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ebastian Lehmann

      lost in gentrification

Sebastian Lehmann, Volker Surmann (Hrsg.)lost in gentrificationsebastian lehmann | volker surmann (hrsg.)
lost in gentrification

      E-Book-Ausgabe, September 2012

      © Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2012

      www.satyr-verlag.de

      Cover: V. Surmann

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

      Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

      ISBN: 978-3-944035-01-7

      Vorwort

      Sebastian Lehmann, Volker Surmann

      »It’s all part of the process«

(Morcheeba)

      Scarlett Johanssons Blick schweift über die Hochhäuser Tokios. Sie sitzt alleine am Fenster ihres minimalistisch eingerichteten Hotelzimmers und weiß nicht so recht, was sie nun mit der Zeit in dieser riesigen Stadt anfangen soll. Überall blinken bunte Bildschirme, Menschenmassen drängeln sich in den U-Bahnen, sie versteht die Sprache nicht. Charlotte, so heißt Johanssons Figur im Film, fühlt sich verloren, überfordert. Zum Glück kommt dann irgendwann Bill Murray, der in Japan ganz ähnliche Übersetzungsprobleme hat. Lost in Translation hieß Sofia Coppolas wunderbarer Film von 2003.

      Wir haben uns für diese Anthologie den Namen geliehen, ein wenig modifiziert natürlich. Denn auch in deutschen Städten kann man verloren gehen, allerdings auf ganz andere Weise als Charlotte in Tokio: Ein Prozess, der in den letzten Jahren verstärkt in Europa ankommt, »gentrification« genannt – oder eingedeutscht »Gentrifizierung« – ist der Grund, warum sich manche Bewohner in ihrer Stadt oft verloren und überfordert fühlen. Der Begriff hat es aus den Studierzimmern der Stadtsoziologen hinein in die Städte geschafft, und zwar bis an die Stammtische, unabhängig davon, wo diese Stammtische gerade stehen, ob in der Eckkneipe Zum goldenen Süffel oder der autonomen Kellerbar Kellerbar. Allerdings verlieren sich diese oft ebenfalls in der Übersetzung des Begriffs, die inhaltliche Kenntnis erschöpft sich allzu oft in einem diffusen: »Die Schwaben, die Hipster, die Touris und generell alle, die noch nicht so lange hier sind wie ich, sind daran schuld, dass die Stadt sich nicht so entwickelt, wie ich es gerne hätte.« Tilman Birr hat uns mit dieser vermeintlichen Essenz großstädtischer Hybris beglückt, und wir haben sogar mit dem Gedanken gespielt, unser Buch so zu nennen, wollten es aber nicht im Querformat herausbringen.

      »Alle raus!«, war ein weiterer heißer Titelaspirant. Denn das rufen sie alle: die Eingeborenen zu den Hipstern, die Hausbesetzer zu den Touristen und der neue Hauseigentümer schlussendlich zu allen, die nicht freiwillig fliehen. Die Fronten sind unübersichtlich, aber verhärtet wie frisch abgebundener Beton. Wir denken, es ist dringend an der Zeit, den erbittert geführten Diskussionen um die rasante Aufwertung von Stadtteilen eine satirisch-humoristische Sichtweise an die Seite zu stellen. Und die Autorinnen und Autoren dieses Buches sind schließlich auch so etwas wie Experten für das Thema, oft genug wohnen sie in den sogenannten Künstlervierteln der Stadt, also im Zentrum der Gentrifizierungsumwälzungen, – diese Umbrüche spiegeln sich also auch in ihren Geschichten und Gedichten wider. Sie alle – wir alle – sind »part of the process« – und wahrscheinlich ist sogar dieses Buch Teil des Prozesses.

      Am Ende möchten wir uns als Herausgeber noch bei all jenen entschuldigen, die die Gentrifizierung nicht gerade als eines der vordringlichen Probleme der Gesellschaft ansehen und eine so ausführliche Beschäftigung mit dem Thema eher mit »Langweilig!«-Rufen quittieren. Das können sie natürlich, dieses Buch einfach weglegen, aber dann würden sie nach einer thematischen Einleitung, sechsunddreißig zumeist sehr komische Geschichten verpassen, die sich auf sechsunddreißig unterschiedliche Weisen einmal quer durch das Schlachtfeld der Gentrifizierung kämpfen.

      Und wer trotzdem meint, das ist alles großstädtische Nabelschau, der hat natürlich vollkommen recht. Der Städter beschäftigt sich eben gerne mit sich selbst und seiner unmittelbaren Umgebung. Das war wohl schon immer so. Jedenfalls hat der Philosoph, Vater der Soziologie und Urberliner Georg Simmel schon 1903 in einem Aufsatz über »Die Großstädte und das Geistesleben« geschrieben: »Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit.«

      Dem wollen wir nichts hinzufügen, außer dieses Buch.

Berlin, Sommer 2012

      Einleitung: We built this city, we built this city on Rock’n’Roll

      Sebastian Lehmann

1

      Ein Freund von mir, natürlich zugezogen aus dem Süden der Republik, eröffnete vor einiger Zeit ein Atelier-Galerie-Dings in einem alten Kohlegeschäft auf der Neuköllner Reuterstraße. Bis dahin säumten diesen Teil der Reuterstraße eher Altberliner Eckkneipen, türkische Kulturvereine und Dönerimbisse. Nun suchte mein Freund einen Namen für seine neue Kunst-Location, irgendjemand schlug »Gentrification« vor. Wir lachten alle, stießen mit unseren Augustiner-Flaschen an und fühlten uns nur ein klein wenig schlecht.

      Berlin-Neukölln ist ja gerade der Boombezirk der Bohemians und natürlich auch zahlreicher äußerst gut gekleideter Touristen und Teilzeitberliner, die tags vor den niedlichen Cafés sitzen und Lemon Aid, das neue Biolimo-Supergetränk, schlürfen und nachts durch die Bars und halblegalen Clubs ziehen, die Club-Mate-Flasche aufgefüllt mit dem Berliner Hipster-Wodka Held. Selbst auf den Reiseführern steht es jetzt vorne drauf: »In-Viertel Neukölln.«

      Szenenwechsel – das heißt: Wechsel des Ortes, aber auch Wechsel der Szene. Vor dem Pfefferberg im Prenzlauer Berg stehen ein paar smarte Herren in Anzügen, rauchen Zigaretten und flanieren dann wieder in das Restaurant nebenan. Hinten ist noch ein Hostel, und in die Kellerbar gelangt man durch eine automatische Glasschiebetür, wie in einem Supermarkt. Wahrscheinlich wegen der Energieeffizienz. Der Steinfließboden ist feucht gewischt. Ich muss an meine Heimatstadt Freiburg denken. Da sieht es überall so aus. West-Deutschland. Heile Welt.

      Ich kann mich an eine Party erinnern, vor Jahren, das muss auch hier gewesen sein. Damals gab es aber noch keine Schiebetüren. Irgendwo stand nur eine unscheinbare, zugetaggte Tür offen, die in einen riesigen Keller führte, in dem laute Technomusik wummerte. Schweiß tropfte von der Decke. So jedenfalls meine durchaus romantisierende und lückenhafte Erinnerung. Aber egal, wichtig ist nur: Ich war ziemlich jung und ziemlich fasziniert von diesem krassen Berlin. Yeah!

      An dieser Anekdote lassen sich schön die wichtigsten Probleme ausmachen, wenn sich unsereins (also eigentlich meine ich nur mich, aber wahrscheinlich trifft das auch auf einige Autoren dieser Anthologie zu) mit Gentrifizierung beschäftigt:

      1. Ich komme nicht aus Berlin. Ich wollte nach Berlin, weil ich mit neunzehn dachte, Berlin ist cool. (Ist es ja auch.)

      2. Ich bin die Gentrifizierung. Ich mache im weitesten Sinne Kunst, wenn man Lustige-Geschichten-Vorlesen dazuzählt. Aber noch schlimmer: Ich bin auch Veranstalter. Von Poetry Slams und Lesebühnen. In Kreuzberg.

      3. Ich bin nicht der Leidtragende der Gentrifizierung. Jedenfalls nicht in erster Linie. Ich wurde nicht verdrängt und vertrieben, wie sozial schwächere Bewohner in Berlin-Mitte oder Hamburg-Altona. Klar ist, dass die Aufwertung am Pfefferberg schon angefangen hat, als die Subkultur dort noch Sternburg trank. Die hässliche Fratze der Gentrifizierung zeigt sich aber erst jetzt in Form dieser unfassbar furchtbaren neuen Nutzung.

2

      Aber noch einmal einen Schritt zurück. Was ist überhaupt Gentrifizierung? Jeder hat da ja eine ziemlich

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