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der Grund, warum du nie mehr mit mir zusammen isst. Ich dachte mir, dass da ein absonderlicher Roman im Gange sei. Es ist so, aber nicht ganz, was ich erwartet habe.«

      »Lieber Harry, jeden Tag sind wir beim Frühstück oder Nachtessen zusammen, und ich bin ein paarmal mit dir in der Oper gewesen«, sagte Dorian und schaute ihn mit seinen blauen Augen erstaunt an.

      »Du kommst immer schrecklich spät.«

      »Aber ich muss Sibyl spielen sehn«, rief er, »und wenn es nur einen Akt lang ist. Ich hungere nach ihrer Gegenwart; und wenn ich an die herrliche Seele denke, die in diesem kleinen Elfenbeinleib verborgen ist, erfasst mich Ehrfurcht.«

      »Heute Abend kannst du mit mir essen, Dorian, nicht wahr?«

      Er schüttelte den Kopf. »Heute Abend ist sie Imogen«, antwortete er, »und morgen wird sie Julia sein.«

      »Wann ist sie Sibyl Vane?«

      »Nie.«

      »Ich gratuliere.«

      »Wie grässlich du bist! Sie ist all die großen Frauengestalten der Welt in einer. Sie ist mehr als ein Individuum. Du lachst, aber ich sage dir, sie hat Genie. Ich liebe sie, und ich muss es erreichen, dass sie mich auch liebt. Du kennst alle Geheimnisse des Lebens, du musst mir sagen, wie ich Sibyl Vane so entzücken kann, dass sie mich liebt! Ich muss Romeo eifersüchtig machen. Die toten Liebhaber der Welt sollen unsre lachenden Stimmen hören und sich grämen. Unsre strahlende Glut soll ihrem Staub Leben geben, soll ihre Asche zum Schmerz erwecken. O Gott, Harry, ich bete sie an!«

      Er ging im Zimmer auf und ab, während er sprach. Fieberhafte rote Flecke brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.

      Lord Henry beobachtete ihn mit stillem Wohlgefallen. Wie anders war er jetzt als der schüchterne, ängstliche Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier getroffen hatte! Seine Natur hatte sie wie eine Blume entfaltet und trug Blüten von flammendem Scharlach. Die Seele war aus ihrem Versteck gekrochen, und die Wollust war ihr auf ihrem Wege begegnet.

      »Und was hast du nun vor?«, fragte Lord Henry schließlich.

      »Ich habe den Wunsch, dass du und Basil mich eines Abends begleitet und sie spielen seht. Ich fürchte mich nicht im Geringsten davor. Ihr müsst sicher ihr Genie erkennen. Dann müssen wir sie den Händen des Juden entreißen. Sie ist für drei Jahre an ihn gebunden – wenigstens für zwei Jahre und acht Monate, von heute an gerechnet. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn all das erledigt ist, suche ich mir ein Theater im Westend und werde sie da erst richtig zum ersten Mal auftreten lassen. Sie wird die Welt so toll machen wie mich.«

      »Das wird wohl unmöglich sein, lieber Junge.«

      »Doch, das wird sie. Sie hat nicht nur Kunst, vollendeten Kunstinstinkt in sich, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du hast mir oft gesagt, dass die Persönlichkeiten, nicht die Prinzipien die Welt regieren.«

      »Nun schön, an welchem Abend wollen wir hingehn?«

      »Warte mal. Heute ist Dienstag. Setzen wir morgen fest. Morgen spielt sie die Julia.«

      »Schön! Morgen um acht Uhr im Bristol. Ich werde Basil bestellen.«

      »Bitte, Harry, nicht acht Uhr. Halb sieben Uhr. Wir müssen da sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du musst sie im ersten Akt sehen, wenn sie Romeo begegnet.«

      »Halb sieben Uhr! Was das für eine Stunde ist! Das ist gerade so, als gäbe man ein Philisterabendbrot oder läse einen englischen Roman. Vor sieben Uhr geht es nicht. Kein Gentleman isst vor sieben. Siehst du Basil in der Zwischenzeit? Oder soll ich ihm schreiben?«

      »Der liebe Basil! Ich habe mich seit einer Woche nicht bei ihm sehen lassen. Das ist recht hässlich von mir, denn er hat mir mein Bild in einem überaus herrlichen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl ich ein bisschen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen ganzen Monat jünger ist als ich, muss ich zugeben, dass ich glücklich darüber bin. Vielleicht ist es besser, du schreibst ihm. Ich mag ihn nicht allein sehn. Er sagt Dinge, die mich ärgern. Er gibt mir gute Ratschläge.«

      Lord Henry lächelte. »Die Menschen lieben es sehr, wegzugeben, was sie selbst am nötigsten hätten. Das nenne ich den Gipfel der Großherzigkeit.«

      »Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir ein ganz klein bisschen Philister zu sein. Seit ich dich kennengelernt habe, bin ich dahinter gekommen.«

      »Basil, lieber Junge, legt alle Grazie, die er hat, in sein Werk hinein. Daraus ergibt sich, dass ihm fürs Leben nichts übrig geblieben ist als seine Vorurteile, seine Prinzipien und sein gesunder Menschenverstand. Die einzigen persönlich anziehenden Künstler, die ich je kennengelernt habe, waren schlechte Künstler. Gute Künstler existieren lediglich in ihren Werken und sind darum im Leben völlig uninteressant. Ein großer Dichter, ein wahrhaft großer Poet ist das unpoetischste aller Menschenkinder. Aber Dichter untergeordneter Art sind ganz bezaubernd. Je schlechter ihre Reime sind, umso malerischer sehn sie aus. Schon die Tatsache, eine mittelmäßige Sonettensammlung herausgegeben zu haben, macht einen Mann ganz unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die er nicht schreiben kann. Die andern schreiben die Poesie, die sie nicht zu verwirklichen wagen.«

      »Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray, der von einer großen Flasche, die auf dem Tische stand, inzwischen den goldenen Knopf gehoben und sich das Taschentuch mit Parfüm besprengt hatte. »Es muss wohl so sein, wenn du es sagst. Und jetzt gehe ich. Imogen wartet auf mich. Vergiss nicht morgen! Adieu!«

      Als er das Zimmer verlassen hatte, schlossen sich die schweren Augenlider Lord Henrys, und er fing an nachzudenken. Gewiss hatten ihn wenig Menschen je so interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte die wilde Leidenschaft des Jünglings für eine andre Person ihm nicht den leichtesten Schmerz oder Arger oder Eifersucht. Die Sache gefiel ihm. Der junge Mann wurde dadurch noch interessanter. Er war immer für die Methoden der Naturwissenschaft eingenommen gewesen, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich und unbedeutend vorgekommen. Und so hatte er damit angefangen, sich selbst zu vivisezieren, und war schließlich dazu gekommen, andre zu vivisezieren. Das Menschenleben – das schien ihm das einzige Ding, das zu erforschen sich verlohnte. Im Vergleich zu ihm war alles andre unbedeutend. Allerdings, wenn man das Leben in dem seltsamen Tiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über seinem Gesicht tragen und konnte sich vor den Schwefeldämpfen nicht wahren, die einem das Hirn verwirrten und die Fantasie mit wilden Ausgeburten und verzerrten Träumen in Aufruhr brachten. Es gab so feine Gifte, dass, wer ihre Eigenschaften kennenlernen wollte, selbst von ihnen krank werden musste. Es gab so seltsame Krankheiten, dass man sie durchmachen musste, um ihr Wesen zu verstehn. Aber was empfing man auch für einen Lohn! Wie wundervoll verwandelte sich einem die ganze Welt! Die seltsame strenge Logik der Leidenschaft und das farbige Empfindungs- und Triebleben des Geistes aufzuzeichnen – zu beobachten, wo sie zusammenkamen und wo sie auseinandergingen, an welchem Punkte sie in Eintracht waren und wo sie sich befehdeten –, das war ein Genuss! Was tats, was er einen kostete? Für ein Sinnenerlebnis konnte man nie zu hohen Preis zahlen.

      Er war sich bewusst – und der Gedanke ließ seine braunen Achataugen freudig aufglänzen –, dass es durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, dahin gekommen war, dass die Seele Dorian Grays sich diesem weißen Mädchen zugewandt hatte und sich in Verehrung vor ihr beugte. In weitem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit reif gemacht. Das war etwas. Gewöhnliche Menschen warteten, bis das Leben ihnen sein Geheimnis enthüllte, aber den wenigen, den Erlesenen wurden die Mysterien des Lebens enthüllt, ehe der Schleier weggezogen war. Manchmal war das die Wirkung der Kunst, und hauptsächlich der Kunstgattung der Literatur, die unmittelbar die Leiden schafft und den Geist behandelt. Aber hie und da trat dafür eine komplizierte Persönlichkeit ein und übte das Amt der Kunst, war fürwahr in ihrer Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben hatte seine vollendeten Meisterwerke, gerade wie die Dichtung oder die Plastik oder die Malerei sie hat. Jawohl, der Jüngling war vor der Zeit reif. Er sammelte seine Ernte, während noch Frühling war. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend waren in ihm, und er fing an, bewusst zu werden. Es war ein Entzücken,

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