Скачать книгу

Theorien gesprochen, die von Menschen wie Sigmund Freud oder Alfred Adler erfunden und von anderen ausdifferenziert und weiterentwickelt wurden. So vertrat Adler die These, dass ein Gefühl der Minderwertigkeit das Handeln motiviert. Die Minderwertigkeit Einzelner gegenüber anderen Einzelnen ebenso wie das Gefühl der Minderwertigkeit von Gruppen oder Völkern gegenüber anderen Gruppen oder Völkern.

      „Das stärkste Minderwertigkeitsgefühl empfindet das Individuum aber gegenüber dem Kosmos selbst“, so erläuterte mir der Mönch einmal. „Adler sah darin den Ursprung der Religion.“

      „Wie können Sie so etwas sagen, wo Sie doch selbst ein Mann des – wenn auch in wesentlichen Punkten falschen – Glaubens sind“, fuhr ich ihn damals an und machte dabei so viele unbeabsichtigte Nebengeräusche, dass er wahrscheinlich große Mühe hatte, mich zu verstehen.

      Allerdings haben die Olvanorer-Mönche in dieser Hinsicht ein besonderes Talent, so dass mir die Peinlichkeit erspart blieb, meine Worte zu wiederholen und neu zu ordnen.

      „Adler war gewiss ein Atheist“, sagte Bruder Guillermo. „Aber das würde mich niemals davon abhalten, daran die Wahrheit oder Unwahrheit seiner Theorien zu bemessen.“ Er lächelte damals. Die Menschen verstehen darunter eine bestimmte Bewegung der Muskulatur um ihre Ess- und Sprechöffnung. Diese Zuckungen werden für non-verbale Äußerungen benutzt, die ich mich die ganze Zeit, da ich unter Menschen gelebt habe, immer bemühte, richtig zu verstehen. Es gelang mir nicht immer, aber im Laufe der Zeit immer besser. So erkannte ich unter anderem irgendwann, dass ein Lächeln nicht nur dazu benutzt wird, eine freundliche Stimmung gegenüber dem Gesprächspartner auszudrücken, sondern auch dazu, eine unfreundliche Haltung zu verbergen. Doch ich will an dieser Stelle niemanden mit den Feinheiten dessen langweilen, was die Menschen Mimik nennen und was letztlich nichts anderes als ein Konvolut von non-verbalen Sub-Botschaften darstellt, die das Gesagte relativieren oder seine Bedeutung ins Gegenteil verkehren können. Das ein solches Volk in seiner eigenen Geschichte auf zahlreiche folgenschwere diplomatische Fehler und Missverständnisse zurückblickt, dürfte auf der Hand liegen und ich habe immer wieder versucht, darauf hinzuwirken, dass bei diplomatischen Kontakten auf die schriftliche Form Wert gelegt wird. Denn dabei entfällt dieser verwirrende und teilweise widersprechende Informationsanteil.

      Andererseits – wenn man darin wirklich zu lesen versteht, kann man die geheimen und wahren Absichten des Gesprächspartners in einer Weise erkennen, wie es keinem Qriid möglich wäre. Die Olvanorer sind wahrscheinlich die vollkommensten Meister im Lesen dieser Sub-Botschaften. Sie sind sogar so gut darin, dass viele Menschen von ihnen den Eindruck haben, sie könnten Gedanken lesen.

      Das können sie nicht, wie mir mein olvanorischer Gesprächspartner stets versicherte.

      Sie können Gedanken und Emotionen stattdessen im Gesicht des Gegenübers sehen.

      Nur die Tatsache, dass ein schnabelbewehrtes Qriid-Gesicht zwar von unvergleichlicher Schönheit sein kann – aber doch in der Regel recht starr ist, verhalf mir dazu, mich mit Bruder Guillermo unbefangen unterhalten zu können.

      4

      Was nun meinen Onkel Feran-San betrifft, so glaube ich heute, dass er fast ein Paradebeispiel ist für die Theorie vom Minderwertigkeitsgefühl.

      Denn Feran-San fühlte sich minderwertig.

      Sein Eivater hatte meinem Vater den Namen weitervererbt und ihn Nirat-Son genannt und ich hatte die Ehre diesen Namen weiter zu tragen. Diese Entscheidung traf sein Eivater – mein Eigroßvater – bevor das Gelege geschlüpft war.

      Mit einem Scanner war bereits festgestellt worden, welchen der Eier des Geleges männliche oder weibliche Küken entschlüpfen würden. Das vor dem Schlüpfen zu bestimmen war in jener Zeit in den Familien verdienter Kriege üblich gewesen. Später kamen unter den Tugendwächtern theologische Bedenken auf, die schließlich auch die Priesterschaft erfassten. Ich halte es aber auch für möglich, dass sich die Priesterschaft lediglich dieser populären Bewegung unter den Tugendwächtern bediente, um ihren eigenen Einfluss zu stärken.

      Vor Gott sind alle Qriid gleich, so heißt es in den Schriften des Ersten Aarriid. Das dies nur ein Ideal sein kann, dem man nachfolgt, liegt auf der Krallenhand. Denn schon Gott hat die Begabungen unter den Seinen nicht gleichmäßig verteilt, so wie er auch nicht jedes Volk gleichermaßen für würdig gefunden hatte, zur Errichtung seiner Ordnung beizutragen. Aber wer immer eine zu große Ungleichheit anprangert, wird damit im Volk Gehör finden, denn die Überzeugung, dass die Unterschiede in sozialer Hinsicht nicht allzu groß sein sollten, ist in unserem Volk weit verbreitet. Übrigens liegt darin auch ein erheblicher Unterschied zu dem, was ich unter den Menschen erlebte. Sie nehmen Unterschiede in Status und Besitz hin, die Qriid nicht akzeptieren würden.

      5

      Wie auch immer, Feran-San hatte offenbar den Makel ausgleichen müssen, dass nicht er den Namen seines Eivaters geerbt hatte, sondern sein Bruder – mein Vater. Daher war er stets bestrebt, meinen Eivater in allem zu übertreffen, was nicht ganz leicht war. Mein Vater war ebenso wie mein Großvater erfolgreicher Raumschiffkommandant in den Diensten der Tanjaj. Beide kommandierten Schiffe, die an wichtigen Operationen teilnahmen. Feran-San musste dies übertreffen. Und er wollte meinem Eivater das Gefühl geben, dass auch ich ihn übertraf. Ein Seraif, der stärker im Glauben und höher in Gottes Ansehen wäre, als ein gewöhnlicher Tanjaj.

      Ich weiß nicht, weshalb ich dem Drängen meines Onkels schließlich nachgab.

      Vielleicht wurde ich aus demselben Grund Seraif wie er: Weil ich einem anderen, der denselben Namen trug wie ich und mein Eivater war, etwas beweisen musste.

      Es ist erschreckend zu sehen, dass die menschlichen Denker, die etwas über das Minderwertigkeitsgefühl schrieben, ebenso gut Qriid wie Menschen gemeint haben könnten. Und das in einer Zeit, in der das Menschenvolk seinen Planeten noch nicht einmal verlassen hatten und seine Mathematik gerade weit genug war, um so simple Dinge wie die Relativitätstheorie zu erfassen.

      6

      „Ich freue mich, dass du jetzt dein eigenes Kommando bekommst“, sagte mein Eivater. „Dazu kann man dich nur beglückwünschen.“

      „Danke“, sagte ich.

      Die grauen Augen von Nirat-Son dem Älteren ruhten auf mir. Und seine Schnabelhälften erzeugten ein schabendes Geräusch.

      „Wirst du mit mir zusammen die Reinigungszeremonie im Tempel durchführen?“, fragte ich.

      „Natürlich.“ Ich spürte gleich, dass er mir noch etwas sagen wollte. Er zögerte und ich ahnte bereits, worauf es hinauslief. Schließlich sagte er: „Mein Eibruder könnte dir einen Posten bei den Seraif verschaffen.“

      „Feran-San meint es sehr gut mit mir.“

      „Ja, du kannst froh sein, dass du mit ihm verwandt bist.“

      Ironie ist uns Qriid fremd. Ich lernte sie erst in meiner Zeit bei den Menschen wirklich kennen und es fiel mir schwer zu begreifen, weshalb es einer gelungenen Kommunikation dienen kann, etwas zu sagen und das Gegenteil zu meinen. All meinen menschlichen Lesern, die die diese Zeilen eines Tages aus dem Datennetz abrufen, kann ich also versichern, dass die Bemerkung meines Eivaters ganz sicher nicht ironisch gemeint war.

      „Du hast nicht die Fähigkeiten, die man braucht, um den Seraif anzugehören“, sagte er.

      Es war eine sachliche Feststellung, aber sie traf mich wie der Hieb mit einer Kampfklaue.

      „Nicht einmal Feran-San würde mir das anbieten, wenn er der Meinung wäre, dass ich es nicht schaffen könnte.“

      „Dann ist seine Einschätzung schlicht und ergreifend falsch. Du solltest zunächst Erfahrungen im regulären Flottendienst sammeln. Ein Tanjaj-Kommandant, so wie ich einer bin und dein Großvater…“

      7

      Menschen sind es gewohnt, Entscheidungen

Скачать книгу