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wieder in die europäische Wirtschaft zu integrieren, beziehungsweise ohne sein wirtschaftliches Gewicht innerhalb der europäischen Wirtschaft zu erkennen und zu akzeptieren, konnte es keine Stabilität geben. Doch dies war das letzte, woran jene denken wollten, die darum gekämpft hatten, Deutschland auszuschalten.

      Der Friedensvertrag, der von den Siegermächten (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien) oktroyiert wurde und für gewöhnlich, aber etwas ungenau, Vertrag von Versailles genannt wird4, war von fünf Überlegungen geleitet. Die drängendste davon betraf den Zusammenbruch so vieler Regime in Europa und das Auftauchen eines alternativen, bolschewistischen Revolutionsregimes in Rußland, das sich der weltweiten Subversion verschrieben hatte und zum Magneten für die revolutionären Kräfte allerorten geworden war (siehe Zweites Kapitel). Zweitens ging es darum, Deutschland, das immerhin beinahe die gesamte alliierte Koalition im Alleingang besiegt hätte, kontrollieren zu können. Aus naheliegenden Gründen war dies und blieb dies seither die Hauptsorge Frankreichs. Drittens mußte die Landkarte Europas neu aufgeteilt und gezeichnet werden, nicht nur um Deutschland zu schwächen, sondern auch, um die riesigen leeren Flächen neu zu füllen, die durch den gleichzeitigen Sieg über und den Zusammenbruch des Russischen, Habsburgischen und Osmanischen Reichs in Europa und im Nahen Osten entstanden waren. Die eifrigsten Anwärter auf die Nachfolge waren die verschiedenen nationalistischen Bewegungen in Europa, die von den Siegermächten mehr oder weniger noch dazu ermuntert wurden, weil sie antibolschewistisch eingestellt waren. In der Tat wurde es dann auch zum Grundprinzip für die Neuordnung der europäischen Landkarte, ethnisch-linguistisch begründete Nationalstaaten zu schaffen, entsprechend der Überzeugung, daß Nationen ein »Recht auf Selbstbestimmung« hätten. Der amerikanische Präsident Wilson, der als das Sprachrohr derjenigen Macht galt, ohne die der Krieg verloren wäre, vertrat diese Überzeugung mit leidenschaftlicher Vehemenz, was schon immer jenen leichter fiel (und fällt), die weit entfernt von den ethnischen und linguistischen Realitäten der Regionen lebten, die gerade in säuberliche Nationalstaaten aufgeteilt werden sollten. Der Versuch geriet zum Desaster, wie selbst das Europa der neunziger Jahre noch beweist. Die Nationalitätenkonflikte, die den Kontinent der neunziger Jahre spalteten, waren die alten Gespenster von Versailles, die wieder einmal ihr Unwesen trieben.5 Die Neuaufteilung des Nahen Ostens verlief entlang konventioneller imperialistischer Linien – also Aufteilung zwischen Großbritannien und Frankreich (mit Ausnahme von Palästina, wo die britische Regierung, die sich im Krieg eifrig um internationale Unterstützung für die Juden bemüht hatte, unvorsichtiger- und problematischerweise versprochen hatte, den Juden eine »nationale Heimstätte« zu geben – auch dies ein problembeladenes und unvergeßliches Relikt aus dem Ersten Weltkrieg).

      Die vierte Überlegung galt den Innenpolitiken der Siegermächte – die faktisch nur aus Großbritannien, Frankreich und den USA bestanden – und den Reibereien unter ihnen. Wichtigstes Resultat dieses internen Ränkespiels war, daß sich der US-Kongreß weigerte, den Friedensvertrag, der zu großen Teilen vom und für den amerikanischen Präsidenten geschrieben worden war, zu ratifizieren und somit die USA zwang, wieder davon Abstand zu nehmen (was weitreichende Konsequenzen haben sollte).

      Schließlich versuchten die Siegermächte verzweifelt, eine Art Friedensvertrag zu formulieren, der einen neuen Krieg wie jenen, der die Welt gerade erst verwüstet hatte und von dessen Nachwirkungen alle betroffen waren, unmöglich machen sollte. Nur zwanzig Jahre später befand sich die Welt wieder im Krieg.

      Die Versuche, die Welt gegen den Bolschewismus zu sichern, überschnitten sich mit dem Versuch, die europäische Landkarte neu zu zeichnen. Denn die unmittelbarste Möglichkeit, dem Revolutionsrußland Paroli zu bieten (so es denn überhaupt überleben sollte, was 1919 absolut noch nicht klar war), hieß, es hinter einem Quarantänegürtel aus antikommunistischen Staaten zu isolieren (einem cordon sanitaire in der Sprache der damaligen Diplomatie). Da die Gebiete dieser Staaten zu großen Teilen oder auch vollständig aus ehemals russischem Territorium herausgemeißelt worden waren, wäre ihre feindselige Haltung Moskau gegenüber garantiert gewesen. Von Nord nach Süd gesehen ging es hierbei um Finnland, eine autonome Region, die von Lenin die Erlaubnis erhalten hatte, sich auszugliedern; um die drei kleinen, neuen baltischen Republiken (Estland, Lettland, Litauen), die historisch ohne Vorläufer waren; um Polen, das nach 120 Jahren wieder seine Souveränität erhielt; und um ein enorm vergrößertes Rumänien, dessen Umfang sich durch den Beitritt von ungarischen und österreichischen Gebieten aus dem ehemaligen Habsburgischen Reich und dem ehemals russischen Bessarabien verdoppelt hatte. Die meisten dieser Gebiete waren Rußland von Deutschland abgenommen und wären ihm sehr wahrscheinlich auch wieder zurückgegeben worden, wäre da nicht die bolschewistische Revolution gewesen. Der Versuch, den Quarantänegürtel bis in den Kaukasus auszudehnen, schlug fehl, vor allem, weil sich das Revolutionsrußland mit der nichtkommunistischen, aber ebenfalls revolutionären Türkei – die keinerlei Zuneigung für die britischen und französischen Imperialisten hegte – einig wurde. Folglich konnten auch die kurzfristig unabhängigen Staaten Armenien und Georgien (die nach Brest-Litowsk und den Versuchen Großbritanniens gegründet worden waren, Aserbeidschan mit seinen reichen Ölvorkommen auszugliedern) den Sieg der Bolschewiken im Bürgerkrieg von 1918–20 und den sowjetisch-türkischen Vertrag von 1921 nicht überleben. Mit einem Wort: Im Osten akzeptierten die Alliierten die Grenzen, die Deutschland dem Revolutionsrußland oktroyiert hatte, insofern diese nicht durch Kräfte jenseits ihrer Kontrolle außer Kraft gesetzt worden waren.

      Große Teile vor allem des ehemals österreichisch-ungarischen Europa mußten nun noch neu verteilt werden. Österreich und Ungarn wurden zu deutschen und magyarischen Rumpfstaaten reduziert, Serbien wurde gemeinsam mit (dem ehemals österreichischen) Slowenien und (dem ehemals ungarischen) Kroatien einem neuerschaffenen Jugoslawien einverleibt. Zu ihm gehörte auch das ehemals unabhängige, kleine Stammeskönigreich Montenegro, eine kahle, von Hirten und Banditen bevölkerte Berglandschaft, deren spontane Reaktion auf den erstmaligen Verlust ihrer Unabhängigkeit war, daß sie in Massen zum Kommunismus konvertierten (von dem sie annahmen, daß er ihren heroischen Geist willkommen heißen würde). Dieser Teil Jugoslawiens war überdies mit dem orthodoxen Rußland verbunden, dessen Glauben die unbesiegten Männer von den Schwarzen Bergen so viele Jahrhunderte lang gegen die ungläubigen Türken verteidigt hatten. Auch eine neue Tschechoslowakei wurde gebildet, indem das industrielle Herz des ehemaligen Habsburgischen Reichs, Böhmen und Mähren, mit den Gebieten der slowakischen und karpato-ukrainischen Landbevölkerungen, die einst zu Ungarn gehört hatten, verbunden wurde. Rumänien wurde zu einem multinationalen Konglomerat erweitert, aber auch Polen und Italien zogen Nutzen aus dieser Neuordnung. Für die Neuordnungen in Jugoslawien und der Tschechoslowakei hatte es absolut keine historischen Vorläufer und auch keine logische Begründung gegeben. Es waren Konstruktionen einer nationalistischen Ideologie, die an die Macht gemeinsamer Ethnizität glaubte und extrem kleine Nationalstaaten für nicht wünschenswert hielt.6 Alle Südslawen (= Jugoslawen) gehörten nun zu einem Staat, wie auch alle Westslawen der tschechischen und slowakischen Länder. Wie zu erwarten, erwiesen sich diese politischen Zwangsehen als nicht sehr haltbar. Und abgesehen von den Rumpfstaaten Österreich und Ungarn, die der meisten, aber nicht all ihrer Minoritäten verlustig gegangen waren, waren die neuen Nachfolgestaaten nicht weniger multinational als ihre Vorgänger, ob sie nun aus Rußland oder dem Habsburgischen Reich ausgegliedert worden waren.

      Deutschland wurde ein Friede diktiert, der mit dem Argument gerechtfertigt wurde, daß dieser Staat die Alleinverantwortung für den Krieg und all seine Folgen trage (»Kriegsschuld«-Klausel), was die andauernde Schwächung Deutschlands legitimieren sollte. Das wurde aber im wesentlichen nicht durch territoriale Abstriche erreicht, obwohl Elsaß-Lothringen an Frankreich zurückfiel, eine große Region im Osten an das wiedererschaffene Polen (der »polnische Korridor«, der Ostpreußen vom Rest Deutschlands trennte) und einige kleinere Veränderungen entlang der deutschen Grenze vorgenommen wurden. Eher wurde es dadurch erreicht, daß man Deutschland einer einsatzfähigen Marine und jeglicher Luftwaffe beraubte, die Streitkräfte auf 100 000 Mann beschränkte, ihm theoretisch unbegrenzte »Reparationszahlungen« für die Kriegskosten der Siegermächte auferlegte, Teile des westlichen Deutschland besetzte und ihm nicht zuletzt auch seine gesamten ehemaligen Kolonien in Übersee nahm. (Sie wurden dann unter den Briten und ihrem Commonwealth, unter den Franzosen und in geringerem Maß auch unter den Japanern aufgeteilt.

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