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von den unvorstellbar mächtigen Erdbeben der modernen Welt erschüttert wurden. Hier fanden Geschichten von Juden, die kleine Kinder schlachteten und opferten, noch immer ihre Zuhörer und konnten in Augenblicken der sozialen Explosion zu Pogromen führen. Solche Pogrome wurden von den Reaktionären des Zarenreichs noch zusätzlich gefördert, vor allem nach der Ermordung Zar Alexanders II. durch Sozialrevolutionäre im Jahr 1881. Hier führt ein direkter Weg von einem ursprünglich bodenständigen Antisemitismus zur Ausrottung des Judentums während des Zweiten Weltkrieges. Gewiß gab dieser volkstümliche Antisemitismus den osteuropäischen faschistischen Bewegungen in ihrer Aufbauphase die notwendige Massenunterstützung, vor allem der rumänischen Eisernen Garde und den ungarischen Pfeilkreuzlern – jedenfalls war dieser Zusammenhang in den ehemaligen Gebieten der Habsburger und Romanows sehr viel deutlicher als im Deutschen Reich, wo der bodenständige, ländliche und provinzielle Antisemitismus zwar weit verbreitet und tief verwurzelt, aber auch weniger gewalttätig war, ja man könnte beinahe sagen: toleranter.10 Juden, die 1938 aus dem gerade besetzten Wien nach Berlin kamen, waren erstaunt über die Tatsache, daß auf der offenen Straße kaum Antisemitismus zu finden war. Hier kam die Gewalt erst durch Dekret von oben, im November 1938 (Kershaw, 1983). Und doch ist ein Vergleich der beiläufigen und unregelmäßig sich ereignenden Brutalität dieser Pogrome mit dem, was eine Generation später geschehen sollte, einfach nicht möglich. Die Handvoll Tote von 1881 oder die vierzig bis fünfzig Opfer des Kischinjower Pogroms von 1903 haben die Welt mit Recht empört, denn vor dem Siegeszug der Barbarei schien selbst diese Zahl von Opfern unerträglich für eine Welt, die den Vormarsch der Zivilisation erwartete. Sogar die viel größeren Pogrome, die den Massenaufstand der Bauern während der Russischen Revolution 1905 begleiteten, forderten an späteren Standards gemessen nur wenige Opfer: insgesamt vielleicht achthundert. Man vergleiche sie mit den 3800 Juden, die 1941 von den Litauern in Vilnius (Wilna) während nur dreier Tage umgebracht wurden, während die Deutschen in die Sowjetunion einfielen und noch bevor die systematische Ausrottung überhaupt begonnen hatte.

      Die neuen Bewegungen der radikalen Rechten, die sich zwar auf ältere Traditionen der Intoleranz beriefen, diese jedoch völlig umgewandelt haben, wirkten vor allem auf die unteren und mittleren Schichten der europäischen Gesellschaften attraktiv. Ihre Politik wurde rhetorisch und theoretisch von nationalistischen Intellektuellen formuliert, die erstmals in den 1890er Jahren in Erscheinung getreten waren. Sogar der Begriff »Nationalismus« war erst in diesem Jahrzehnt geprägt worden, um diese neuen Sprecher der Reaktion zu definieren. Die militante Mittel- bzw. untere Mittelschicht wandte sich vor allem in jenen Ländern der radikalen Rechten zu, in denen die Ideologien von Demokratie und Liberalismus nicht vorherrschten; und dieser Trend fand sich vor allem innerhalb solcher Gruppen, die sich mit diesen Ideologien nicht identifizierten, also hauptsächlich in Ländern, die von der Französischen Revolution oder einem Äquivalent nicht beeinflußt worden waren. Denn tatsächlich konnte die generelle Hegemonie von revolutionären Traditionen in den Kernländern des westlichen Liberalismus – Großbritannien, Frankreich, USA – die Entwicklung einer faschistischen Massenbewegung von Belang verhindern. Es wäre ein Fehler, den Rassismus der amerikanischen Populisten oder den Chauvinismus der französischen Republikaner mit dem prototypischen Faschismus zu verwechseln – denn diese Bewegungen entstammten der Linken.

      Das hieß nun nicht, daß dort, wo die Hegemonie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kein Hindernis mehr war, alte Instinkte nicht mit neuen politischen Slogans verbrämt auftauchen konnten. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, daß sich die Hakenkreuzaktivisten in den österreichischen Alpen zum großen Teil aus jenen provinziellen Berufsständen rekrutierten, die einst die regionalen Liberalen gebildet hatten – Tierärzte, Landvermesser, usw. –, also eine gebildete und emanzipierte Minderheit in einem Umfeld, das vom bäuerlichen Klerikalismus geprägt war. Dem vergleichbar ist, daß nach der Auflösung der klassischen proletarischen Arbeiterorganisationen und sozialistischen Bewegungen im späten 20. Jahrhundert dem instinktiven Chauvinismus und Rassismus vieler Arbeiter freies Spiel gegeben wurde. Bis dahin hatten sie einfach deshalb gezögert, ihre Ressentiments – gegen die sie ganz und gar nicht immun gewesen waren – öffentlich zu artikulieren, weil sie sich noch loyal gegenüber ihren Parteien verhielten, denen diese Bigotterie zutiefst zuwider war. Seit den sechziger Jahren sind Xenophobie und politischer Rassismus vor allem in der Arbeiterschicht verbreitet. Doch in den Jahrzehnten, in denen der Faschismus ausgebrütet wurde, waren solche Tendenzen hauptsächlich unter jenen zu finden, die sich bei der Arbeit nicht die Hände schmutzig machen mußten.

      Die Mittelschicht und das Kleinbürgertum bildeten während der ganzen Phase des faschistischen Aufstiegs das Rückgrat seiner Bewegungen. Das wird sogar von jenen Historikern nicht bestritten, die ansonsten bemüht sind, den Konsens »jeder Analyse über die Nazigefolgschaft, die zwischen 1930 und 1980 gemacht wurde«11 zu revidieren. Um nur einen Fall unter den vielen Untersuchungen über die Gefolgschaft und Unterstützung von solchen Bewegungen herauszugreifen: Österreich in den Zwischenkriegsjahren. Unter den Nationalsozialisten, die bei den Gemeinderatswahlen 1932 in Wien gewählt wurden, waren 18 Prozent Selbständige, 56 Prozent Angestellte, Büroarbeiter und öffentlich Bedienstete und 14 Prozent Arbeiter. Unter den Nazis, die im selben Jahr in die österreichischen Landtage gewählt wurden, waren 16 Prozent Selbständige und Bauern, 51 Prozent Angestellte und vergleichbare Berufe und 10 Prozent Arbeiter.

      Das heißt jedoch nicht, daß faschistische Bewegungen keine genuine Unterstützung bei der armen arbeitenden Bevölkerung gefunden hätten. Wie die Zusammensetzung der Kader in der rumänischen Eisernen Garde auch gewesen sein mag, diese wurde jedenfalls auch von der armen Landbevölkerung unterstützt. Die Wähler der ungarischen Pfeilkreuzler stammten weitgehend aus der Arbeiterklasse (die Kommunistische Partei war illegal, und die Sozialdemokraten, immer schon eine kleine Partei, zahlten den Preis für ihre Tolerierung durch das Horthy-Regime). Nach der Niederlage der österreichischen Sozialdemokratie im Jahr 1934 wechselten Arbeiter, vor allem in der Provinz, in großer Zahl zu den Nationalsozialisten über. Im übrigen haben sich weit mehr sozialistische und kommunistische Arbeiter den Faschisten angeschlossen – als diese erst einmal zur legitimen Regierung geworden waren, wie in Italien und Deutschland –, als die Linke wahrhaben möchte. Dennoch setzte sich die eigentliche Wählerschaft der faschistischen Bewegungen aus der Mittelschicht zusammen12 – denn die traditionsbewußten Elemente der Landbevölkerung anzusprechen, hatten die Faschisten doch einige Mühe (es sei denn, sie erhielten Rückendeckung von bestimmten Organisationen, wie im Falle Kroatiens von der römisch-katholischen Kirche); hinzu kam, daß die Ideologien und Parteien der Arbeiterorganisationen dem Faschismus grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden.

      Wie weit die Attraktivität des Faschismus ursprünglich in die Mittelschicht hineinwirkte, ist eine offene Frage. Sicher hatte er große Anziehungskraft auf die Mittelschichtsjugend. In den Jahren zwischen den Kriegen tendierten nämlich vor allem die Studenten des kontinentalen Europa notorisch zur Ultrarechten. 1921 (also noch vor dem »Marsch auf Rom«) machten Studenten 13 Prozent der Mitglieder der italienischen faschistischen Bewegung aus. In Deutschland waren bereits 1930 zwischen fünf und zehn Prozent aller Studenten Parteimitglieder, also zu einer Zeit, als die überwältigende Mehrheit der zukünftigen Nazis noch gar keine Notiz von Hitler genommen hatte.13 Aber auch ehemalige Offiziere aus der Mittelschicht waren stark vertreten – vor allem jener Typus, der den Großen Krieg mit all seinen Greueln als Gipfel seiner persönlichen Ruhmestaten erlebt hatte, von dem aus er nur noch das enttäuschende Flachland eines künftigen Lebens als Zivilist erblickte. Auf diese Segmente der Mittelschicht hat der faschistische Aktivismus natürlich besonders anziehend gewirkt. Und die radikale Rechte hat wohl ganz allgemein um so stärkere Anziehungskraft auf diese Offiziere ausgeübt, je geringer das Ansehen war, das von einem konventionellen Mittelklasseberuf erwartet wurde, und je bedrohlicher der gesellschaftliche Rahmen bröckelte, von dem man meinte, er halte ihr soziales Gefüge zusammen. In Deutschland bewirkte der doppelte Zusammenbruch – die große Inflation, die den Geldwert auf Null absenkte, und die Weltwirtschaftskrise – noch zusätzlich, daß sich sogar solche Gruppen der Mittelschicht radikalisierten, deren Arbeitsplätze durchaus sicher zu sein schienen, also beispielsweise mittlere und höhere Beamten. Unter weniger traumatischen Bedingungen hätten sie wohl auch weiterhin zufrieden als konservative Patrioten alten Stils gelebt und Kaiser Wilhelm II. nachgetrauert, aber dennoch willig ihre Pflicht gegenüber einer Republik erfüllt, deren Oberhaupt der Generalfeldmarschall

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