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von Männern lagen sich hinter Sandsäcken verbarrikadiert in Schützengräben gegenüber, in denen sie wie Ratten und zusammen mit Ratten und Läusen hausen mußten. Von Zeit zu Zeit versuchten ihre Generäle aus diesen Gräben auszubrechen. Tage, ja sogar Wochen unaufhörlichen Artilleriefeuers – das ein deutscher Schriftsteller später »Stahlgewitter« nannte (Ernst Jünger, 1921) – sollten den Feind »zermürben« und unter die Erde treiben. Im geeigneten Augenblick kletterten dann Wellen von Soldaten aus den Schützengräben, die üblicherweise unter Stacheldraht und Netzen verborgen waren, ins Niemandsland hinaus, in ein Chaos aus verschlammten Granattrichtern, zersplitterten Baumstümpfen, Morast und liegengelassenen Leichen, um schließlich in das gegnerische Maschinengewehrfeuer zu laufen und niedergemäht zu werden. Sie wußten, daß es so geschehen würde. Der deutsche Versuch, in Verdun durchzubrechen (Februar–Juli 1916), führte zu einer Schlacht mit zwei Millionen Soldaten und einer Million Gefallenen. Der Versuch schlug fehl. Die britische Offensive an der Somme, mit der die Deutschen gezwungen werden sollten, die Verdun-Offensive abzubrechen, kostete die Briten 420 000 Tote – 60 000 allein am ersten Tag des Angriffs. Es kann daher auch kaum verwundern, daß dieser Krieg den Briten und Franzosen, die die längste Zeit an der Westfront gekämpft hatten, als der »Große Krieg« in Erinnerung geblieben ist, mit noch schrecklicheren und traumatischeren Bildern vor Augen, als sie der Zweite Weltkrieg hinterlassen sollte. Die Franzosen verloren beinahe 20 Prozent ihrer Männer im wehrfähigen Alter, und wenn wir die Kriegsgefangenen, Verwundeten und für immer Verkrüppelten und Entstellten hinzuzählen – jene gueules cassés (»zerschlagenen Fressen«), die das Bild nach dem Krieg so eindrucksvoll prägten –, dann hatte nur etwa jeder dritte französische Soldat ohne bleibende Schäden den Krieg überlebt. Die Chancen für die etwa fünf Millionen britischen Soldaten, den Krieg unverletzt zu überstehen, standen fünfzig zu fünfzig.2 Die Briten verloren eine ganze Generation – eine halbe Million Männer unter dreißig (Winter, 1986, S. 83), die vor allem aus der Oberschicht stammten und zu Gentlemen erzogen worden waren, welche als Offiziere ein Beispiel zu geben hatten. Sie marschierten ihren Männern voran in die Schlacht und wurden daher auch als erste niedergemäht. Ein Viertel der unter fünfundzwanzigjährigen Studenten aus Oxford und Cambridge, die 1914 von der britischen Armee eingezogen worden waren, wurde getötet (Winter, S. 98). Die Deutschen, mit ihren viel weiter gefaßten Gruppen im kriegsfähigen Alter, verloren proportional gesehen weniger – 13 Prozent –, obwohl die Gesamtzahl ihrer Toten höher war als die der Franzosen. Selbst die vergleichsweise geringen Verluste der USA (116 000 gemessen an 1,6 Millionen Franzosen, beinahe 800 000 Briten und 1,8 Millionen Deutschen) zeigen, wie mörderisch diese Westfront war. Im Zweiten Weltkrieg waren die Verluste der USA zwar zweieinhalb- bis dreimal so hoch, aber damals kämpften ihre Truppen auch dreieinhalb Jahre auf der ganzen Welt, wohingegen sie 1917–18 kaum eineinhalb Jahre lang in nur einem einzigen, begrenzten Gebiet eingesetzt waren.3

      Die Kriegsgreuel an der Westfront sollten aber noch andere und schlimmere Folgen haben. Denn diese neue Erfahrung trug dazu bei, den Krieg und ebenso die Politik zu brutalisieren: Wenn Krieg geführt werden konnte, ohne die menschlichen und anderen Kosten aufzurechnen, weshalb dann nicht auch die Politik? Die meisten Männer, die im Ersten Weltkrieg – in der überwältigenden Mehrheit als Wehrdienstpflichtige – gedient hatten, kamen als überzeugte Kriegsgegner zurück. Jene ehemaligen Soldaten aber, die durch diesen Krieg hindurchgegangen waren, ohne sich gegen ihn aufzulehnen, zogen aus der gemeinsamen Erfahrung eines Lebens mit Tod und Tapferkeit eine Art unvermittelbarer, urtümlich-roher Überlegenheit, die sich vor allem gegen Frauen und all jene richtete, die nicht gekämpft hatten. Schon bald in der Nachkriegszeit sollten diese ehemaligen Frontsoldaten in die vordersten Reihen der Ultrarechten aufrücken. Adolf Hitler war nur einer dieser Männer, für die die Zeit als Soldat die prägende Erfahrung ihres Lebens werden sollte. Allerdings hatte auch die entgegengesetzte Reaktion negative Konsequenzen. Denn nach dem Krieg war zumindest den Politikern der demokratischen Staaten ziemlich klar geworden, daß ein Blutbad wie das von 1914–18 von den Wählern nicht mehr hingenommen werden würde. Die gesamte Strategie von Großbritannien und Frankreich nach 1918 basierte auf dieser Annahme, wie später auch die Strategie der USA nach der Vietnam-Erfahrung. Und auf kurze Sicht gesehen trug genau diese Haltung dazu bei, daß Deutschland 1940 im Zweiten Weltkrieg ein Frankreich besiegen konnte, das fest entschlossen war, sich hinter seinen (unzureichenden) Schutzwällen zu verschanzen, und, als diese erst einmal gestürmt waren, schlichtweg keinen Willen mehr hatte, den Kampf weiterzuführen. Dasselbe galt für Großbritannien, das sich verzweifelt bemühte, einer derart gewaltigen Landschlacht zu entgehen, wie sie 1914–18 so viele seiner Soldaten das Leben gekostet hatte. Aber auch langfristig gesehen konnten demokratische Regierungen nicht der Versuchung widerstehen, das Leben ihrer eigenen Bürger auf (unbegrenzte) Kosten des Lebens der Bürger des feindlichen Staates zu schützen. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 wurden nicht damit gerechtfertigt, daß sie für den Sieg – der ja damals schon absolut sicher war – unumgänglich gewesen seien, sondern als Maßnahme, um das Leben amerikanischer Soldaten zu retten. Vielleicht aber lag der US-Regierung auch der Gedanke nicht fern, daß sie damit den amerikanischen Verbündeten Sowjetunion daran hindern konnte, einen wesentlichen Anteil am Sieg über Japan für sich zu beanspruchen.

      Während die Westfront in eine blutige Starre verfallen war, blieb die Ostfront in Bewegung. Die Deutschen pulverisierten in den ersten Kriegsmonaten bei der Schlacht von Tannenberg eine schwerfällige russische Invasionstruppe und vertrieben mit zeitweilig wirkungsvoller Hilfe der Österreicher die Russen aus Polen. Trotz gelegentlicher russischer Gegenoffensiven war klar, daß die Mittelmächte die Oberhand hatten und die Russen nur noch ein defensives Nachhutgefecht gegen die vorrückenden Deutschen kämpften. Auch den Balkan hatten die Mittelmächte unter Kontrolle, trotz des Auf und Ab der militärischen Leistungen des schwankenden Habsburgischen Reichs. Die regionalen Kriegsparteien Serbien und Rumänien hatten übrigens proportional die bei weitem stärksten militärischen Verluste zu beklagen. Die Alliierten machten, obwohl sie Griechenland besetzt hatten, keinerlei Fortschritte, bis nach dem Sommer 1918 die Mittelmächte schließlich zusammenbrachen. Der Plan Italiens, in den Alpen eine weitere Front gegen Österreich-Ungarn aufzubauen, schlug fehl; hauptsächlich, weil viele italienische Soldaten keinen Grund sahen, weshalb sie für die Regierung eines Staates kämpfen sollten, der nicht der ihre war und dessen Sprache nur wenige beherrschten. Nach einem großen militärischen Debakel, 1917 in Caporetto (das Ernest Hemingway in seinem Roman In einem andern Land verewigt hat), mußten die Italiener sogar noch durch den Transfer von alliierten Truppeneinheiten verstärkt werden. Inzwischen bluteten sich Frankreich, Großbritannien und Deutschland an der Westfront gegenseitig aus; Rußland wurde zunehmend von einem Kampf destabilisiert, den es offensichtlich verlor; und das österreichisch-ungarische Reich torkelte unaufhaltsam auf seinen Untergang zu, den sich zwar die nationalistischen Bewegungen des Reichs wünschten, in den sich die Außenministerien der Alliierten aber ohne Begeisterung fügten. Zu Recht sahen sie ein instabiles Europa vor sich.

      Das entscheidende Problem beider Seiten war es nun, wie die Erstarrung an der Westfront gelöst werden könnte, denn ohne einen Sieg im Westen würde keine Seite den Krieg gewinnen können, vor allem da auch der Seekrieg in eine Sackgasse geraten war. Abgesehen von ein paar isolierten Kommandounternehmen wurden die Ozeane von den Alliierten kontrolliert. Nur die britischen und deutschen Schlachtflotten lagen sich noch immer in der Nordsee gegenüber und lähmten sich gegenseitig. Ihr einziger Versuch, sich zu bekämpfen (1916), endete unentschieden; doch da die deutsche Flotte in ihren eigenen Gewässern festsaß, geriet das Ganze mehr zum Vorteil der Alliierten.

      Beide Seiten versuchten es mit Technologie. Die Deutschen, schon immer stark bei der Entwicklung von Chemie, führten Giftgas auf dem Schlachtfeld ein, wo es sich nicht nur als barbarisches Mittel, sondern auch als ineffektiv erwies. Das führte aber zu der einzigen humanitären Reaktion von Regierungen gegen ein Kriegsmittel: die Genfer Konvention von 1925, mit der die Weltgemeinschaft an sich selbst appellierte, keine chemischen Waffen einzusetzen. Und tatsächlich wurden sie, obwohl sich alle Regierungen weiterhin darauf vorbereiteten und auch davon ausgingen, daß der Feind sie benützen würde, von keiner Seite im Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Nur die Italiener konnten auch von humanitären Gefühlen nicht davon abgehalten werden, Kolonialvölker zu vergasen. Der tiefe Fall der zivilisatorischen Werte nach dem Zweiten Weltkrieg brachte schließlich auch das Giftgas auf die Bühne zurück. Während des Krieges zwischen

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