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der rechten und selbst der gemäßigten linken Ideologie richtete 1930–34 die österreichische Demokratie zugrunde, obwohl sie ab 1945 im selben Land und unter genau demselben Zweiparteiensystem von Katholiken und Sozialisten funktionieren sollte.18 Auch die spanische Demokratie zerbrach in den dreißiger Jahren unter diesem Druck. Der Kontrast zu dem am Verhandlungstisch zustande gekommenen Übergang von der Franco-Diktatur zu einer pluralistischen Demokratie in den siebziger Jahren ist drastisch zu nennen.

      Welche Chancen für Stabilität diese Regime auch hatten, sie konnten die Große Depression nicht überleben. Die Weimarer Republik brach vor allem deshalb zusammen, weil die stillschweigende Vereinbarung zwischen Staat, Arbeitgebern und Arbeiterorganisationen, die sie über Wasser gehalten hatte, in der Weltwirtschaftskrise unmöglich aufrechtzuerhalten war. Industrie und Regierung glaubten, daß sie keine andere Wahl hätten, als wirtschaftliche und soziale Beschneidungen vorzunehmen, und den Rest besorgte dann die Massenarbeitslosigkeit. Mitte 1932 konnten die Nationalsozialisten und Kommunisten dann die absolute Stimmenmehrheit an sich ziehen; und Parteien, die sich der Republik verpflichtet hatten, wurden auf einen Stimmenanteil von nur knapp über einem Drittel zurückgeworfen.

      Umgekehrt ist unbestreitbar, daß die Stabilität der demokratischen Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt die der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahrzehnte beruhte (siehe Neuntes Kapitel). Wo Regierungen genug zu verteilen haben, um alle, die Anspruch erheben, zufriedenstellen zu können, und wo sich der Lebensstandard der meisten Bürger ständig verbessert, da wird die Temperatur der demokratischen Politik nur selten zum Siedepunkt ansteigen. Kompromisse zu schließen und Konsens herzustellen stand meist an erster Stelle. Selbst diejenigen, die ungeduldig daran glaubten, daß der Kapitalismus stürzen würde, fanden den Status quo in der Praxis weit erträglicher als in der Theorie, und selbst die kompromißlosesten Verfechter des Kapitalismus empfanden die sozialen Sicherungssysteme und regelmäßigen Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften als etwas Selbstverständliches.

      Aber auch das Auftreten der Weltwirtschaftskrise ist nur eine Teilantwort. Obwohl die Lage in Deutschland und Großbritannien ähnlich war – Arbeiterorganisationen wehrten sich gegen die Lohnkürzungen der Depression –, konnte sie in Deutschland zum Zusammenbruch der parlamentarischen Regierung und schließlich zu Hitlers Ernennung als Regierungschef führen, während sie in Großbritannien nur zu einem scharfen Wechsel von einer Labour-Regierung zu einer (konservativen) »Nationalen Regierung« innerhalb eines stabilen und recht gefestigten parlamentarischen Systems führte.19 Die Depression mußte also nicht automatisch die Suspension oder gar völlige Abschaffung der repräsentativen Demokratie herbeiführen, wie ja auch an den Folgen der Depression in den USA (Roosevelts New Deal) oder Skandinavien (Sieg der Sozialdemokratie) abzulesen ist. Nur in Lateinamerika, wo die Staatsfinanzen zum größten Teil vom Export eines oder zweier Rohstoffe abhängig waren, führte die Wirtschaftskrise, als die Preise für Rohstoffe plötzlich und dramatisch verfallen waren (siehe Drittes Kapitel), fast augenblicklich, automatisch und beinahe immer durch einen Militärputsch zum Sturz von Regierungen. Es sollte aber angemerkt werden, daß es auch hier Umstürze in die Gegenrichtung gab, nämlich in Chile und in Kolumbien.20

      Im Grunde war jede liberale Politik verwundbar, denn ihre charakteristische Regierungsform – die repräsentative Demokratie – war kaum die überzeugendste Art und Weise, einen Staat zu lenken; und die Umstände im Zeitalter der Katastrophe konnten kaum jene Bedingungen garantieren, die eine solche Demokratie lebensfähig erhalten und effizient machen konnten.

      Die erste dieser Bedingungen hieß, daß sich liberale Politik des allgemeinen Konsens und der Legitimation erfreuen sollte. Demokratie an sich beruht zwar auf diesem Konsens, schafft ihn aber nicht selbst herbei, abgesehen davon, daß in wohletablierten und stabilen Demokratien regelmäßige Wahlen den Bürgern (selbst den Minoritäten unter ihnen) die Vorstellung vermitteln, daß dieser Wahlprozeß jene Regierung legitimiert, die aus ihm hervorgeht. Doch nur wenige Demokratien der Zwischenkriegszeit waren wohletabliert. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Demokratien außerhalb der USA und Frankreichs sogar höchst selten gewesen (siehe Das imperiale Zeitalter, Kapitel 4). Und in der Tat waren zumindest zehn europäische Staaten nach dem Ersten Weltkrieg entweder vollkommen neu, oder sie unterschieden sich so stark von ihren Vorgängern, daß ihre Bewohner keine spezifische Legitimation mehr erkennen konnten. Und noch weniger Demokratien waren außerdem auch noch stabil. Die Politik der Staaten war im Zeitalter der Katastrophe so gut wie ausschließlich Krisenpolitik.

      Die zweite Bedingung hieß, daß ein gewisses Maß an Kompatibilität zwischen den verschiedenen Komponenten »des Volkes« bestehen mußte, dessen souveräne Stimme die gemeinsame Regierung bestimmen sollte. Die offizielle Theorie der liberalen bürgerlichen Gesellschaft hat »das Volk« jedoch nicht als eine aus Gruppen, Gemeinschaften und anderen Kollektiven bestehende Entität mit jeweils eigenen Interessen anerkannt (wenngleich Anthropologen, Soziologen und praktizierende Politiker es durchaus so sahen). Offiziell wurde das Volk – eher ein theoretisches Konzept denn ein realer Gesellschaftskörper aus lebendigen Menschen – als eine Ansammlung von unabhängigen Individuen betrachtet, deren Wählerstimmen sich zu arithmetischen Mehrheiten und Minderheiten zusammenfügten und in der Folge zu einer gewählten Mehrheitsregierung und Minderheitenopposition führten. Wo das demokratische Wahlsystem die Grenzen innerhalb der nationalen Bevölkerung durchlässig machte oder wo es möglich war, Konflikte innerhalb der Bevölkerung zu schlichten oder zu entschärfen, da war Demokratie lebensfähig. Doch in einem Zeitalter der Revolution und radikaler sozialer Spannungen hat sich eher Klassenkampf in Politik umgesetzt, als daß Klassenfrieden zur Regel geworden wäre. Und ideologische oder klassenspezifische Unversöhnlichkeiten konnten eine demokratische Regierung ruinieren. Mehr noch: Die stümperhaften Friedensvereinbarungen nach 1918 verstärkten nur noch das, was wir am Ende des 20. Jahrhunderts als tödlichen Virus für eine Demokratie kennenlernen sollten: die Spaltung von Bevölkerungen entlang ethnisch-nationaler oder religiöser Grenzen (Glenny, 1992, S. 146–48), wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Nordirland. In Bosnien bildeten in den neunziger Jahren drei ethnisch-religiöse Gemeinschaften drei unterschiedliche Blöcke; in Ulster zwei unversöhnliche Gemeinschaften; und in Somalia gab es zweiundsechzig politische Parteien, wobei jede von ihnen einen anderen Klan oder Stamm repräsentierte – so kann die Grundlage für ein demokratisches politisches System nicht aussehen. Derartige Spaltungen können nur Instabilität und Krieg hervorrufen, es sei denn, eine der beteiligten Gruppen, oder eine Autorität von außen, ist stark genug, um eine (undemokratische) Dominanz herzustellen. Mit dem Sturz der drei multinationalen Reiche, Österreich-Ungarns, Rußlands und des Osmanischen Reiches, waren auch drei supranationale Staaten abgelöst worden, deren Regierungen zwischen den unzähligen Nationalitäten in ihrem Herrschaftsbereich Neutralität bewahrt hatten; ersetzt wurden sie durch eine viel größere Anzahl von Staaten, die fast genauso multinational waren, doch in jedem Fall nur einer, höchstens zwei oder drei der ethnischen Gruppen des Landes »gehörten«.

      Die dritte Bedingung hieß, daß demokratische Regierungen nicht viel zu regieren hatten. Parlamente waren nicht in erster Linie zum Regieren, sondern zur Machtkontrolle über Herrscher geschaffen worden. Diese Funktion kommt noch immer deutlich in den Beziehungen zwischen dem Kongreß und dem Präsidenten der USA zum Ausdruck. Parlamente waren eine Erfindung, die als Bremse gedacht war, aber als Motor fungieren mußte. Souveräne Nationalversammlungen, die mit begrenztem, aber ständig erweitertem Stimmrecht gewählt wurden, waren natürlich seit dem Zeitalter der Revolution allgemein üblicher geworden. Nur, die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war davon ausgegangen, daß das Leben der Mehrheit ihrer Bürger nicht in staatlich kontrollierten Sphären stattfinden würde, sondern in einer sich selbst regelnden Wirtschaft und einer Welt der privaten und nichtstaatlichen Gruppierungen (»Zivilgesellschaft«).21 Und sie wich den Schwierigkeiten des Regierens durch gewählte Versammlungen auf zweifache Weise aus. Sie erwartete von ihren Parlamenten nicht allzuviel Regierungstätigkeit oder gar Gesetzgebung, und sie traf Maßnahmen, welche die Kontinuität der Regierung oder, besser gesagt, der Verwaltung trotz der Launen der parlamentarischen Politik gewährleistete. Eine unabhängige und auf unbegrenzte

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