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Kammer mit den zerschlissenen Gardinen hauste sein einziges Kind Gritli also seit fast sieben Jahren. Wer mochte ihr hier abends etwas erzählen und ihr die Augen zur Gute-Nacht mit einem zarten Kuß schließen? Wer konnte sich aber auch hier in dieser dürftigen Lieblosigkeit wohl fühlen? Nein, er wollte seinem einzigen Kind diese freudlose Umgebung keinen weiteren Monat zumuten.

      »Wenn ich gehe«, versprach er, »nehme ich dich mit.«

      »Wohin? Nach Amerika?«

      »Nein, mein Kleines.« Er legte die Hände um ihr Gesicht und kam ihr ganz nah. »Noch einmal will ich nicht so weit fort. Denn Großmutter und Sepp kann ich nicht ganz allein lassen. Sie brauchen meine Hilfe…«

      »Meine auch. Und du mußt Sepp auch helfen. Wegen Clara.«

      »Clara?« fragte er nichtsahnend. »Ist das die Touristin, die jetzt allein in Tante Theres’ Hütte wohnt?«

      »Ja, und sie ist ganz lieb, Papi.« Sie spürte die Wärme seiner Hände und genoß seine Nähe, so daß sie den Mut fand, ihrem Herzen Luft zu machen. Leise flüsternd erzählte sie ihm, wie sie am Kruzifix gebetet hatte, damit aus Onkel Sepp und Clara ein Paar wurde. Daß die beiden bis jetzt aber nur heimlich in der ersten Dämmerung des Morgengrauens zusammen auf die Alm gestiegen waren. Dabei könnte Clara sogar richtig stricken…

      »So«, schmunzelte Thilo. »Sogar stricken kann sie!«

      Gritli schluckte erstmal. »Hat… hat meine Mami Wolle gehabt? Konnte sie auch stricken?«

      Der scheue Klang ihrer Stimme erschütterte ihn, ihre geflüsterte Frage traf ihn mitten ins Herz.

      »Ja, das konnte deine Mami. Sie konnte viel, mein Gritli.«

      »Aber dann war sie tot, als ich kam.«

      »Tscht! Mein Gritli!«

      Thilo Heimhofer wußte jetzt, daß es nicht nur äußerliche Lieblosigkeit war, die seine Tochter hinnehmen mußte. Noch quälender waren gewiß die geheimnisvollen Andeutungen oder das Schweigen über ihre so jung verstorbene Mutter, sein geliebtes Hannerl. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und weil er sich nicht dagegen wehren konnte, schloß er die Augen und küßte das Gritli zart auf Stirn und Wangen.

      Für Gritli war dieses Zeichen väterlicher Liebe Antwort genug. Sie faltete die Hände in seinem Nacken ganz fest, damit er nicht wieder fort konnte.

      »Du hast meine Mami liebgehabt?«

      »Ja, mein Kind. Ich habe sie sehr geliebt. Ohne sie…«

      Von unten wurde es laut. Die Tür schlug zu, Schritte polterten in die Küche, die Großmutter stieß heftige Worte hervor.

      »Die Großmutter schimpft mit Onkel Sepp, Papi«, klärte Gritli ihren Vater auf, weil sie nicht ahnen konnte, daß er das selbst erriet.

      »Ich muß runter und ihm beistehen, Gritli.«

      Gritli verstand. »Es ist wegen Clara, Papi. Gib ihm auch ein Geschenk, dann erträgt er ’s vielleicht.«

      »Ja. Er soll sein Geschenk bekommen. Schlaf gut. Morgen bring ich dich den Hang zur Schule hinunter.«

      Er mußte ihre Hände sanft voneinander lösen, so fest hielt sie ihn, denn Gritli ließ ihn nur ungern gehen.

      *

      »Du kannst mich ganz zur Schule bringen, Papi!« schlug Gritli ihm am nächsten Morgen vor, nachdem er sie bis zum Tunnel begleitet hatte. »Dann werden die aber schauen, der Karli und der Kurti und der schlimme Theo!«

      Er hob sie auf seine Arme. »Heißt das, in der Schule ärgern sie dich?«

      »Nein!« schwindelte Gritli sofort. Sie spürte, daß sie ihren Vater in dem festen Glauben lassen mußte, alles liefe wunderbar. Sonst würde er vielleicht wieder fortgehen. Hatte Onkel Sepp es nicht einmal gesagt? Es klang ihr noch in den Ohren. »Dein Vater läuft vor dem Kummer davon!«

      Nein, sie wollte ihm keinesfalls Kummer machen. Der Brief von der Frau Lehrerin fiel ihr wieder ein. Aber der lag noch sicher unter der schweren Marienstatue auf der Kommode im Flur. Und wenn Urban nicht wieder nachts Mäuse fing, blieb er dort sicher bis nach den Sommerferien oder sogar bis Weihnachten.

      »Ein andres Mal bringe ich dich«, versprach er. »Jetzt will ich hoch zur Alm und dem Sepp helfen. Und dann geh ich der Großmutter zur Hand, reparier das Stadl-Tor und hacke ihr Holz. Wenn ich alles schaffe, komme ich dir mittags entgegen. So, und nun lauf.«

      Sie drehte sich nach ihm. Er stand da, groß und schlank und mit dem Gold der Morgensonne auf seinem Haar und winkte ihr nach.

      Als Gritli den Tunnel in Richtung Dorf verließ, blickte sie wie immer zum Himmel. Ganz oben im tiefsten Blau zogen zarte Wolken entlang, die an gezupfte Watte erinnerten. Sie blieb stehen. Das bedeutete Fön. Die Luft wurde oben dünn, und in höchstens zwei Tagen kippte die Wetterlage um. Nein, kein Donnerwetter stand ihnen dann bevor, sondern nur anhaltender heftiger Regen, der reißende Bäche die Bergpfade herunterrauschen ließ, das Erdreich ins Rutschen brachte und die Steine glatt und gefährlich werden ließ. Genau so hätte Theres es auch gewußt.

      Als Thilo sich dem Häuschen von Tante Theres näherte, bemerkte er die junge, kräftig gebaute Frau mit der Brille auf der Nase. Clara Baumbeer hängte schlohweiße Kniestrümpfe und dazu etwas Unterwäsche auf die Leine.

      Obwohl er die Angebote seines Bruders gern näher kennengelernt hätte, nickte er nur kurz, aber sehr freundlich zu ihr hinüber und machte sich dann auf den Aufstieg zur Alm.

      Am letzten Abend, als Agnes ihren Zorn mit einigen zusätzlichen Schnäpschen gelöscht hatte und längst ins Bett gegangen war, hatte Thilo noch lange mit seinem Bruder zusammengesessen. Sepp hatte die Trapperlederjacke mit dem Fransenschmuck an Schultern und Taschen schon getragen, und seine Freude über das schöne Geschenk war echt gewesen, so daß er die heftige Auseinandersetzung mit Agnes wohl schnell vergessen und gleich von der gemeinsamen Zukunft, die sie als Brüder nun meistern mußten, zu sprechen begonnen hatte.

      Ganz klar, Thilo sollte ihm als Partner zur Seite stehen und ordentlich mit anpacken. Dann könnte er auch Clara heiraten, ohne sie der schrecklichen Armut auszusetzen. Thilo mußte nicht nachfragen. Er sah, daß Sepp diese Frau liebte und von einem gemeinsamen Leben mit ihr träumte. Aber dieser Traum konnte sich nicht erfüllen, weil der Berghof niemals zwei Familien ernähren konnte.

      Begriff Sepp es nicht? Einer von ihnen mußte gehen. Und wie seit Jahrhunderten traf es den Jüngeren, wie Thilo es schon immer wußte. Nur fühlte er sich dennoch den Glücksträumen seines Bruders verpflichtet. Er hatte doch nicht nur bei Gritli und Agnes, sondern auch bei Sepp eine Schuld abzutragen.

      Während des Aufstiegs blieb er immer wieder stehen. Nicht etwa, weil er die Anstrengung nicht gewohnt war. Er genoß nur den lange entbehrten Anblick seiner Heimat. Wunderschön war es hier. Die Luft atmete Frische und Reinheit, das Gras duftete, die Sonne ließ die Felsen hell strahlen. Ganz weit oben entdeckte er sogar einige Gemsen, und über ihnen flog ein Adler seine Kreise. Ja, es war alles so wie früher. Nur, wenn er an Gritli dachte, spürte er Bitterkeit in seinem Herzen. Seine Tochter hatte traurige Jahre hinter sich. Das Gute daran war, daß es ihr noch nicht bewußt war.

      »Du kommst also tatsächlich!« begrüßte Sepp ihn. Thilo schlug seinem Bruder freundschaftlich auf die Schulter, nahm ihm die Sense aus der Hand und suchte sich ein Plätzchen am steilen Hang, wo das Gras noch üppig stand. Bevor er sich an die Arbeit machte, legte er die Hand vor die Augen, um weiter hoch zu den Kühen schauen zu können.

      Sie grasten auf einer seichteren Anhöhe. Das war seit Jahren so. Zum Besitz der Heimhofers gehörten zwei saftige Wiesen auf dem Plateau, die das Dutzend Tiere den ganzen Sommer über ernähren konnten.

      »Ich hab’ nur eine Stunde geschlafen«, rief Sepp ihm zu. »Aber dich hab’ ich heute noch in Ruh gelassen und die Morgenmilch schon runter zur Straße gebracht. Um halb sechs.«

      »Ich weiß, Sepp. Morgen mach ich ’s.«

      Sepp schob sich den Hut in die Stirn und sah schweigend

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