvor sollte noch eine zwar allgemein übliche, aber falsche Gleichsetzung von Faschismus und Nationalismus berichtigt werden.

      Daß faschistische Bewegungen eine starke Anziehungskraft auf nationalistische Leidenschaften und Vorurteile hatten, ist offenkundig, obwohl ja semifaschistische Gesellschaften, wie Portugal und Österreich 1934–38, die unter starkem katholischem Einfluß standen, ihren hemmungslosen Haß eher für gottlose Völker und Nationen oder für solche mit anderen Religionen reservierten. Außerdem war simpler Nationalismus schwierig für faschistische Bewegungen in Staaten, die von Deutschland oder Italien besiegt und besetzt worden waren oder deren Schicksal davon abhing, ob einer dieser beiden Staaten die eigene Regierung besiegen würde. Solche Bewegungen konnten sich höchstens dann mit den Deutschen identifizieren, wenn beide als Angehörige einer größeren teutonischen Rassengemeinschaft galten (Flandern, Niederlande, Skandinavien); doch paradoxerweise war es weit beliebter, eine internationalistische Haltung einzunehmen (die Goebbels’ Propaganda während des Krieges immer stark unterstützt hat). Deutschland wurde als Kernstaat und als einziger Garant für eine zukünftige »europäische Ordnung« betrachtet, wobei üblicherweise auf Karl den Großen und den Antikommunismus verwiesen wurde – eine Entwicklungsphase der Europa-Idee, an die sich die Historiker der Europäischen Gemeinschaft in der Nachkriegszeit nur ungern erinnern. Auch nichtdeutsche Militäreinheiten, die im Zweiten Weltkrieg meist als Teil der SS unter deutscher Flagge gekämpft haben, betonten für gewöhnlich dieses transnationale Element.

      Auf der anderen Seite muß ebenso klar sein, daß nicht jeder Nationalismus mit dem Faschismus sympathisiert hat. Und das nicht nur, weil Hitlers (und zum Teil auch Mussolinis) Ambitionen für viele Nationalisten eine Bedrohung darstellten, etwa für die Polen und die Tschechen, sondern weil die Mobilmachung gegen den Faschismus in einigen Staaten sogar auch einen linken Patriotismus hervorrufen konnte (siehe Fünftes Kapitel) – vor allem während des Krieges, als der Widerstand gegen die Achsenmächte von »Nationalen Fronten« geleistet wurde oder von Regierungen, die das ganze politische Spektrum umfaßten, Faschisten und ihre Kollaborateure aber ausschlossen.17 Ob sich der regionale Nationalismus also auf die Seite des Faschismus schlug, war davon abhängig, ob er vom Vormarsch der Achsenmächte mehr zu gewinnen oder mehr zu verlieren hatte und ob sein Haß auf Kommunisten – oder auf einen anderen Staat, eine andere nationale oder ethnische Gruppe (Serben, Juden) – heftiger war als seine Abneigung gegen Deutsche oder Italiener. So haben etwa die Polen kaum mit Nazideutschland kollaboriert, waren jedoch heftig antirussisch und antisemitisch eingestellt, wohingegen Litauer und einige Westukrainer (1939–41 von der Sowjetunion besetzt) in der Tat kollaborierten.

      Weshalb also ist der Liberalismus zwischen den Kriegen sogar in jenen Staaten zurückgewichen, die den Faschismus nicht akzeptierten? Westliche Radikale, Sozialisten und Kommunisten, die diese Zeit erlebten, neigten dazu, diese Ära der weltweiten Krise als letztes Aufbäumen des kapitalistischen Systems anzusehen. Ihrer Meinung nach konnte sich der Kapitalismus nicht länger den Luxus erlauben, mittels der parlamentarischen Demokratie und unter bürgerlichen Freiheitsrechten zu herrschen, die ja auch in der Tat den Aufstieg von gemäßigten, reformistischen Arbeiterbewegungen erst ermöglicht haben. Konfrontiert mit unlösbaren wirtschaftlichen Problemen und/oder einer zunehmend revolutionären Arbeiterklasse, mußte das Bürgertum ihrer Meinung nach nun einfach wieder zu Gewalt und Zwang zurückfallen – also zu dem, was dem Faschismus gleichkam.

      Da sowohl der Kapitalismus als auch die liberale Demokratie nach 1945 ein siegreiches Comeback hatten, vergißt man leicht, daß in dieser Sichtweise, in der so viel agitatorische Rhetorik steckte, durchaus ein Kern Wahrheit lag. Demokratische Systeme funktionieren nur dann, wenn bei der Mehrheit ihrer Bürger ein Grundkonsens über die Akzeptabilität ihres Staates und ihres Gesellschaftssystems besteht oder zumindest die Bereitschaft, für Kompromißlösungen offen zu sein. Beides wird vom Wohlstand gefördert. Zwischen 1918 und dem Zweiten Weltkrieg waren solche Bedingungen in den meisten europäischen Ländern einfach nicht gegeben. Soziale Katastrophen schienen sich bedrohlich anzukündigen oder waren bereits geschehen. Die Angst vor einer Revolution war in den meisten Gebieten von Ost- und Südosteuropa und unter den Mittelmeeranrainern

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