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stellt drei Bereiche als richtungsweisend für die Menschenkenntnis auf: Ehe, Beruf und Freundschaft. Nach dem, was ich in vorhergehenden Abschnitten schon ausgeführt habe, muß ich nur wiederholen, daß diese Rahmengebung auf dem großen Irrtum beruht, der heute noch in der Wissenschaft so hemmend wirkt, nämlich die Ansicht oder der Glaube, der Mensch sei nur einmal im materiellen Bereich und habe daher alle Voraussetzungen zur Erfüllung des Idealbildes eines Menschen, wie es eben die materielle Lebensauffassung verlangt, anzustreben.

      Wie oft mag es nun bei genauester Betrachtung gelungen sein, ein solches Idealbild zu finden. Vielleicht öfter als wir zugeben werden, aber wir haben oft daneben gegriffen.

      Es ist für uns nicht leicht, ein richtiges, objektives Urteil über einen Menschen zu finden. Der Wert oder Unwert des Charakters ist von so vielen Komponenten abhängig. Bedenken wir doch, wie viele Menschen nur deshalb gut erscheinen, weil sie einfach nicht in die Gelegenheit kommen, ihre vielleicht bösen Charakterzüge zur Geltung zu bringen. Wie oft erleben wir, daß Menschen, die in ihrer Kindheit behütet waren auf Schritt und Tritt und die von allen vermutlich schlechten Einflüssen ferngehalten wurden, in ihrem späteren Leben, wenn jeder Schutz wegfällt und sie plötzlich mit dem Ernst des Lebens konfrontiert sind, restlos versagen, allen ihren niederen Instinkten und Trieben freien Lauf lassen und nicht im geringsten den Wunsch haben, zu einem geordneten Lebenswandel zurückzukehren.

      Solange also der Mensch unter fremdem Einfluß steht oder die Schranken, die ihm das Milieu auferlegte, noch nicht durchbrochen hat, so lange wird es schwer sein, die in ihm schlummernden Charaktereigenschaften zu ergründen. Es ist natürlich richtig, daß die Individualpsychologie ihre Untersuchungen auf die Bereiche des menschlichen Lebens abstellt, die in der menschlichen Gesellschaftsordnung die größte Rolle spielen oder eben aus der menschlichen Gemeinschaft in ihrem Zusammenwirken nicht wegzudenken sind.

      Die Ehe ist die notwendige Verbindung zur Erhaltung der irdischen Menschheit, zu ihrer Fortpflanzung oder Vermehrung. Das ist nicht zu leugnen und in bezug auf die Forderungen der Zivilisation sicher in ihrer gesetzmäßigen Regelung anzuerkennen. Warum soll aber ein Mensch, der nicht den Bund der Ehe eingeht und an der Fortpflanzung und Erhaltung der Menschheit in diesem Leben gerade keinen Anteil hat, weniger wert sein als der, der zwar der Forderung nach der Ehe gerecht wird, der Menschheit damit aber trotzdem keinen großen Dienst erweist. Ich habe ja schon dargelegt, daß das Idealbild eines Menschen nicht in seinem augenblicklichen Dasein gefordert und erreicht werden kann und daß ein solches im irdischen Sinn überhaupt nicht aufgestellt werden kann.

      Wenn wir aber davon ausgehen wollen, daß die Menschheit eines Tages eine so große Reife erreicht haben wird, daß alles Böse und Häßliche verschwindet, dann können wir von einem Bild sprechen, das einem Idealbild im irdischen Sinn gleichkommt. Die heute aufgestellten Forderungen zielen in der Hauptsache auf materiellen Erfolg, und der Mensch weiß noch nicht, wie das wahre Ziel seiner verschiedenen Leben aussieht. Nun ist es aber notwendig, die Grenzen kennen und feststellen zu lernen, die jedem einzelnen gezogen sind für sein Erdenleben, und das Gebiet zu erkennen, auf dem er seinen Fortschritt suchen muß.

      Menschenkenntnis ist alles andere als die Untersuchung, ob ein Mensch den allgemeinen Forderungen der Zivilisation und des Gemeinschaftslebens entspricht. Wenn er nicht geneigt oder gewillt ist, zum Beispiel den Bund der Ehe einzugehen, so mag es oft für die Menschheit ein Vorteil, ja manchmal sogar ein Segen sein. Ihn aber dazu erziehen zu wollen, ist ganz verkehrt. Gerade auf diesem Gebiet ist die Einmischung Außenstehender sicher nicht gut und erforderlich, denn es ist kein Schaden und kein Mangel und tut der Persönlichkeit keinen Abbruch, wenn die irdische Ehe nicht zustande gebracht wird. In dieser Hinsicht ist Zwang ein großer Fehler.

      Die Mütter müssen erkennen lernen, daß nicht jede Frau bestimmt und auserkoren ist, Kinder zu gebären oder nur einem Manne zu dienen. Das Leben bietet so viele Möglichkeiten, mütterliche Fähigkeiten zu entfalten. Es sind oft gerade unverheiratete Frauen, die eine Begabung in dieser Richtung an den Tag legen, die manche Mutter glücklich wäre, zu besitzen.

      Erzeugt deshalb in den Menschen nicht durch unrichtige Auffassung ein Gefühl der Minderwertigkeit dadurch, daß ihr die Mutter über die allein gebliebene Frau stellt. Sucht lieber danach zu ergründen, worin ihre Aufgabe für dieses Leben in der materiellen Welt besteht und ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie hindern, Pflichten zu erfüllen, die sie auf sich genommen hat.

      Es muß also ein Weg gefunden werden, den Lebensweg jedes Menschen zu erkennen die gegebenen Fähigkeiten, die bereits vorhandene geistige Reife. Dann wird man erkennen, welche Hindernisse der freien Entfaltung im Wege stehen inwieweit noch eine höhere Reife des Geistes erforderlich ist, um bestehen zu können, oder wie das Milieu beeinflußt oder erst geschaffen werden muß, das die äußere Grundlage dafür bieten soll.

      Ein Mensch, mit einem Beruf, der ihm von seiner Umgebung aufgezwungen wurde, der seinen mitgebrachten Fähigkeiten völlig oder weitgehend widerspricht, wird so lange unbefriedigt und unglücklich sein, bis man ihm aus der Sackgasse heraushilft oder er eine seiner wahren Berufung entsprechende Nebenbeschäftigung gefunden hat.

      Vielfach fehlt es den Menschen an Mut, den einmal eingeschlagenen Weg aufzugeben und sich gegen den Willen seiner Umgebung abzuwenden. Da muß die ärztliche oder seelsorgerische Tätigkeit einsetzen. Nicht blinder Gehorsam ist es, der verlangt werden darf, sondern mutiges Beschreiten des selbst gewählten Lebensweges. Kein Mensch darf für sich das Recht in Anspruch nehmen, für einen anderen Wegbereiter zu sein, oder besser gesagt, das Recht, einem anderen einen Lebensweg vorzuschreiben oder zu wählen, ohne ihn genau erforscht zu haben. Das aber kann kein irdischer Mensch. Man darf den von einem Menschen gewählten Weg bereiten helfen und, wie gesagt, behilflich sein, Hindernisse zu beseitigen, welcher Art immer sie auch sein mögen. Aber Zwang gegen den freien Willen eines Menschen ausüben darf man in so wichtigen und für den Fortschritt bedeutenden Dingen niemals. Auch dann nicht, wenn nach Ansicht „Gescheiterer“ der Weg verfehlt ist oder keinen materiellen Nutzen bringt.

      Das sind die Grundgedanken zur Menschenkenntnis, die nicht nur eine theoretische Phrase und ein bloßes Erkennen sein sollen, sondern praktische Hilfe auf dem Weg nach oben, eine Mithilfe zur Meisterung aller menschlichen Probleme.

      Es ist jedermanns eigene Sache, welchen Weg er einschlagen will, die Sache der Mitmenschen, vor allem der Ärzte und Seelsorger ist es, materielle Hindernisse zu erkennen und zu entfernen. Welche Hindernisse es sind, werden wir im Einzelnen besprechen und erkennen, daß die Auffindung derselben eben praktische Menschenkenntnis bedeutet.

      Und damit sind wir an dem Punkt angelangt, von dem ausgegangen werden muß, will man ein geeignetes Schema erstellen, das gewissermaßen der Rahmen für die Praxis sein soll.

      Wie gesagt, ist die Menschheit in bezug auf eine richtige, gesunde Lebensauffassung noch sehr in den Kinderschuhen, und sie wird so lange nicht darüber hinauswachsen, als sie über den begrenzten Horizont der materiellen Welt nicht hinausblicken will oder darf. Nicht wollen deshalb, weil die materiellen Genüsse davon abhalten und die Befürchtung naheliegt, daß man darauf verzichten müsste. Nicht dürfen deshalb, weil es die Kirche verbietet und nur in den seltensten Fällen der richtige Weg gefunden wird.

      Man kann sich leicht vorstellen, wie groß die Schwierigkeiten sind, die daraus entstehen, daß entgegen allen Erwartungen und logischen, aber materiellen Schlußfolgerungen ein Kind andere Eigenschaften und Fähigkeiten zeigt, als in der ganzen Umgebung festgestellt werden können. Ist es ein über seine Umgebung hinausragender Geist, so kann die größte Verwirrung daraus entstehen, weil man einfach keine Begründung dafür finden kann, oder aber die bitterste Enttäuschung, weil trotz aller Bemühungen keine Anpassung an die Umgebung erzielt wird.

      Grundsätzlich muß also davon eben ausgegangen werden, daß es im Geistigen keine Vererbung gibt, sondern nur einen Einfluß von außen, vom Milieu, den Eltern, dem Beruf, den Freunden und so weiter. Diese Einflüsse sind es, die man betrachten und erkennen muß, wobei es auf die Kraft der Seele ankommt, die den Einflüssen ausgesetzt ist und damit auf die Kraft, sie abzuweisen oder aufzunehmen und sich zu eigen zu machen.

      Man mag daraus schon die Schwierigkeiten erkennen, die sich dem forschenden Psychologen entgegenstellen. Wie

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