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      Roberta würde ab jetzt alles auf sich zukommen lassen, es hinnehmen ohne zu jammern. Irgendeinen Sinn musste es doch haben, dass sie ausgerechnet im Sonnenwinkel gelandet war.

      Ja, so und nicht anders ­durfte sie es sehen, und sie durfte nicht zweifeln und hadern, weil sie sich zu schnell und zu unüberlegt auf das Abenteuer Sonnenwinkel eingelassen hatte.

      Niemand hatte sie gezwungen, die Praxis zu übernehmen. Sie hatte sich freiwillig dazu entschlossen. Und eine große Praxis in der Großstadt war nicht vergleichbar mit der eines Landarztes. Und das war sie jetzt, eine Landärztin. Und das hatte sie vorher gewusst und sich sogar auf dieses Abenteuer gefreut!

      Vermutlich war ihre Erwartungshaltung einfach nur zu groß gewesen und demzufolge natürlich jetzt auch ihre Enttäuschung, dass man sich nicht die Türklinke in die Hand gab, um sich von ihr behandeln zu lassen.

      Hier gingen die Uhren eben anders.

      Es war ja auch nicht alles enttäuschend. Sie hatte wundervolle Menschen kennengelernt, den Professor Auerbach und seine sympathische Ehefrau, und nicht zu vergessen, deren reizende Tochter Bambi. Und dann Inges Eltern, Magnus und Teres von Roth, das waren zwei ganz besondere Menschen.

      Wenn Roberta an die beiden dachte, dann wurde ihr ganz warm ums Herz. Die von Roths hatten so getan, als seien sie als Patienten zu ihr gekommen, damit sie den Tag nicht ohne einen einzigen Patienten hatte beenden müssen. Und ihre Tochter Inge hatte sie geschickt.

      Alles wirklich ganz warmherzige Menschen, die sich um andere Gedanken machten und helfen wollten.

      Es war diese Geste der Menschlichkeit, die Roberta zutiefst berührt hatte, und so etwas erlebte man an Orten, die überschaubar waren, wo jeder jeden kannte und jeder erfuhr, wenn jemand neu hinzukam.

      In der Großstadt war das anders. Da kannte man häufig noch nicht einmal seinen nächsten Nachbarn, und es hatte schon viele Fälle gegeben und gab sie immer wieder, dass Menschen wochenlang tot in ihrer Wohnung lagen, ohne dass es jemandem aufgefallen war.

      Außerdem hatte sie hier ja wirklich als Ärztin tätig werden können, auch wenn das außerhalb der Praxisräume geschehen war.

      Sie hatte so ganz nebenbei während eines Abendessens im Gasthof »Seeblick« einen Herzinfarkt erkannt und der Wirtin durch ihr beherztes, kompetentes Eingreifen das Leben gerettet.

      Und ohne sie wäre das kleine Kind im Sternsee ertrunken, weil die Mutter so sehr in ein Gespräch vertieft gewesen war, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass das Kind immer weiter zum Wasser gelaufen und schließlich hineingefallen war.

      Welch ein Glück, dass sie das mitbekommen hatte und eingreifen konnte. Sie hatte dem Kind das Leben gerettet.

      Und auf noch etwas konnte sie stolz sein. Sie hatte den mürrischen Wirt des Seeblicks als Patienten gewonnen. Er ließ sich jetzt wegen seines extrem hohen Blutdrucks von ihr behandeln, und er hatte ihr sogar versprochen, seine Lebensgewohnheiten zu verändern, sich vor allem mehr zu bewegen und sein Übergewicht abzubauen.

      Im Grunde genommen war das alles nichts im Vergleich zu dem, was sie vorher in ihrer alten Praxis alles bewegt hatte.

      Stopp! Sie wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Ihr Leben spielte sich hier ab, und für das Leben hier war es bereits etwas. Es war auf jeden Fall besser, als überhaupt nichts vorweisen zu können.

      Und auf die Schulter klopfen musste sie sich jetzt nicht vor lauter Begeisterung. Was sie getan hatte, waren Selbstverständlichkeiten. Schließlich war sie Ärztin, hatte den hippokratischen Eid abgelegt. Menschen zu helfen, sie zu retten, das war ihr Beruf, den sie über alles liebte.

      Ihre gute Laune hatte nichts mit alldem zu tun. Sie war gut drauf, weil sich bei ihr als Person, nicht als Ärztin, etwas verändert hatte, weil sie dabei war, sich zu verändern.

      Sie musste nicht funktionieren wie eine gut geölte Maschine, sondern sie hatte ein Recht darauf, ihr Leben entschleunigt anzugehen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

      Das war Roberta bewusst geworden, als sie an ihrem freien Nachmittag stundenlang im Ruderboot auf dem Sternsee unterwegs gewesen war, inmitten von einer Stille, die man fühlen konnte, inmitten einer unglaublichen Natur, die einen einhüllte wie ein weiches, warmes Tuch.

      Hätte es diesen Zwischenfall mit dem Kind nicht gegeben, das sie gerettet hatte, dann wäre es für Roberta das ultimative Erlebnis gewesen. Etwas, was sie vor unendlich langer Zeit zum letzten Mal erlebt hatte, als unbeschwerte, junge Studentin, der die Welt offen stand und die die Welt vor lauter Glück ständig umarmt hatte.

      Sie hatte nicht geglaubt, zu solchen Empfindungen überhaupt noch fähig zu sein.

      Vermutlich lag das auch ein wenig an dem jungen Bootsverleiher Kay Holl, der so unglaublich entspannt, so richtig gut drauf war.

      Das war ihr aufgefallen, als sie ihn kennengelernt hatte, und mehr noch nach ihrer etwas anders verlaufenen Bootstour.

      Er hatte keine dumme Bemerkung gemacht, als sie pitschnass aus dem Boot geklettert war.

      Er hatte das Boot in Augenschein genommen, festgestellt, dass nichts beschädigt war, sondern nur nass.

      Er war großzügig gewesen, hatte ihr nicht einmal Geld abgenommen, sondern sie gebeten, doch wiederzukommen.

      Ein anderer hätte ihr das Geld abgenommen, vielleicht sogar noch mehr, weil das Boot ja aufgedockt und getrocknet werden musste.

      Und ein anderer hätte sie mit Fragen bestürmt oder gar ein paar hämische Bemerkungen gemacht …, ein nasses Boot, eine nasse Insassin. Daraus ließen sich Rückschlüsse ziehen.

      Er hatte nichts gesagt, war freundlich und nett gewesen.

      Dieser Mann betrieb den Bootsverleih nur in den Sommermonaten, war während dieser Zeit dringend auf schönes Wetter angewiesen, weil sonst niemand ein Boot ausleihen wollte.

      Wovon lebte er eigentlich in den übrigen Monaten?

      Roberta hatte keine Ahnung, und er schien sich darum keine Gedanken zu machen, sonst wäre er nicht so tiefenentspannt. Und sonst hätte er sich vermutlich auch auf eine so unsichere Geschichte wie diesen Bootsverleih nicht eingelassen.

      Roberta war ein wenig irritiert, weil sie sich so sehr für ihn interessierte, an ihn dachte. Keine Frage, er gefiel ihr, weil er so anders war, so beruhigend anders.

      Als Mann interessierte er sie nicht, dafür war er zu jung. Und außerdem war eine neue Beziehung das Letzte, woran sie dachte. Nein, von ihm konnte man sich etwas abgucken, was das Leben, ein entspanntes Leben, betraf.

      Am Wochenende würde sie sich wieder ein Boot leihen. Sie hatte den Sternsee in seiner ganzen Pracht längst noch nicht ganz erkundet, und es war auch nicht davon auszugehen, dass wieder ein Kind ins Wasser fallen würde, das sie retten musste.

      Tja, und ansonsten …

      Ansonsten hatte Dr. Rober­ta­ Steinfeld sich entschieden, sich ohne wenn und aber auf den Sonnenwinkel einzulassen, ganz ohne wenn und aber.

      Es war noch früh, viel zu früh, um hinüber in die Praxis zu gehen, dennoch stellte Roberta ihre Kaffeetasse weg und erhob sich.

      Sie wollte ab sofort auch die Praxis mit anderen Augen sehen, frei von Ehrgeiz, frei von Erwartungshaltungen. Sie wollte sich freuen, da arbeiten zu können wo andere Leute ihren Urlaub verbrachten.

      Und Patienten?

      Die würden kommen, ganz gewiss. Sie wusste, was sie konnte und das würde sich irgendwann herumsprechen.

      Sorgen machen musste Roberta sich nicht, sie würde derweil nicht am Hungertuch nagen müssen, weil sie finanziell ganz gut abgesichert war.

      Sie musste nur darauf achten, dass ihre Mitarbeiterin ihr nicht abhanden kam, weil das Nichtstun sie nervte.

      Ursel Hellenbrink war ein Juwel. Das hatte Roberta längst erkannt, und sie war glücklich, dass sie diese Frau hatte übernehmen dürfen, dass Ursel Hellenbrink sich hatte

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