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einer Weile schob er den Teller zurück und stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, dass er ein Recht hatte, es zu wissen. Man hätte es ihm früher sagen sollen, wenn es so war, wie er argwöhnte. Von Angst gepeinigt, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte fielen ihr mechanisch vom Munde. Ein zerfetztes Spitzentaschentuch zerdrückte sie in der Hand. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Augen trafen sich. In ihren sah er ein wildes Flehen um Erbarmen. Das machte ihn wütend.

      »Mutter, ich muss dich etwas fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten unbestimmt im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort. »Sag mir die Wahrheit! Ich habe ein Recht, es zu wissen! Warst du mit meinem Vater verheiratet?«

      Sie seufzte tief auf. Es war ein Seufzer der Erleichterung. Der furchtbare Augenblick, der Augenblick, den sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gefürchtet hatte, war endlich gekommen, und doch fühlte sie keine Furcht. In der Tat, gewissermaßen war das eine Enttäuschung für sie. Die grobe Deutlichkeit der Frage verlangte eine Antwort ohne Umschweife. Die Situation war nicht allmählich gesteigert worden. Es war roh. Es kam ihr vor wie eine schlechte Deklamation.

      »Nein«, antwortete sie, und war verwundert über die harte Einfachheit des Lebens.

      »Mein Vater war also ein Schurke!«, rief der Bursche und ballte die Faust.

      Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass er nicht frei war. Wir liebten uns sehr. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. Es ist wahr, er hatte hohe Verbindungen.«

      Ein Fluch kam aus seinem Munde. »Ich kümmere mich nicht um mich«, rief er, »aber lass Sibyl nicht … Ist es ein Gentleman oder nicht, der in sie verliebt ist oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, denk ich.«

      Einen Augenblick kam ein grässliches Gefühl der Demütigung über die Frau. Sie ließ den Kopf sinken. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. »Sibyl hat eine Mutter«, sprach sie leise; »ich hatte keine.«

      Der junge Mensch war gerührt. Er trat auf sie zu, beugte sich nieder und küsste sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem Vater gequält habe«, sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Ich muss jetzt gehen. Leb wohl! Vergiss nicht, dass du jetzt nur noch ein Kind zu behüten hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid zufügt, finde ich heraus, wer er ist, spüre ihn auf und bringe ihn um wie einen Hund. Das schwör ich dir!«

      Die wahnsinnige Übertreibung der Drohung, die leidenschaftlichen Gesten, die sie begleiteten, die tollen melodramatischen Worte machten ihr das Leben wieder behaglicher. Sie war mit dieser Atmosphäre vertraut. Sie atmete freier, und zum ersten Mal seit vielen Monaten bewunderte sie ihren Sohn wahrhaft. Sie hätte die Szene gern auf derselben Höhe der Empfindsamkeit fortgeführt, aber er brach kurz ab. Koffer mussten hinuntergeschafft und Tücher mussten besorgt werden. Der Knecht des Logierhauses ging geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde verhandelt. Der Moment wurde mit gewöhnlichen Einzelheiten verzettelt. Wiederum mit einem Gefühl der Enttäuschung stand sie am Fenster und ließ das zerfetzte Spitzentuch in der Luft flattern, als ihr Sohn abfuhr. Es war ihr, als sei eine große Gelegenheit verpasst worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie verödet ihr Leben künftig sein werde, jetzt, wo sie nur noch ein Kind zu behüten habe. Sie hatte sich diesen Satz gemerkt, er hatte ihr gefallen. Von der Drohung sagte sie nichts. Sie war lebhaft und dramatisch gesprochen gewesen. Sie hatte das Gefühl, sie würden alle eines Tages darüber lachen.

      Sechstes Kapitel

      »Du hast wohl das Neueste schon gehört, Basil?«, sagte Lord Henry an diesem Abend, als Hallward in ein kleines reserviertes Zimmer des Restaurants Bristol trat, wo für drei Personen gedeckt war.

      »Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er dem Kellner Hut und Überrock gab. »Was ist es? Nichts Politisches hoffentlich? Dafür interessiere ich mich nicht. Es gibt im ganzen Unterhaus kaum einen Menschen, den zu malen sich verlohnte; obwohl ich zugebe, dass eine kleine Übertünchung manchem unter ihnen, der sich rangieren möchte, nichts schaden könnte.«

      »Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn, während er sprach.

      Hallward fuhr zurück und runzelte dann die Stirn. »Dorian verlobt!«, rief er. »Unmöglich!«

      »Es ist völlig wahr.«

      »Mit wem?«

      »Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.«

      »Ich kann es nicht glauben. Dorian ist viel zu vernünftig.«

      »Dorian ist viel zu gescheit, nicht hie und da Torheiten zu begehen, lieber Basil.«

      »Die Ehe gehört kaum zu den Dingen, die man hier und da begehen kann, Harry.«

      »Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry langsam. »Aber ich sagte nicht, dass er verheiratet sei. Ich sagte, dass er verlobt ist. Das ist ein großer Unterschied.«

      »Aber denk an Dorians Geburt, seine Stellung, seinen Reichtum. Es wäre Unsinn, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten wollte.«

      »Wenn du willst, dass er dieses Mädchen heiratet, so sag ihm das, Basil. Dann tut er es sicher. Wenn ein Mann etwas ausgesucht Dummes tut, geschieht es immer aus den edelsten Motiven.«

      »Ich hoffe, dass es ein gutes Mädchen ist. Ich möchte nicht haben, dass Dorian an ein gemeines Geschöpf gefesselt ist, das ihn herunterziehn und seinen Geist verderben würde.«

      »Oh, sie ist mehr als gut – sie ist schön«, sagte Lord Henry, der an einem Glas Wermut mit Pomeranzen nippte. »Dorian sagt, sie sei schön; und auf diesem Gebiet irrt er sich nicht oft. Dein Porträt von ihm hat sein Urteil über die persönliche Erscheinung anderer Menschen beschleunigt. Es hat diese vorzügliche Wirkung getan, neben andern. Wir sollen sie heute Abend sehen, wenn der Junge die Abmachung nicht vergisst.«

      »Sprichst du im Ernst?«

      »Völlig im Ernst, Basil. Es wäre schlimm, wenn ich denken müsste, ich sollte je ernsthafter sprechen als in diesem Augenblick.«

      »Aber billigst du die Sache, Harry?«, fragte der Maler, der im Zimmer hin und her ging und sich auf die Lippen biss. »Es ist nicht möglich, dass du sie billigst. Es ist irgendeine törichte Verblendung.«

      »Ich billige oder missbillige nie mehr etwas. Das ist eine ganz verkehrte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt gesetzt worden, um unsere moralischen Vorurteile zu ventilieren. Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Menschen sagen, und ich mische mich nie in das ein, was reizende Menschen tun. Wenn eine Persönlichkeit mir anziehend ist, so ist mir jede Art, in der diese Person sich zum Ausdruck bringt, erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und hält um sie an. Warum nicht? Wenn er Messalina heiratete, wäre er um nichts weniger interessant. Du weißt, ich bin keiner, der für die Ehe in die Schranken tritt. Die eigentliche Schattenseite der Ehe ist, dass sie einen selbstlos macht. Und selbstlose Menschen sind farblos. Es fehlt ihnen an Individualität. Jedoch, es gibt gewisse Naturen, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren Egoismus und fügen ihm viele andere Ichs hinzu. Sie sind gezwungen, mehr als ein einziges Leben zu haben. Sie erlangen eine höhere Organisation, und hoch organisiert zu sein, ist, sollte ich meinen, der Zweck des menschlichen Daseins. Überdies ist jede Erfahrung von Wert, und mag man gegen die Ehe sagen, was man will, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian Gray wird dieses Mädchen zu seiner Frau machen, sie sechs Monate lang leidenschaftlich anbeten und dann plötzlich von einer andern angezogen werden. Es wäre prächtig, das zu beobachten.«

      »Du glaubst kein einziges Wort von dem allem, Harry; du weißt das. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre niemand trauriger als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.«

      Lord Henry lachte. »Der Grund, warum wir alle so gern gut von andern denken, ist, dass wir alle für uns selbst Angst haben. Die Grundlage des Optimismus ist reine Furcht. Wir halten uns für edelmütig, weil wir unserm Nächsten diese Tugenden borgen,

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