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sich nicht vorstellen, dass die Wirtin dieses Hauses tatsächlich mit Johann Leitner verheiratet war. Im Moment saßen keine Gäste an den Tischen, aber wer hatte schon an einem Freitagnachmittag Zeit für ein gemütliches Bier im Gasthaus? Cornelius trat an den blitzblanken Tresen und schlug auf die dort abgestellte Klingel. Wenig später hörte er eilige Schritte und eine Tür, die die Aufschrift »privat« trug, wurde schwungvoll geöffnet.

      Eine attraktive Frau Ende vierzig kam ihm entgegen. Sie trug ein imposantes Dirndlkleid und streckte lächelnd ihre Hand aus. »Grüß Gott. Sie sind bestimmt Professor Cornelius. Mein Mann hat mir schon gesagt, dass er Sie auf dem Weg hierher getroffen hat. Ich bin Anna Leitner.«

      »Ja, das stimmt. Gregor Cornelius. Grüß Gott«, entgegnete er in der Hoffnung, nicht immer und überall mit seinem Titel angesprochen zu werden. Doch diese wurde sogleich zunichte gemacht.

      »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, Herr Professor? Die Fahrt war doch bestimmt anstrengend.« Anna Leitner sah ihn prüfend an.

      Wenn er ehrlich war, war die Fahrt nicht halb so anstrengend gewesen wie die erste halbe Stunde, die er zu Fuß in Neukirchen verbracht hatte, aber das musste er ihr ja nicht sagen. Cornelius dachte kurz daran, dass er ab sofort alleine für seine Verpflegung zuständig war und jede Menge unbekannte Geräte in einer noch unbekannteren Küche auf ihn warteten. »Kaffee und Kuchen wären wunderbar«, sagte er deshalb.

      »Hier ist der Schlüssel. Und wenn Sie irgendetwas brauchen sollten, Herr Professor, dann sagen Sie einfach Bescheid. Carola Schäfer, meine Schwester, kommt zweimal in der Woche zum Putzen vorbei.« Anna Leitner reichte ihm einen Schlüsselbund und nickte ihm aufmunternd zu.

      Das Tablett mit der Kaffeetasse und einem überdimensionalen Stück Schwarzwälder Kirschtorte wurde von einer hübschen, aber sehr schüchternen jungen Frau serviert, die ihm von Anna Leitner als Amelie Hartmann vorgestellt wurde.

      »Hartmann? Sind Sie etwa die Tochter von Wolfgang Hartmann?«, fragte er mit einem aufmunternden Lächeln. Sie nickte zaghaft, und Cornelius erzählte den beiden Frauen von seiner nachmittäglichen Begegnung. Amelies ohnehin schon verschlossenes Gesicht verdüsterte sich bei der Erwähnung von Sascha Eichingers Namen noch mehr, und auch Anna Leitner sah plötzlich verlegen zwischen Amelie und ihm hin und her.

      »Ich geh dann mal wieder in die Küche, Anna. Auf Wiedersehen, Herr Cornelius«, sagte Amelie am Ende seiner Ausführungen, und ehe Anna noch etwas erwidern konnte, war sie auch schon verschwunden.

      Erstaunt blickte Cornelius dem Mädchen hinterher. »Was hat sie denn auf einmal? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

      »Nein, nein«, wiegelte Anna Leitner schnell ab und wischte mit einem Geschirrtuch den ohnehin schon blitzblanken Tresen ab. »Es ist nur … also der Hartmann und der Sascha Eichinger, die …« Doch leider sollte er nicht mehr erfahren, was genau zwischen den Hartmanns und Sascha Eichinger eigentlich los war, denn in diesem Augenblick wurde die Tür zum Gasthaus geöffnet und ein Mädchen und ein Junge, beide kaum älter als fünf Jahre, stürmten herein, dicht gefolgt von einem jungen Mann.

      »Der Daniel hat mit uns ganz lustige Sachen gemacht«, plapperte der Junge sofort munter drauflos.

      »Kriegen wir ein Eis, Tante Anna?«, fragte das Mädchen und musterte dann Cornelius von oben bis unten. »Wer bist denn du?« Sie hatte ihre Stirn dabei in Falten gelegt. Offensichtlich passierte es in Neukirchen nicht jeden Tag, dass ein Ortsfremder im Gasthaus saß.

      Die zwei waren ihm auf Anhieb sympathisch. Er beugte sich zu den Kindern hinab. »Ich bin der Gregor und ich passe die nächste Zeit auf das Haus von Lukas und Sandra Albrecht auf. Und wer seid ihr?«

      »Ich bin der Tobias«, sagte der Junge sofort und gab ihm artig eine kleine klebrige Hand.

      »Und ich die Sophie«, kam es postwendend und eine noch kleinere Hand, die zweifellos vor einigen Minuten noch im Sand gespielt hatte, wurde ihm entgegengestreckt.

      »Jetzt lasst mal den armen Professor Cornelius in Ruhe, ihr zwei Quälgeister. Geht euch die Hände waschen und danach gibt es – vielleicht – ein Eis«, ermahnte Anna Leitner die beiden, die daraufhin eilig durch die Tür verschwanden, durch die Amelie Hartmann vor wenigen Minuten noch regelrecht geflohen war.

      »Entschuldigen Sie, Herr Professor. Das sind die Kinder meiner Schwester. Sie ist gerade mit meinem Schwager beim Arzt, weil ihm heute endlich der Gips abgenommen wird.« Sie wandte sich an den jungen Mann: »Danke Daniel, dass du für mich eingesprungen bist. Ausgerechnet am Freitag ist es immer so hektisch bei uns, weil ich auf den Großmarkt fahren muss. Und dem Johann kann ich die beiden doch nicht anvertrauen.« Anna seufzte bei den letzten Worten laut auf.

      »Geh, Anna, das ist doch kein Problem. Wir haben hinter unserem Haus noch den großen Sandkasten, da haben wir eine Formel-Eins-Strecke gebaut und das Rennauto vom Tobias fahren lassen.« An den strahlenden Augen des jungen Manns erkannte Cornelius, dass ihm das Sandspielen mindestens genauso viel Spaß gemacht hatte wie den beiden Kindern.

      »Ich bin übrigens Daniel Eichinger«, sagte er zu Cornelius. »Die Hand geb ich Ihnen dann, wenn sie nicht ganz so schmutzig ist.«

      Während Cornelius sich ebenfalls vorstellte, musterte er sein Gegenüber verstohlen. Auf den ersten Blick hätte man nicht vermutet, dass der junge Mann mit den schmalen Schultern, der Nickelbrille und dem hellen Teint der Bruder von Sascha Eichinger war. Cornelius erzählte rasch, dass er Sascha bereits kenne und von ihm zum morgigen Fußballspiel eingeladen worden sei.

      »Spielen Sie auch?«, fragte er.

      Daniel Eichinger winkte lachend ab. »Nein, nein. Das überlass ich lieber meinem Bruder. Der spielt richtig gut.«

      Irgendwie hatte Cornelius keine andere Antwort erwartet.

      »Sie müssen unbedingt kommen. Das ganze Dorf ist dabei, wenn es gegen Ebersbach geht«, schaltete sich Anna Leitner ein. »Das ist nämlich das Nachbardorf und die haben letzten Herbst eine ganz schöne Schlappe gegen uns einstecken müssen«, sagte sie nicht ohne Stolz.

      »Nur wegen dem Sascha haben die verloren. Der hat die nämlich fast im Alleingang abgeschossen«, tönte es in diesem Augenblick hinter Annas Rücken. Johann Leitner hatte polternd die Gaststube betreten. »Vier zu null und drei Tore vom Sascha«, rief er fast schon triumphierend. »Aber den besten Treffer hat er dann nach Spielschluss gelandet«, fügte er mit einem süffisanten Grinsen hinzu.

      »Johann, das interessiert den Herrn Professor nun wirklich nicht«, kam es sofort vorwurfsvoll von seiner Frau.

      Cornelius bemühte sich, ein teilnahmsloses Gesicht zu machen und nicht zu neugierig zu wirken.

      »Warum denn nicht? Das weiß doch mittlerweile ohnehin jeder«, erwiderte Johann Leitner herausfordernd. Und ehe Daniel oder seine Frau etwas sagen konnten, redete er auch schon weiter. »Da hat sich der Sascha nämlich die Freundin vom Michael Graf, dem Kapitän der Ebersbacher, geschnappt. Eine richtige Schlägerei hat es gegeben, weil der Michi die beiden in flagranti erwischt hat.«

      Vergnügt blickte Johann Leitner von einem zum anderen. Wahrscheinlich hatte er selbst bei dieser Prügelei munter mitgemischt. Ein Blick in Anna Leitners Gesicht genügte, um Cornelius dies zu bestätigen. Verlegen rührte er in seiner Kaffeetasse. Sekundenlang sagte niemand etwas.

      »Ja, Johann, das weiß in der Tat mittlerweile wirklich jeder«, erwiderte Daniel. Er wandte sich rasch ab und verließ den Raum.

      Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, blickte Anna ihren Mann vorwurfsvoll und wütend zugleich an.

      »Was musst du denn dem Daniel immer diese alten Geschichten unter die Nase reiben? Meinst du, das geht dem nicht auf die Nerven? Und überhaupt ist das mit der Tanja doch schon längst vorbei.«

      »Für den Sascha vielleicht schon. Aber der Michi hat das bestimmt noch nicht vergessen. Da spritzt noch mal das Blut zwischen den beiden, das sag ich euch«, frohlockte ihr Mann.

      Cornelius wusste, dass Ramona spätestens jetzt entschieden ihr Veto gegen einen Besuch des morgigen Fußballspiels eingelegt

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