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Ordnung gewesen.

      Nun ja, vielleicht hatte sie sich im Haushalt verletzt, oder sie war auch von der Grippe betroffen, die überall grassierte.

      Roberta rief Inge in ihr Zimmer. Sie mochte die Auerbachs sehr, sie und die von Roths waren ihre ersten Patienten gewesen.

      Das herzliche Verhältnis zwischen ihr und Inge war jetzt allerdings ein wenig getrübt, seit sie die Jüngste nachts aufgegriffen hatte, die von zu Hause weggelaufen war, weil sie zufällig durch Fremde erfahren hatte, dass sie keine richtige Auerbach war, sondern dass man sie adoptiert hatte. Eine schreckliche Geschichte. Und Roberta konnte eigentlich nur froh sein, dass Pamela mit zu ihr gekommen war. Mit den Auerbachs wollte sie nichts mehr zu tun haben. Die arme Kleine war so traumatisiert, dass sie alle emotionalen Bindungen zu ihrer Familie gekappt hatte. Bis auf die zu Hannes, ihrem Bruder, mit dem sie mehr oder weniger im Sonnenwinkel aufgewachsen war.

      »Hallo, Frau Auerbach«, begrüßte Roberta ihre Patientin, die müde und blass aussah, »was führt Sie zu mir?«

      Inge nahm den ihr angebotenen Platz ein, dann sagte sie nicht sofort etwas. Erst als Roberta sie ermunterte, kam ein müdes: »Frau Doktor, ich kann einfach nicht mehr. Ich bemühe mich sehr, und einiges ist ja auch schon viel besser geworden, und mein Mann und ich versuchen, unseren Alltag wieder miteinander zu leben. Eine Zeit lang haben wir uns ja nur angegiftet und uns gegenseitig mit Schuldzuweisungen überhäuft. Aber nachts …, da fallen die Gedanken über mich her wie eine Horde wilder Tiere. Ich denke an Pamela, die nicht mehr Bambi genannt werden will, sehe sie irgendwo im fernen Australien bei Hannes. Mein Gott noch mal, Hannes ist doch selber noch ein Kind. Wie kann er sich richtig um ein Mädchen kümmern, dass den schlimmsten Schock seines Lebens erlitten hat? Hannes ist unser leibliches Kind, der weiß nicht, was Bambi, äh Pamela jetzt durchmacht, die von Fremden die traurige Nachricht erfahren musste, nur weil Werner und ich zu feige waren, ihr die Wahrheit zu sagen.«

      Inge Auerbach war noch weit davon entfernt, wirklich in ihren Alltag zurückzufinden. Das war Roberta jetzt klar. Und wenn sie tagsüber ihr altes Leben zu führen versuchte, dann war es mehr ein Funktionieren.

      »Frau Auerbach, natürlich ist es schlimm, so wie es geschehen ist. Und das wünscht man niemandem. Aber es ist geschehen, und jetzt kann man nur noch versuchen, das Beste daraus zu machen. Und wenn man so will, hätte alles sehr viel schlimmer kommen können. Pamela ist bei ihrem Bruder, zu dem sie Vertrauen hat, und unterschätzen Sie Ihren Hannes nicht. Es lässt sich nicht alles am Alter bemessen. Es gibt Menschen, die befinden sich bereits im Rentenalter und haben nichts gelernt. Hannes ist klug, intuitiv, und er ist sehr clever. Dieses Jahr durch die Welt zu reisen, hat ihn erfahren gemacht. Und er ist sofort gekommen, als er mitbekam, dass es hier bei Ihnen ganz gehörig brannte. Ich stehe ja mit Hannes und Pamela ebenfalls in Verbindung, wie Sie wissen. Und alles, was ich höre, klingt positiv. Sie geht dort zur Schule, hat Freundinnen, und ihre Schulleiterin Mrs Brewster kümmert sich sehr um sie.«

      Hatte Inge eigentlich zugehört?

      Sie saß zusammengesunken wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl. Irgendwann sagte sie: »Sie fehlt mir ja so sehr, meine Kleine und ich, wir waren ein Herz und eine Seele …, und nun …« Sie machte eine kurze Pause, ehe sie beinahe erloschen sagte: »Es ist alles aus, ich habe sie für immer verloren. Und was besonders schlimm ist, wir haben uns nicht im Frieden voneinander getrennt. Das kann niemals mehr etwas werden.«

      »Frau Auerbach, das sehe ich nicht so. Pam fühlt sich ja einigermaßen wohl in Australien, aber zwischen den Zeilen kann man schon lesen, dass sie den Sonnenwinkel vermisst. Auch ihre Familie. Geben Sie ihr Zeit, und noch eines – akzeptieren Sie, dass Ihre Tochter Pam oder Pamela genannt werden möchte, wie sie ja auch wirklich heißt. Bambi ist für kleine Rehe schön, aber auch die werden größer, und dann sind es keine Bambis mehr. Alles hat seine Zeit, halten Sie nicht an so etwas fest. Ich schreibe Ihnen jetzt ein pflanzliches Mittel auf, das Ihre inneren Spannungen löst, ein wenig Ihre Nervosität lindert und Sie vor allem schlafen lässt. Aber auch wenn es pflanzlich ist, lassen Sie es nicht zur Gewohnheit werden. Versuchen Sie, wieder eine optimistischere Lebenseinstellung zu gewinnen, was Ihre Tochter anbelangt. Pam geht es gut. Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Das müssen Sie sich sagen, denn rückgängig gemacht werden kann nichts. Denken Sie nicht so viel nach, und wenn es nicht hilft, dann rate ich Ihnen wirklich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hier in unserem Land haben wir Probleme damit und betrachten es als einen Makel, wenn wir einen Psychiater aufsuchen. Die Amerikaner sehen das ganz anders. Für die ist ein Besuch bei einem Psychiater so etwas wie der regelmäßige Zahnarztbesuch. Und da wird auch ganz offen darüber gesprochen. Ich kenne eine sehr gute Kollegin, die ich Ihnen dann empfehlen würde. Ansonsten tut Bewegung gut. Wir haben diesen wundervollen Sternsee vor der Tür. Den zu umrunden ist beinahe wie Meditation.«

      »Am See tut sich etwas«, sagte Inge, und Roberta wurde den Eindruck nicht los, dass sie ablenken wollte. »Alles vom ehemaligen Bootshaus wurde abgerissen, und das Haus, in dem Kay wohnte, wird renoviert. Es scheint so, als wolle da jemand einziehen, was man ja auch verstehen kann. Wer Ruhe und Natur liebt, kann besser nicht wohnen. Und es ist auch etwas Besonderes, dort leben zu dürfen. Die Genehmigung wurde vor vielen Jahren für dieses Haus erteilt, und niemand weiß mehr so genau, weswegen. Ansonsten darf man in diesem Naturschutzgebiet nicht einmal eine Mauer ohne Zustimmung der Gemeinde versetzen.«

      Roberta spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

      Das Haus am See …

      Mit wie vielen Erinnerungen war es verbunden, wundervollen, aber auch schmerzlichen.

      Sollte Kay es sich anders überlegt haben, und er würde zurückkehren?

      Nein! Diesen Gedanken verwarf Roberta so schnell, wie er ihr gekommen war.

      Käme Kay zurück, würde man nicht das Bootshaus abreißen. Er würde wieder hobbymäßig einen Bootsverleih betreiben.

      »Ist ja interessant«, sagte Roberta, weil sie glaubte, Inge erwarte einen Kommentar von ihr. »Da bin ich mal gespannt, wer dort seine Zelte aufschlagen wird.«

      Inge zuckte die Achseln.

      »Auf jeden Fall jemand, der wichtig zu sein scheint, sonst wäre es nicht genehmigt worden. Ich weiß, dass Leute aus dem Sonnenwinkel sich darum bemüht haben, und das ist abgelehnt worden.«

      Roberta stand auf.

      »Freu Auerbach, mir fällt gerade ein, dass ich Ihnen das Mittel nicht aufschreiben muss. Der Pharmavertreter hat mir ein paar Proben dagelassen, und eine davon möchte ich Ihnen gern geben. Bitte, nehmen Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Tablette ein, und kurz bevor die Packung aufgebraucht ist, sehen wir uns wieder. Aber bitte, noch einmal, verlassen Sie sich nicht auf die Tablette, die hat keine Zauberkraft.

      Sie soll Sie lediglich unterstützen, das meiste müssen Sie selbst tun, und wenn es Ihnen schwerfällt, wie gesagt, scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.«

      Inge blickte die Ärztin an.

      »Danke, Frau Doktor. Wissen Sie, was ich an Ihnen so großartig finde? Sie hören Ihren Patienten zu, und Sie greifen nicht sofort zum Rezeptblock, um gegen alle Wehwehchen etwas aufzuschreiben. Es gibt ja leider Kollegen von Ihnen, die ungeniert wie bunte Smarties alles gegen alles aufschreiben.«

      Inge stand auf, weil sie schließlich wusste, wie knapp bemessen die Zeit von Roberta war.

      »Ich werde mich bemühen, nicht mehr alles so schwarz zu sehen, und ich verspreche Ihnen, dass ich die Tabletten nur zur Unterstützung nehmen werde. Aber für mich ist es augenblicklich beruhigend, sie zu haben. Und pflanzliche Präparate sind ja nicht ganz so schlimm wie die chemischen Keulen, die man meistens bekommt.«

      »Arznei ist Arznei, liebe Frau Auerbach. Und wenn es unumgänglich ist, sollte man sie auch nehmen. Aber am besten ist, man kommt ohne aus.«

      Roberta reichte Inge die Hand.

      »Wir sehen uns, Frau Auerbach. Und Kopf hoch, Sie schaffen das, und Ihre jüngste Tochter, die schafft es auch. Sie hatte in all den Jahren ganz wunderbare Vorbilder. Pam ist stark, und das ist sie letztlich durch Sie geworden.«

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