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      Eine solche Gesellschaft, die nur noch aus einer unzusammenhängenden Ansammlung von egozentrischen, der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse nachjagenden (sei es zu Profitzwecken oder zum Vergnügen) Individuen besteht, war der kapitalistischen Wirtschaftstheorie immer eingewoben. Und seit dem Zeitalter der Revolution haben Beobachter aller ideologischen Couleur immer diese schleichende Entwicklung verfolgt und die Auflösung der alten sozialen Bindungen folgerichtig vorhergesehen. Der eloquente Tribut, den das Kommunistische Manifest der revolutionären Rolle des Kapitalismus in der Praxis zollte, ist bekannt. (»Das Bürgertum … hat mitleidlos die feudalen Bindeglieder zerrissen, die den Menschen mit seinen ›natürlichen Vorgesetztem verbanden, und zwischen Mensch und Mensch keinen anderen Nexus belassen als nackten Eigennutz.‹) Doch in der Praxis der neuen und revolutionären kapitalistischen Gesellschaft sah es etwas anders aus.

      Denn in der Praxis operierte diese neue Gesellschaft nicht, indem sie ihr gesamtes Erbe von der alten Gesellschaft zerstörte, sondern indem sie dieses Erbe selektiv für ihre eigenen Zwecke nutzte. Die Bereitschaft der bürgerlichen Gesellschaft, den »radikalen Individualismus in der Wirtschaft« einzuführen und »im Verlauf dieses Prozesses alle traditionellen gesellschaftlichen Beziehungen aufzulösen« (also dort, wo sie ihr im Weg stehen), ist kein »soziologisches Puzzle«, ebensowenig wie die Angst vor einem kulturellen (und auf Verhalten wie Moral bezogenen) »radikal-experimentellen Individualismus« (Daniel Bell, 1976, S. 18). Denn die wirksamste Art und Weise, eine auf Privatunternehmen basierende Industriewirtschaft aufzubauen, ist, sie mit Motivationen zu verknüpfen, die nichts mit der Logik des freien Marktes zu tun haben – also beispielsweise mit der protestantischen Ethik; mit dem Verzicht auf unmittelbar eintretenden Erfolg; mit dem Ethos der harten Arbeit; mit familiärem Pflichtgefühl und Vertrauen, aber gewiß nicht mit der antinomistischen Rebellion von Individuen.

      Doch Marx und die anderen Propheten der Zerstörung aller alten Werte und sozialen Beziehungen hatten recht. Der Kapitalismus war die Kraft der permanenten, ununterbrochenen Revolution. Logischerweise mußte er auch jene Teile der vorkapitalistischen Vergangenheit zerstören, die für seine eigene Entwicklung notwendig und vielleicht sogar entscheidend gewesen waren. Früher oder später mußte er mindestens einen der Äste absägen, auf denen er selbst saß. Ebendas geschah seit Mitte des Jahrhunderts. Unter dem Einfluß der so überaus starken wirtschaftlichen Explosion des Goldenen Zeitalters und später, während der von ihr bewirkten sozialen und kulturellen Veränderungen – der tiefgreifendsten gesellschaftlichen Revolution seit der Steinzeit –, begann der Ast zu knacken und zu brechen. Am Ende dieses Jahrhunderts war es zum erstenmal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit (auch die Vergangenheit der Gegenwart) keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten, und nicht mehr dem Meer, über das wir segelten. Eine Welt, in der wir nicht mehr wissen können, wohin uns unsere Reise führt, ja nicht einmal, wohin sie uns führen sollte.

      Dies ist die Situation, mit der ein Teil der Menschheit bereits Ende dieses Jahrhunderts zurechtkommen muß und auf die sich noch viel mehr Menschen im neuen Jahrtausend einstellen müssen. Doch dann wird vielleicht schon klarer als heute geworden sein, wohin die Menschheit geht. Wir können nur zurückblicken und feststellen, was auf dem Wege lag, der uns bis hierher geführt hat. Das habe ich in diesem Buch versucht. Wir wissen zwar nicht, wovon unsere Zukunft geprägt sein wird; doch ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, auch über künftige Probleme nachzudenken, jedenfalls sofern sie aus den Ruinen jener Periode auftauchen werden, die gerade zu Ende gegangen ist. Hoffentlich wird es eine bessere, gerechtere und lebenswertere Welt sein. Das alte Jahrhundert hat kein gutes Ende genommen.

Erster Teil

      Das Zeitalter des totalen Krieges

      Spaliere grau mürrischer Gesichter, getarnt mit Angst,

      Sie verlassen ihre Gräben, klettern über den Wall,

      Zeit verrinnt leer und eilig an ihrem Handgelenk,

      Und Hoffnung, mit verschlagenen Augen und klammerndem Griff,

      Irrt im Schlamm umher. O Jesus, mach ein Ende!

      Siegfried Sassoon (1947, S. 71)

      Es wäre wohl eine gute Idee, angesichts der Anklagen gegen die »Barbarei« von Luftangriffen den äußeren Schein zu wahren, indem nachsichtigere Regeln aufgestellt werden und die Bombardierung nominell auf Ziele beschränkt wird, die strikt militärischer Art sind … um die Betonung der Wahrheit zu vermeiden, daß der Luftkrieg solche Einschränkungen obsolet und unmöglich gemacht hat. Es kann einige Zeit dauern, bis ein neuer Krieg stattfindet, und inzwischen kann die Öffentlichkeit auf den Zweck einer Luftstreitkraft vorbereitet werden.

      Rules as to Bombardement by Aircraft, 1921 (Townshend, 1986, S. 161)

      Hier, wie in Belgrad, sehe ich in den Straßen viele junge Frauen mit leicht, ja auch völlig ergrautem Haar. Die Gesichter sind verhärmt, aber noch jung, und die Körperformen zeigen noch deutlicher ihre Jugend. Ich glaube zu sehen, wie die Hand des Krieges über die Köpfe dieser schwachen Geschöpfe hinweggegangen ist und sie mit vorzeitigem Grau bestreut hat, durch das noch die Jugend scheint.

      Dieses Bild wird man nicht für die Zukunft bewahren können; diese Köpfe werden bald noch stärker ergrauen und dann völlig von der wogenden Oberfläche der Passanten verschwinden. Das ist schade. Nichts würde künftigen Generationen besser und deutlicher etwas über unsere Zeit sagen als die jungen, grauen Köpfe, denen völlig oder teilweise die Sorglosigkeit und Freude der Jugend gestohlen wurde.

      Möge wenigstens in diesen Zeilen ein Gedenken an sie bleiben.

      Sarajevo, 14. Juni 1946

      Ivo Andrić, Wegzeichen (München 1982, S. 108–109)

      1

      »Jetzt verlöschen die Lichter in ganz Europa«, sagte Edward Grey, Außenminister von Großbritannien, während er an jenem Abend im Jahr 1914, als Großbritannien und Deutschland in den Krieg eintraten, auf die Lichter von Whitehall blickte. »Wir werden sie nie wieder in unserem Leben brennen sehen.« In Wien bereitete sich der große Satiriker Karl Kraus darauf vor, diesen Krieg in einem ungewöhnlichen Reportagedrama von 792 Seiten zu dokumentieren und zu brandmarken, dem er den Titel Die letzten Tage der Menschheit gab. Beide sahen mit diesem Weltkrieg das Ende der Welt gekommen, und damit standen sie nicht allein. Es war nicht das Ende der Menschheit, obwohl es im Verlauf der einunddreißig Jahre des Weltkonflikts zwischen dem 28. Juli 1914, als Österreich Serbien den Krieg erklärte, und der bedingungslosen Kapitulation Japans am 14. August 1945 – vier Tage nach der Explosion der ersten Atombombe – Augenblicke gegeben hat, in denen das Ende eines beträchtlichen Anteils der Menschheit nicht weit entfernt schien. Es hat sicher Zeiten gegeben, zu denen der Gott oder die Götter, die fromme Menschen als Schöpfer der Welt und von allem, was in ihr ist, verehren, bedauert haben dürften, ebendas getan zu haben.

      Die Menschheit hat überlebt. Doch das großartige Bauwerk der Zivilisation des 19. Jahrhunderts brach in den Flammen des Weltkriegs zusammen, als seine Säulen einstürzten. Das Kurze 20. Jahrhundert wäre ohne diese Geschichte nicht zu verstehen. Es war von Krieg gekennzeichnet. Es hat in den Vorstellungen eines Weltkriegs gelebt und gedacht, selbst als die Kanonen schwiegen und keine Bomben mehr explodierten. Seine Geschichte, genauer gesagt die Geschichte des Zeitalters seit dem Beginn seines Zusammenbruchs und der Katastrophe, muß mit der Geschichte des einunddreißigjährigen Weltkriegs beginnen.

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