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der Gewalt auf der Straße.

      Der wesentliche Unterschied zwischen der faschistischen und der nichtfaschistischen Rechten war, daß Faschismus existierte, weil er die Massen von unten mobilisierte. Er gehörte im wesentlichen der Ära demokratisch geprägter Politik an, deren Existenz von nationalkonservativen Reaktionären beklagt und von den Verfechtern des »konstitutionell-dirigistischen Staates« zu umgehen versucht wurde. Der Faschismus triumphierte, wenn es um die Mobilisierung der Massen ging. Sogar wo ihm die Machtübernahme bereits gelungen war, betonte er noch immer symbolisch seine Fähigkeit zur Massenmobilisierung, wie in einer Art öffentlichem Theater (und genauso wie die kommunistischen Bewegungen): Man denke an die Aufmärsche in Nürnberg und an den Jubel der Massen auf der Piazza Venezia für Mussolinis theatralische Gesten von seinem Balkon herab. Faschisten waren die Revolutionäre der Konterrevolution: in ihrer Rhetorik; mit ihrer Anziehungskraft auf jene, die sich als Opfer der Gesellschaft empfanden; bei ihrem Ruf nach totaler Transformation der Gesellschaft. Sie übernahmen sogar ganz bewußt Symbole und Begriffe der Sozialrevolutionäre: Hitlers Nationalsozialistische Arbeiterpartei, die (modifizierte) rote Fahne und den »roten« Tag der Arbeit, der am 1. Mai 1933 sofort als Staatsfeiertag übernommen wurde.

      Der Faschismus hatte sich zwar auf eine Rhetorik spezialisiert, die die Rückkehr zu den Traditionen der Vergangenheit forderte, und bekam dabei viel Unterstützung aus den Reihen jener, die das vergangene Jahrhundert am liebsten ausgelöscht hätten. Aber er war nicht im wirklichen Sinn des Wortes eine traditionalistische Bewegung – wie etwa die Karlisten von Navarra, die zu den wichtigsten Sympathisantengruppen Francos im Bürgerkrieg gehörten, oder wie Gandhis Bewegung für die Rückkehr zu den Idealen der Handweber und des dörflichen Lebens. Er hat auch viele traditionelle Werte betont, aber das ist eine andere Sache. Die Faschisten brandmarkten die liberale Emanzipation – Frauen sollten im Haus bleiben und recht viele Kinder bekommen – und mißtrauten dem zersetzenden Einfluß der modernen Kultur und vor allem der modernen Künste, die die Nationalsozialisten »kulturbolschewistisch« und »entartet« nannten. Die zentralen faschistischen Bewegungen – die italienische und die deutsche – beriefen sich aber nicht auf die historischen Wächter der konservativen Ordnung, wie König und Kirche, sondern versuchten, im Gegenteil, diese durch ein der Tradition ganz und gar entgegenstehendes »Führerprinzip« zu verdrängen, verkörpert durch Emporkömmlinge, die ihre Legitimation aus der Unterstützung durch die Massen und aus säkularen Ideologien und Kulten bezogen.

      Die Vergangenheit, auf die sie sich beriefen, war ein Kunstprodukt. Ihre Traditionen waren Erfindungen. Hitlers Rassismus hatte nichts mit dem gewissen Stolz auf eine ununterbrochene und unvermischte Abstammungslinie zu tun, wie ihn etwa Amerikaner empfinden mögen, wenn sie mit genealogischen Nachforschungen zu beweisen hoffen, daß sie von einer Bauernsippe aus dem Suffolk des 16. Jahrhunderts abstammen. Dieser Rassismus war vielmehr ein Konglomerat aus den spätdarwinistischen Behauptungen des 19. Jahrhunderts und der Vorliebe für eine neue Genetik (für die man in Deutschland leider sehr empfänglich war), oder genauer gesagt: für jenen Zweig der angewandten Vererbungslehre (»Eugenetik«), bei dem man davon träumte, durch Selektion des »wertvollen« und Elimination des »unwerten« Lebens eine neue menschliche Superrasse zu züchten. Für die Rasse, die von Hitler dazu ausersehen wurde, die Welt zu regieren, hatte es noch nicht einmal einen Namen gegeben, bis ein Anthropologe 1898 den Begriff »nordisch« prägen sollte. Da der Faschismus das Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution prinzipiell ablehnte, lehnte er auch die Ideologie der Modernität und des Fortschritts ab. Allerdings hatte er keinerlei Schwierigkeiten, ein wahnwitziges Sortiment von Glaubenssätzen in praktischen Fragen mit technologischer Modernität zu verknüpfen – es sei denn, ideologische Gründe standen seiner wissenschaftlichen Forschung im Wege (siehe Achtzehntes Kapitel). Faschismus, das war der Triumph des Antiliberalismus. Und er lieferte den Beweis, daß der Mensch ohne die geringsten Schwierigkeiten völlig irrsinige Glaubenssätze über alles und jedes in der Welt mit meisterhafter Beherrschung der Hochtechnologie seiner Zeit verbinden kann. Das späte 20. Jahrhundert, mit seinen fundamentalistischen Sekten, die mit den Waffen des Fernsehens und computergesteuerter Wohltätigkeitsveranstaltungen kämpfen, haben uns mit diesem Phänomen noch vertrauter gemacht.

      Dennoch: Diese Kombination aus konservativen Werten, Techniken der Massendemokratie und der innovativen Ideologie einer irrationalen Barbarei im Zentrum des Nationalismus bedarf der Erklärung. Im späten 19. Jahrhundert waren nichttraditionelle Bewegungen der radikalen Rechten in mehreren europäischen Staaten aufgetaucht: als Reaktion gegen den Liberalismus (also die immer schnellere Transformation von Gesellschaften durch den Kapitalismus), gegen die aufstrebenden sozialistischen Bewegungen der Arbeiterklasse und auch gegen die Flut von Ausländern, die während der bis heute größten Massenmigration der Geschichte die ganze Welt überschwemmte. Männer und Frauen wanderten nicht nur über Ozeane und internationale Grenzen hinweg, sondern auch vom Land in die Stadt, aus der einen Region eines Staates in die andere, kurzum: von »zu Hause« ins Land der Fremden, wo sie schließlich zu Fremden im »Heim« der anderen wurden. Fast fünfzehn von hundert Polen verließen ihr Land für immer – dazu noch eine halbe Million im Jahr als Saisonarbeiter – und wurden wie die meisten Auswanderer in überwältigendem Maße zu Mitgliedern der Arbeiterklasse ihrer Gastländer. In Vorwegnahme des späten 20. Jahrhunderts erlebte das späte 19. Jahrhundert erstmalig Massenxenophobie, deren stärkster Ausdruck der Rassismus wurde: der Schutz der »reinrassigen« einheimischen Bevölkerung gegen die Vergiftung und Überflutung durch eine Invasion von Horden aus Untermenschen. Die Heftigkeit dieser Xenophobie läßt sich nicht nur an der Angst vor der polnischen Immigration erkennen, die sogar den großen liberalen deutschen Soziologen Max Weber dazu bringen konnte, eine Zeitlang die »Alldeutschen«9 zu unterstützen, sondern auch an der fieberhaften Kampagne, die in den USA gegen die Massenimmigration in Gang gesetzt wurde und die das Land der Freiheitsstatue nach dem Enten Weltkrieg schließlich dazu führte, seine Grenzen vor jenen zu verschließen, zu deren Willkommen die Statue einmal errichtet worden war.

      Der Kitt dieser Bewegungen waren die Ressentiments des »kleinen Mannes« in einer Gesellschaft, in der er sich zwischen den Mühlsteinen des Großunternehmertums und der aufstrebenden Arbeiterbewegungen zermalmt fühlte; eine Gesellschaft, die ihn seiner geachteten Position beraubte, welche ihm seiner Meinung nach zustand, und die ihn in ihrer Dynamik daran hinderte, nach dem sozialen Status zu streben, auf den er einen Anspruch zu haben glaubte. Solche Gefühle fanden ihren charakteristischen Ausdruck im Antisemitismus, der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in mehreren Ländern von Feindseligkeit gegen die Juden getriebene politische Bewegungen hervorgebracht hatte. Juden gab es beinahe überall, und so konnten sie auch prompt als Symbol für alles hergenommen werden, was an der ungerechten Welt so verhaßt war. Dazu gehörten nicht zuletzt die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution, die die Juden emanzipiert und daher auch so viel sichtbarer gemacht hatten. Juden konnten als Symbol für den verhaßten Kapitalisten/Bankier dienen; für den revolutionären Agitator; für den zersetzenden Einfluß von »wurzellosen Intellektuellen« und den neuen Massenmedien; für Konkurrenz, die ja nur »unlauter« sein konnte und die den Juden zu einem unverhältnismäßig großen Anteil an Berufen verholfen hatte, die Erziehung und Ausbildung erforderten; und schließlich für den Ausländer und Außenseiter an sich – gar nicht zu reden von der vorherrschenden Überzeugung unter konservativen Christen, daß die Juden Jesus Christus ermordet hätten.

      In der Tat herrschte überall in der westlichen Welt diese Abneigung gegen Juden; und ihre Lage war daher auch im 19. Jahrhundert problematisch gewesen. Doch die Tatsache, daß streikende Arbeiter sogar dann dazu tendierten, jüdische Läden anzugreifen, auch wenn sie Mitglieder nichtrassistischer Arbeiterbewegungen waren, oder daß sie ihre Arbeitgeber als Juden identifizierten (was in großen Teilen Mittel- und Osteuropas ja auch oft stimmte), sollte uns nicht dazu verleiten, diese Arbeiter als prototypische Nationalsozialisten anzusehen (genausowenig wie der selbstverständliche Antisemitismus der liberalen britischen Intellektuellen, beispielsweise der Bloomsbury Group, in der Zeit König Eduards diese automatisch zu Sympathisanten des politischen Antisemitismus der radikalen Rechten machte). Der bäuerliche Antisemitismus in Mittelosteuropa, wo Juden aus praktischen Gründen zum Schnittpunkt des Broterwerbs der Dorfbewohner und der auswärtigen Wirtschaft, von der dieser Erwerb

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