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er das Bild betrachten. Er hatte Angst vor der Gewissheit. Als der Kaffee und die Zigaretten gebracht worden waren und der Mann sich zum Gehen wandte, spürte er ein wildes Verlangen, ihn zurückzuhalten. Als die Tür sich eben hinter ihm schließen wollte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging.

      Dann stand er vom Tisch auf, steckte sich eine Zigarette an und warf sich auf ein Ruhebett mit üppig weichen Kissen, das dem Schirm gegenüberstand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein reiches Louis XIV.-Muster gepresst war. Er sah ihn forschend an und sann, ob dieser Schirm je vorher wohl das Geheimnis eines Menschenlebens verdeckt habe.

      Sollte er ihn überhaupt zur Seite schieben? Warum ihn nicht stehen lassen? Was nützte das Wissen? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, warum sich dann beunruhigen? Aber wie, wenn durch irgendein Geschick oder unglücklichen Zufall andere Augen als seine dahinter blickten und die grässliche Veränderung sahen? Was sollte er tun, wenn Basil Hallward käme und sein eignes Bild sehn wollte? Basil würde sicher den Wunsch äußern. Nein, die Sache musste untersucht werden, und sofort. Alles war besser als diese entsetzliche Ungewissheit.

      Er stand auf und verschloss beide Türen. Wenigstens wollte er allein sein, wenn er auf die Maske seiner Schande blickte. Dann schob er den Schirm beiseite und sah sich von Angesicht zu Angesicht. Es war völlige Wahrheit. Das Bildnis hatte sich verändert.

      Er erinnerte sich später oft, und immer mit nicht geringem Staunen, dass er zuerst das Bild mit einer Art fast wissenschaftlichen Interesses in Augenschein nahm. Dass eine solche Veränderung vor sich gegangen sein sollte, schien ihm unglaublich. Und doch war es eine Tatsache. Gab es eine geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die sich zu Form und Farbe auf der Leinwand zusammensetzten, und der Seele, die in ihm war? Konnte es sein, dass sie verwirklichten, was diese Seele dachte? – dass sie wahr machten, was sie träumte? Oder gab es einen andern, schrecklicheren Zusammenhang? Er schauerte und wurde von Angst gepackt. Dann ging er zum Sofa zurück, legte sich hin und starrte das Bild in krankhaftem Entsetzen an.

      Eins jedoch, fühlte er, hatte das Bild für ihn getan. Es hatte ihm zum Bewusstsein gebracht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. Es war nicht zu spät, das wieder gutzumachen. Sie konnte noch sein Weib werden. Seine unwahre und selbstsüchtige Liebe konnte einem höheren Einfluss weichen, in eine edlere Glut umgewandelt werden, und das Porträt, das Basil Hallward gemacht hatte, sollte ihm ein Führer durchs Leben sein, sollte ihm sein, was einigen die Heiligkeit, andern das Gewissen und uns allen die Gottesfurcht ist. Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Arzneien, die das moralische Empfinden in Schlaf lullen konnten. Aber hier war ein sichtbares Symbol der Erniedrigung durch die Sünde. Hier war ein ewig gegenwärtiges Abbild des Verderbens, das die Menschen über ihre Seele bringen.

      Es schlug drei Uhr, und vier, und noch eine halbe Stunde verkündete das Glockenspiel, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er versuchte, die Scharlachfäden des Lebens aufzuspulen und sie zu einem Muster zu weben; seinen Weg durch das blutrote Labyrinth der Leidenschaft zu finden, durch das wir wandern. Er wusste nicht, was er tun sollte, was er denken sollte. Schließlich ging er zum Tisch und schrieb an das Mädchen, das er geliebt hatte, einen glühenden Brief, in dem er sie anflehte, ihm zu vergeben, und gestand, wahnsinnig gewesen zu sein. Er bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten des Kummers und wilderen Worten der Qual. Es gibt eine Schwelgerei der Selbstanklage. Wenn wir uns tadeln, haben wir die Empfindung, dass niemand sonst das Recht hat, uns zu tadeln. Die Beichte, nicht der Priester erteilt uns die Absolution. Als Dorian mit dem Brief fertig war, fühlte er, dass ihm vergeben war.

      Plötzlich klopfte es an die Tür, und er hörte die Stimme Lord Henrys draußen. »Lieber Junge, ich muss dich sehn. Lass mich sofort ein. Ich kann nicht dulden, dass du dich so einschließt.«

      Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen hörte nicht auf und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären, wie er ein neues Leben führen wolle; mit ihm zu streiten, wenn es nötig wäre zu streiten, und sich von ihm zu trennen, wenn die Trennung unvermeidlich wäre. Er sprang auf, schob den Schirm hastig vor das Bild und schloss die Tür auf.

      »Das tut mir alles so furchtbar leid«, sagte Lord Henry, als er eintrat. »Aber du darfst nicht zu viel daran denken.«

      »Meinst du das mit Sibyl Vane?«

      »Natürlich, ja«, antwortete Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl sinken und zog langsam seine gelben Handschuhe aus. »Es ist, von einer Seite betrachtet, schrecklich, aber es war nicht deine Schuld. Sag mir, gingst du hinter die Kulissen und sahst sie, als das Stück vorbei war?«

      »Ja.«

      »Ich wusste, dass es so war. Machtest du ihr eine Szene?«

      »Ich war brutal, Harry, ganz und gar brutal. Aber es ist jetzt alles gut. Ich bedaure nichts von allem, was geschehen ist. Es hat mich gelehrt, mich besser kennen zu lernen.«

      »Ah, Dorian, ich bin so froh, dass du es so nimmst! Ich fürchtete, du wärest in Gewissensbisse vergraben und zerrauftest dein schönes lockiges Haar.«

      »Ich bin durch all das hindurchgegangen«, sagte Dorian kopfschüttelnd und lächelnd. »Ich bin jetzt vollkommen glücklich. Zuvorderst weiß ich jetzt, was das Gewissen ist. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast. Es ist das Göttlichste, was wir haben. Höhne nicht darüber, Harry, nie mehr – zum Wenigsten nicht vor mir. Ich will gut sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, eine hässliche Seele zu haben.«

      »Reizend, diese ästhetische Grundlage der Moral, Dorian! Ich gratuliere dir dazu! Aber wie willst du damit anfangen?«

      »Ich werde Sibyl Vane heiraten.«

      »Sibyl Vane heiraten!«, schrie Lord Henry auf. Er erhob sich und blickte ihn in maßlosem Staunen an. »Aber, lieber Dorian …«

      »Jawohl, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgendetwas Hässliches gegen die Ehe. Sag es nicht. Sag nie wieder Dinge dieser Art zu mir. Vor zwei Tagen bat ich Sibyl, mich zum Manne zu nehmen. Ich will mein Wort nicht brechen. Sie soll meine Frau werden.«

      »Deine Frau! Dorian! … Erhieltest du meinen Brief nicht? Ich schrieb dir heute Morgen und sandte dir den Brief durch einen Boten.«

      »Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich habe ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich hatte Angst, es könnte etwas darin stehn, was mir nicht gefiele. Du schneidest das Leben mit deinen Epigrammen in Stücke.«

      »Du weißt also nichts?«

      »Was meinst du?«

      Lord Henry machte einen Gang durchs Zimmer, setzte sich dann neben Dorian Gray, fasste seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian«, sagte er, »mein Brief – erschrick nicht – sollte dir sagen, dass Sibyl Vane tot ist.«

      Ein Schmerzensschrei kam von den Lippen des Jünglings. Er riss seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los und sprang auf. »Tot! Sibyl tot! Es ist nicht wahr! Es ist eine schreckliche Lüge! Wie wagst du’s, das zu sagen?«

      »Es ist völlige Wahrheit, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen Morgenzeitungen. Ich schrieb es dir gleich und bat dich, niemanden zu sehn, bis ich käme. Es muss natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du darfst nicht in sie verwickelt werden. Dinge dieser Art machen einen Mann in Paris zum Helden des Tages. Aber in London sind die Menschen so voller Vorurteile. Hier sollte man nie mit einem Skandal debütieren. Man sollte sich ihn aufsparen, um sein Alter interessant zu machen. Ich vermute, sie wissen im Theater deinen Namen nicht? Wenn dem so ist, ist alles gut. Hat jemand gesehn, dass du zu ihr nach hinten in ihr Zimmer gingst? Das ist ein wichtiger Punkt.«

      Dorian gab ein paar Augenblicke keine Antwort. Er war vor Entsetzen betäubt. Endlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest du Untersuchung? Was meintest du damit? Hat Sibyl …? Oh, Harry, ich trage es nicht! Aber sprich schnell, sag mir alles auf einmal!«

      »Ich habe keinen Zweifel, dass es kein Versehen war, Dorian, obwohl man es dem Publikum

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