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nicht ausschließen, bis sie den Beweis für das Gegenteil in der Hand haben.“

      Fango war stehengeblieben und schaute aufmerksam in Richtung Hallentor. Ich atmete tief durch. Am Eingang stand Luis; seit unserer merkwürdigen Begegnung im Reisebüro hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich hatte den Hörer immer noch am Ohr. „Vera“, hörte ich Iris sagen, „ich muss jetzt Schluss machen. Ich melde mich so bald wie möglich noch einmal.“

      „Was für eine Übung habt ihr denn gerade geprobt?“ grinste Luis.

      „Oh, meinst du etwa unseren mörderischen Galopp?“

      „Genau so sah es aus – ich habe alles von der Tribüne aus beobachtet. Ich hätte dich warnen sollen – Fango reagiert allergisch auf Telefonklingeln – warum weiß ich nicht, frühkindliches Trauma, oder so. Und außerdem …“; er klang wie ein kleiner Junge, der etwas falsch gemacht hatte und es nicht zugeben wollte: „Und außerdem muss ich dir gestehen, dass ich ihn gestern nicht geritten habe. Er ist einen Tag lang gestanden, da hat er heute wohl ein bisschen Dampf gehabt!“

      „Na, dann ist mir alles klar.“ Auf einmal ging es mir wieder besser. Meine Energie kam zurück, und ich freute mich, dass Luis gekommen war.

      „Vera, du bist ja immer noch ganz weiß um die Nase. Ich habe meine Reitstiefel an, ich kann ihn noch ein paar Minuten bewegen.“

      Luis' Fürsorglichkeit tat mir gut. „Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Es war meine Schuld, ich hätte besser aufpassen sollen. Ich war in Gedanken, der dumme Telefonanruf hat mich irritiert.“

      „Wer war es denn?“

      „Iris“, sagte ich kurzangebunden, denn ich wollte auf keinen Fall über ihre Hiobsbotschaft reden. Nicht jetzt, später vielleicht.

      „Deine Freundin aus Montmirail?“

      Ich war beeindruckt, dass sich Luis den Namen des Schweizer Dorfes so gut gemerkt hatte. „In Kleinigkeiten muss man genau sein“, hatte er neulich zu mir gesagt. Da war er ganz anders als Gerson. Der stammelte immer noch herum, wenn er Nines Urlaubsort aussprechen wollte. Es machte ihm sogar Spaß, alle Eigennamen zu verdrehen, oder völlig andere Namen zu erfinden. Es tat mir auf einmal leid, dass ich Luis so kurz geantwortet hatte, es hatte beinah unhöflich geklungen.

      „Luis, weißt du was? Ich reite noch 20 Minuten und wenn du dann Zeit für mich hast, lade ich dich zu einem Kaffee auf dem Kurpfalzhof ein. Sie haben dort einen jenseitigen Käsekuchen! Dann erzähle ich dir alles in Ruhe.“

      Luis schüttelte den Kopf. „Ich muss noch was mit Tom besprechen, er war vorhin noch mit Mistschieben beschäftigt. Heute wird es bei mir knapp. Aber wie wäre es mit morgen? Ich bin gespannt auf deine Neuigkeiten.“

      Darf ich ich es ihm überhaupt sagen?, fuhr es mir beim Antraben durch den Kopf. Fango schnaubte und streckte die Nase in Richtung Boden. Warum denn nicht, beruhigte ich mich, Iris hat mir ausdrücklich erlaubt, mit Gerson über alles zu sprechen – Luis hatte sie nicht erwähnt, doch gehörte Luis nicht auch zu unserem Team?

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      Gersons Fahrrad lehnte an der Hauswand, als ich vom Stall zurückkam. Auf dem Parkett im Flur hatten seine achtlos abgestellten Wanderschuhe kleine Wasserpfützen gebildet. Ich nahm eine Zeitung aus dem Altpapierstapel und legte sie unter die Stiefel. „Wo bist du denn?“

      Aus dem Wohnzimmer tönten merkwürdige Schnorchelgeräusche, die ich nicht einordnen konnte; eine liebevolle Begrüßung war das jedenfalls nicht. Eher das Gegenteil, ich hatte den Eindruck, Gerson wollte mich davon abhalten, hineinzukommen. Er lag auf dem blauen Sofa im Wohnzimmer und las. Um den Hals hatte er einen Schal geschlungen, mit diesem Knoten, den französische Intellektuelle vor sich hertrugen, wenn sie im Café saßen; neben sich einen Packen Papiertaschentücher, von denen einige zerknüllt auf dem Boden lagen. Ich musterte ihn neugierig, ohne dass er seine Lage veränderte oder auch nur zu mir aufblickte. Nein, lesen war nicht der geeignete Ausdruck, er hielt sich ein Buch vor die Nase, das stimmte, doch es sah so aus, als wolle er im nächsten Augenblick hineinbeißen. Es war ein sehr dickes, schweres Buch mit einem schwarzen Cover und einer orangefarbenen, durchbrochenen Schrift. Der kryptische Titel bestand aus vier untereinander geschriebenen Zahlen, die so etwas wie 2666 ergaben. Keine Ahnung, um was es sich da handelte, ob es ein Sachbuch war oder ein neuer Roman, den ich nicht kannte; verwunderlich war das nicht, denn seit ich berufstätig war und mich in meiner Freizeit vor allem mit Nine beschäftigte, las ich nicht einmal mehr die Zeitung.

      „Hi“, sagte er, als ich mich zu ihm hinunterbeugte, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Doch als er mit einem Niesanfall antwortete, zog ich mich schnell zurück. Eine Grippe hätte mir gerade noch gefehlt.

      „Geht es dir nicht gut?“, fragte ich so vorsichtig wie möglich.

      „Ich lese“, sagte er.

      „Ach, wirklich? Was denn?“

      Er hob mir das Buch entgegen. „Roberto Bolaño“, sagte er. Anscheinend war dieser spanisch klingende Name selbsterklärend, denn Gerson fügte ihm nichts mehr hinzu. Es handelte sich wohl um einen neuen Bestsellerautor, der mir wegen meiner haarsträubenden Ignoranz in literarischen Dingen wieder mal entgangen war.

      Gerson schwieg und hielt sich das Buch vor die Nase.

      „Er ist tot“, sagte ich.

      „Ja, leider! Mit knapp 50 Jahren gestorben. Was der noch alles hätte schreiben können!“ Gerson griff nach einem Tempotaschentuch und schnäuzte sich ausgiebig. „Er hat auf eine Leber gewartet.“

      „Oh mein Gott!“, sagte ich. „Gerson, bitte, wäre es dir möglich, dein Buch für eine Minute zur Seite zu legen?“

      Er richtete sich auf. „Ist irgendwas passiert?“

      „Paletti ist tot!“

      „Aber das ist doch unser - äh, ich meine, das ist doch Nines Hengst?”

      „Ja, und sie wissen nicht, woran er gestorben ist. Der Auktionsstall steht unter Quarantäne, solange bis sie den Grund für seinen plötzlichen Tod gefunden haben.“

      Gerson wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Dann sagte er: „Und was ist mit Nine? Hat Iris nichts von ihr gesagt?“

      „Doch! Es geht ihr gut!“

      „Meine Güte, Vera! Ich versteh dich nicht, – angenommen dieser Paletti ist an einer Virusinfektion gestorben! Iris hat sie mit seinem Sperma decken lassen –, dann kann er sie doch angesteckt haben!“

      „Ja, das habe ich auch befürchtet, aber Luis hat gesagt ...“

      „Luis!“ Gerson bekam einen roten Kopf. Er war dabei, sich in Rage zu reden: „Schon wieder dieser Luis! Vera, mir gefällt nicht, dass du dich so oft mit ihm triffst. Der Typ ist mir nicht sympathisch! Aber okay, das musst du selbst wissen.“ Er holte Luft und schien sich zu beruhigen. Er fixierte mich. „Ich würde mein Pferd sofort zurückholen. Hier hast du sie besser im Blick. Und Doktor Abnemer kann dir helfen, wenn etwas passiert. Er hat Erfahrung und Pferdeverstand.“

      „Wie stellst du dir das vor? Angenommen, es ist ein Virus, meinst du, die Schweizer Zöllner lassen sie über die Grenze?“

      „Ich dachte, es weiß niemand, dass sie gedeckt ist?“

      „Nur Monsieur Poliglott, der Besitzer des Hengstes, dann du, Iris natürlich, ich und – Luis.“

      Gerson atmete zischend aus, ließ sich auf das Sofa zurückfallen und griff zu seinem Buch. „Dieses Buch hat mir Sandy empfohlen – es hat 1183 Seiten und ich bin erst auf Seite 38.“

      „Was soll das heißen?“, fragte ich entgeistert.

      Gerson schwieg; ich konnte förmlich sehen,

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