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Jahren wurde die kapitalistische Welt von Problemen erschüttert, die es bislang nur in den Zwischenkriegsjahren gegeben und von denen man angenommen hatte, daß sie vom Goldenen Zeitalter endgültig überwunden worden wären: Massenarbeitslosigkeit, bedrohliche zyklische Konjunkturkrisen, spektakuläre Konfrontationen von Obdachlosigkeit und luxuriösem Überfluß, von begrenzten Staatseinnahmen und grenzenlosen Staatsausgaben. Die erlahmenden und verwundbaren Wirtschaften der sozialistischen Staaten wurden zu einem ebensolchen, wenn nicht sogar noch radikaleren Bruch mit ihrer Vergangenheit getrieben und begannen, wie wir heute wissen, auf ihren Zusammenbruch zuzusteuern. Diesen Zusammenbruch kann man den Beginn vom Ende des Kurzen 20. Jahrhunderts nennen, so wie der Erste Weltkrieg den Beginn seines Anfangs markiert hat. An dieser Stelle endet meine Geschichte.

      Sie endet – wie alle Bücher, die in den frühen neunziger Jahren abgeschlossen wurden – mit einem Blick ins Dunkle. Der Zusammenbruch des einen Teils der Welt enthüllte die Malaise des anderen. Als die achtziger Jahre in die neunziger übergingen, wurde deutlich, daß die Weltkrise nicht nur überall zur ökonomischen Krise, sondern auch zur allgemein politischen geraten war. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime zwischen Istrien und Wladiwostok hat nicht nur ein riesiges Gebiet mit politischer Unsicherheit, Instabilität, Chaos und Bürgerkrieg geschaffen, sondern auch jenes internationale System zerstört, das die internationalen Beziehungen über vierzig Jahre lang stabil gehalten hatte. Und er enthüllte schließlich auch die Ungesichertheit der innenpolitischen Systeme, die im wesentlichen auf dieser internationalen Stabilität beruht hatten. Denn die Spannungen, die auf den bedrängten Volkswirtschaften lasteten, haben auch die politischen Systeme der liberalen parlamentarischen oder präsidialen Demokratien, die in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg so gut funktioniert hatten, und nicht zuletzt auch die verschiedenen politischen Systeme in der Dritten Welt unterminiert. Die Basiseinheiten der Politik selbst, die territorialen, souveränen und unabhängigen »Nationalstaaten« – sogar die ältesten und stabilsten unter ihnen –, wurden von den Kräften einer supranationalen und transnationalen Wirtschaft und von infranationalen sezessionistischen Kräften und ethnischen Gruppierungen herausgefordert, von denen einige (auch das eine Ironie der Geschichte) den überholten und irrealen Status eines souveränen Miniatur-»Nationalstaates« einforderten. Die Zukunft der gesamten Politik lag im dunkeln, aber ihre Krise am Ende des Kurzen 20. Jahrhunderts war offensichtlich.

      Noch offensichtlicher als die Unsicherheiten der Weltwirtschaft und der Weltpolitik aber war die soziale und moralische Krise, die die Umwälzungen im menschlichen Leben nach den fünfziger Jahren reflektierte und in diesem Krisenjahrzehnt schließlich äußerst konfus zum Ausdruck kam: die Krise der verschiedenen Glaubensrichtungen und Postulate, auf die sich die moderne Gesellschaft gründete, seit die Modernen im frühen 18. Jahrhundert ihre berühmte Schlacht gegen die Alten gewonnen hatten, bei der es um jene rationalen und humanistischen Grundsätze ging, die der liberale Kapitalismus und der Kommunismus miteinander teilten und die schließlich auch deren kurze, aber entscheidende Allianz gegen den Faschismus – der diese Postulate bekämpfte – ermöglicht hatten. Michael Stürmer, ein konservativer deutscher Beobachter, stellte 1993 zu Recht fest, daß nunmehr nicht nur die Glaubenssätze des Ostens, sondern auch die des Westens zur Disposition standen: »In dieser Hinsicht besteht übrigens eine merkwürdige Parallelität zwischen Ost und West. Im Osten war die Vorstellung, der Mensch sei Herr seines Schicksals, Staatsdoktrin. Aber sogar bei uns galt – wenngleich sanfter und mehr inoffiziell – die Devise, daß der Mensch auf dem Wege sei, Herr seines Schicksals zu werden. Auf beiden Seiten sind wir mit dieser Omnipotenzanmaßung gescheitert, im Osten absolut, chez nous relativ« (Bergedorf 98. S. 95).

      Paradoxerweise endete ausgerechnet jenes Zeitalter, dessen Behauptung, der Menschheit Nutzen gebracht zu haben, ausschließlich auf den enormen Erfolgen des wissenschaftlich und technologisch begründeten materiellen Fortschritts basierte, indem maßgebliche Vertreter der öffentlichen Meinung und vorgeblich große Denker des Westens genau diesen Fortschritt in Frage stellten.

      Aber nicht nur die Grundsätze der modernen Zivilisation stürzten in die moralische Krise, sondern auch die historischen Strukturen der menschlichen Beziehungen, die die moderne Gesellschaft von der präindustriellen und präkapitalistischen Vergangenheit geerbt hatte und die ihr, wie wir heute wissen, zur Wirksamkeit verholfen haben. Nicht eine bestimmte Möglichkeit der Organisation von Gesellschaften war in die Krise geraten, sondern alle Möglichkeiten. Und die seltsamen Rufe nach einer diffusen »Zivilgesellschaft«, nach »Gemeinschaft« – und das in einer Zeit, in der solche Worte ihre traditionelle Bedeutung bereits verloren hatten und zu leeren Phrasen geworden waren –, nach Gruppenidentität, die sich nur durch eine einzige Möglichkeit definierte, nämlich durch den Ausschluß von Außenseitern: sie alle waren Stimmen von verlorenen und umhergeisternden Generationen.

      Der Dichter T. S. Eliot schrieb: »So wird die Welt enden – nicht mit einem Knall, sondern mit Gewinsel.« Das Kurze 20. Jahrhundert endete mit beidem.

      3

      Wie sah die Welt der neunziger Jahre aus, verglichen mit der Welt von 1914? Sie war von fünf oder sechs Milliarden Menschen bevölkert, etwa dreimal soviel, wie beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs gelebt hatten, und dies trotz der Tatsache, daß während des Kurzen 20. Jahrhunderts mehr Menschen umgekommen sind oder auf Weisung und mit Erlaubnis Menschen ermordet wurden als jemals zuvor in der Geschichte. Eine neuere Schätzung der »Megatode« dieses Jahrhunderts beläuft sich auf 187 Millionen (Brzezinski, 1993), was mehr als einem von zehn Menschen der gesamten Weltbevölkerung von 1900 entspricht. Die meisten von ihnen waren größer, schwerer und besser ernährt und wurden weitaus älter als ihre Eltern, obwohl die Katastrophen der achtziger und neunziger Jahre in Afrika, Lateinamerika und der ehemaligen Sowjetunion dies nur schwerlich glaubhaft erscheinen lassen. Die Welt war unvergleichlich viel reicher als jemals zuvor – durch das mittlerweile herrschende Ausmaß an Waren- und Dienstleistungsproduktion –, aber auch reicher in ihrer grenzenlosen Vielfalt. Anders wäre es ihr auch nicht gelungen, eine Weltbevölkerung zu erhalten, die um ein Mehrfaches größer war als jemals zuvor in der Weltgeschichte. Bis in die achtziger Jahre lebten die meisten Menschen besser als ihre Eltern und in den fortgeschrittenen Wirtschaftssystemen auch besser, als sie es selbst jemals erwartet oder für möglich gehalten hatten. Für einige Jahrzehnte sah es in der Mitte des Jahrhunderts sogar so aus, als habe man Mittel und Wege gefunden, zumindest einen Teil dieses enormen Wohlstands in den reicheren Ländern mit einem gewissen Grad an ausgleichender Gerechtigkeit an die arbeitenden Menschen zu verteilen, doch am Ende des Jahrhunderts hatte Ungerechtigkeit wieder die Oberhand gewonnen. Selbst in den ehemals »sozialistischen« Ländern, wo zuvor eine gewisse Gleichheit in Armut geherrscht hatte, hielt Ungerechtigkeit massiv Einzug. Die Menschheit war viel besser ausgebildet als 1914. Tatsächlich waren wahrscheinlich zum erstenmal in der Geschichte die meisten Menschen des Lesens und Schreibens kundig; zumindest stand es so in den offiziellen Statistiken, wenngleich die Bedeutung dieser Errungenschaft am Ende des Jahrhunderts weit weniger klar war, als sie es 1914 gewesen wäre, weil zwischen dem Kompetenzminimum der »Lese- und Schreibkundigkeit«, auf das man sich offiziell geeinigt hatte (was häufig nichts anderes bedeutete als »funktionelles Analphabetentum«), und dem Bildungsniveau der Eliten mittlerweile eine riesige und wahrscheinlich noch wachsende Kluft entstanden war.

      Die Welt war angefüllt mit revolutionären und sich ständig weiterentwickelnden Technologien, die auf den Errungenschaften der Naturwissenschaften basierten. 1914 waren sie zwar bereits vorstellbar gewesen, aber ihre Entwicklung hatte noch völlig in den Kinderschuhen gesteckt. Die vielleicht dramatischste Konsequenz dieser Entwicklung war die Revolution im Transport- und Kommunikationswesen, die die Vorstellungen von Zeit und Raumdistanz nahezu zunichte gemacht hat. Es war eine Welt, die täglich, stündlich und in jeden Haushalt mehr Information und Unterhaltung liefern konnte, als sie 1914 kaiserlichen Herrschern zur Verfügung gestanden hatten. Sie ermöglichte es den Menschen, über Ozeane und Kontinente hinweg und nur nach dem Druck auf ein paar Knöpfe miteinander zu sprechen, und sie hat mit gutem Grund die kulturelle Überlegenheit der Stadt über das Land abgeschafft.

      Weshalb also endete das Jahrhundert nicht mit einer Jubelfeier angesichts dieses beispiellosen und wunderbaren Fortschritts, sondern in einer Stimmung des Unbehagens? Weshalb blickten so viele der Reflexion fähige Denker ohne Genugtuung

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