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sie machte einen seltsam abwesenden Eindruck. Sie zeigte keinerlei Freude, als ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte:

      Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden

      Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;

      Der Heil’gen Rechte darf Berührung dulden,

      Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuss

      – mit dem kurzen Dialog, der folgt, sagte sie in einem völlig gemachten Tone. Die Stimme war wundervoll, aber der Ton war gänzlich verfehlt. Er traf die Farbe nicht. Er nahm dem Vers alles Leben. Er machte die Sprache der Leidenschaft unwahr.

      Dorian Gray erblasste, als er zuhörte. Er war wie vor den Kopf gestoßen und voller Angst. Seine Freunde wagten kein Wort zu ihm zu sagen. Es schien ihr schlechtweg jedes Talent zu fehlen. Sie waren schrecklich enttäuscht.

      Indessen wussten sie, der wahre Prüfstein für jede Julia war die Balkonszene des zweiten Aktes. Darauf warteten sie. Wenn sie die verfehlte, war nichts an ihr.

      Sie sah reizend aus, als sie im Mondlicht heraustrat. Das war nicht zu leugnen. Aber ihr theatralisches Spiel war unerträglich und wurde im Verlauf der Szene immer schlimmer. Ihre Gesten wurden immer gemachter, und es war fast zum Lachen. Sie sprach alles, was sie zu sagen hatte, mit übertriebenem Pathos. Die schöne Stelle

      Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,

      Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen

      Um das, was du vorhin mich sagen hörtest

      wurde mit der qualvollen Genauigkeit eines Schulmädchens deklamiert, dem ein Sprachlehrer den schönen Vortrag beigebracht hat. Als sie sich über den Balkon bog und zu den wundervollen Versen kam

      Obwohl ich dein mich freue,

      Freu ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:

      Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,

      Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,

      Noch eh man sagen kann: Es blitzt. – Schlaf süß!

      Die Liebesknospe mag der Sommerhauch,

      Bis wir uns wiedersehn, zur Blum’ entfalten

      sprach sie die Worte, als ob sie keinen Sinn für sie hätten.

      Es war nicht Befangenheit. Sie schien durchaus nicht befangen, sondern völlig ruhig. Es war einfach schlechte Kunst, es war ein völliges Fiasko.

      Selbst die gewöhnlichen, ungebildeten Zuhörer auf der Galerie und dem Stehplatz verloren ihr Interesse an dem Stück. Sie wurden unruhig und fingen an, laut zu sprechen und zu pfeifen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrund des ersten Ranges stand, stampfte wütend mit dem Fuß auf und fluchte. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst.

      Als der zweite Akt vorüber war, wurde heftig gezischt und Lord Henry stand auf und zog seinen Überrock an.

      »Sie ist sehr schön«, sagte er, »aber sie ist keine Schauspielerin. Wir wollen gehen.«

      »Ich will das Stück zu Ende hören«, antwortete der Jüngling mit harter, bitterer Stimme. »Es tut mir furchtbar leid, dass du durch meine Schuld einen Abend vergeudet hast, Harry. Ihr müsst beide entschuldigen.«

      »Lieber Dorian, ich sollte meinen, Fräulein Vane muss krank sein«, versetzte Hallward. »Wir wollen an einem andern Abend wiederkommen.«

      »Ich wollte, sie wäre krank«, erwiderte er. »Aber mir scheint, dass sie lediglich kalt und gefühllos ist. Sie ist völlig umgewandelt. Gestern Abend war sie eine große Künstlerin. Heute ist sie nichts als eine gewöhnliche schlechte Schauspielerin.«

      »Sprich nicht so über jemanden, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas Wunderbareres als Kunst.«

      »Beide sind nichts als Formen der Nachahmung«, bemerkte Lord Henry. »Aber gehen wir. Dorian, du darfst hier nicht länger bleiben. Es ist nicht gut für die Moral eines Menschen, schlecht spielen zu sehen. Außerdem, denke ich, wirst du nicht wollen, dass deine Frau auftritt. Was liegt also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt? Sie ist ganz bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie von der Kunst, wird sie ein künstliches Erlebnis sein. Es gibt nur zwei Arten Menschen, die wahrhaft anziehend sind. Menschen, die ganz und gar alles wissen, und Menschen, die ganz und gar nichts wissen. Mein Himmel, lieber Junge, blick nicht so tragisch drein! Das Geheimnis, wie man jung bleibt, besteht darin, nie eine Erregung zu haben, die nicht zuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den Klub. Wir wollen Zigaretten rauchen und auf die Schönheit Sibyl Vanes anstoßen. Sie ist schön. Was willst du mehr?«

      »Verlass mich, Harry!«, rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ah! könnt ihr nicht sehn, dass mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine Lippen bebten, er suchte den Hintergrund der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den Händen.

      »Wir wollen gehen, Basil«, sagte Lord Henry mit seltsamer Zärtlichkeit in der Stimme; und die beiden jungen Leute gingen zusammen hinaus.

      Ein paar Augenblicke später wurde die Rampe wieder hell, und der Vorhang hob sich zum dritten Akt. Dorian Gray setzte sich wieder. Er sah blaß und abwesend und gleichgültig aus. Das Stück zog sich in die Länge und schien nicht enden zu wollen. Die Hälfte der Zuhörer ging mit ihren schweren Stiefeln stampfend und lachend hinaus. Es war ein furchtbarer Durchfall. Der letzte Akt wurde fast vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Kichern und etlichem unzufriedenen Grunzen.

      Sowie es vorbei war, eilte Dorian Gray hinter die Kulissen ins Ankleidezimmer. Das Mädchen stand allein da, ein sieghafter Ausdruck lag auf ihren Zügen. Ihre Augen leuchteten in sonderbarem Feuer. Es war wie ein Glanz um sie. Ihre halb offenen Lippen lächelten wie über ein Geheimnis, das nur sie wusste.

      Als er eintrat, blickte sie ihn an, und ein Ausdruck unendlichen Glückes kam über sie. »Wie schlecht ich heute spielte, Dorian!«, rief sie.

      »Entsetzlich!«, antwortete er und blickte sie in höchstem Staunen an – »entsetzlich! Es war fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine Vorstellung, wie es war. Du hast keine Vorstellung, was ich durchgemacht habe.«

      Das Mädchen lächelte. »Dorian«, antwortete sie und zog seinen Namen melodisch in die Länge, als wäre er ihr süßer als Honig der roten Blüte ihres Mundes – »Dorian, du hättest es verstehen sollen. Aber jetzt verstehst du, nicht wahr?«

      »Was verstehe ich?« fragte er heftig.

      »Warum ich heute Abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht spielen werde. Warum ich nie wieder gut spielen werde.«

      Er zuckte die Achseln. »Du bist krank, vermutlich. Wenn du krank bist, solltest du nicht auftreten. Du machst dich lächerlich. Meine Freunde langweilten sich grässlich. Ich auch.«

      Sie schien nicht auf ihn zu hören. Sie war wie von Glück verklärt. Eine Ekstase der Freude erfüllte sie.

      »Dorian, Dorian«, rief sie, »eh ich dich kannte, war Spielen die einzige Wirklichkeit meines Lebens. Nur auf der Bühne lebte ich. Ich hielt alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Porzia am andern. Das Glück der Beatrice war mein Glück, und das Leid der Cordelia war auch das meine. Ich glaubte an alles. Das gemeine Volk, das mit mir zusammen spielte, schien mir göttlich zu sein. Die gemalten Kulissen waren meine Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für wirklich. Da kamst du – oh, mein schöner Geliebter! – und erlöstest meine Seele aus dem Kerker. Du lehrtest mich, was wirkliche Wirklichkeit ist. Heute sah ich zum ersten Mal die Hohlheit, die Erbärmlichkeit, die Albernheit des öden, verlogenen Flitters, zwischen dem ich immer gespielt hatte. Heute wurde es mir zum erstenmal bewusst, dass der Romeo grässlich und alt und geschminkt ist, dass das Mondlicht im Garten falsch ist, dass die Szenerie gemein ist und dass die Worte, die ich zu sprechen habe, unwirklich sind, nicht meine Worte, nicht was es mich zu sagen drängt. Du hast mir etwas Höheres gebracht, etwas, wovon alle Kunst nur ein Abglanz ist. Du hast mich dazu gebracht, dass

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