Скачать книгу

bemerkt, daß ihr niemand mehr helfen konnte.«

      Dr. Daniel senkte den Kopf. »Sie starb innerhalb von vier Wochen.« Und nun mußte er doch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Es war meine Schuld. Ich habe ihr von Anfang an zuviel zugemutet.«

      »Robert, um Himmels willen, was redest du dir da ein?« Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Das rede ich mir nicht nur ein, Schorsch.« Er schwieg einen Moment, dann begann er leise zu erzählen: »Ich steckte mitten im Studium, als wir uns kennenlernten. Es war Liebe auf den ersten Blick, und ein Jahr später waren wir verheiratet. Damals war ich so alt wie Stefan heute, und Christine hat uns finanziell über Wasser gehalten.«

      »Was ihr nicht schwerfiel«, warf Dr. Sommer dazwischen, »sie stammte immerhin aus sehr wohlhabenden Verhältnissen.«

      Dr. Daniel nickte. »Aber sie stand mit allem allein da. Sie mußte praktisch von heute auf morgen eine riesige Villa in Schuß halten, und erfuhr von mir keine Unterstützung, weil ich fürs Examen büffeln mußte. Dann wurde sie schwanger, und Stefan kam zur Welt, als ich gerade Assistenzarzt bei Professor Thiersch war. Du weißt, was Thiersch mir abverlangt hat. Es war ein Wunder, daß ich bei Stefans Geburt dabeisein konnte. Drei Jahre später wurde Karina geboren, und ich war gerade dabei, meinen Facharzt zu machen. Christine war mit der Villa und der Verantwortung für zwei kleine Kinder wieder einmal allein. Dann richtete ich mir die Praxis ein, und wie selbstverständlich übernahm Christine die Pflichten als Empfangsdame. Sie arbeitete bei mir, zog zwei Kinder groß und schaffte den Haushalt scheinbar spielend, aber irgendwann machte ihr Körper diese Belastung einfach nicht mehr mit. Du kennst die Theorien über die Entstehung von Krebs genauso gut wie ich. Übermäßiger Streß ist dabei ein maßgeblicher Faktor, das wirst du doch nicht abstreiten, oder?«

      »Nein, aber…«

      »Es gibt kein Aber«, fiel Dr. Daniel seinem Freund ins Wort. »Ich bin zumindest mitschuldig an Christines Tod.«

      Dr. Sommer schüttelte den Kopf. »Das ist doch Unsinn, Robert! Du hast sie nicht gezwungen…«

      Dr. Daniel hob abwehrend die Hand. »Darauf kommt es gar nicht an, Schorsch. Natürlich habe ich sie nicht gezwungen, so viel zu arbeiten, aber ich habe sie auch nicht davon abgehalten.«

      Dr. Sommer sah ein, daß er mit logischen Argumenten hier nicht weiterkam. Dr. Daniel hatte sich in dieses Schuldgefühl verrannt, und war vermutlich mit nichts vom Gegenteil zu überzeugen.

      »Glaubst du an Gott?« fragte Dr. Sommer scheinbar übergangslos.

      Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Wenn du mir jetzt mit Dingen wie Wiederauferstehung und ewiges Leben kommst, dann…«

      »Glaubst du oder glaubst du nicht?« fiel Dr. Sommer ihm ins Wort.

      »Ja und nein«, antwortete Dr. Daniel. »Ich glaube an Gott, aber ich halte nicht viel von manchen Auslegungen der Kirche.«

      »Darum geht es auch gar nicht«, entgegnete Dr. Sommer. »Schau mal, Robert, ich glaube auch an Gott, und ich glaube auch noch an etwas anderes – nämlich daran, daß unser Leben vorherbestimmt ist… von Geburt bis zum Tod.«

      »Du willst damit sagen, daß Christines Tod vorherbestimmt war?« Dr. Daniel winkte ab. »Vergiß es, Schorsch!«

      »Nein, das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Ich will dir etwas erzählen, Robert. Vor kurzem habe ich von einem Unfall gelesen. Ein vierzig­jähriger Mann stürzte aus einem Fenster im sechsten Stockwerk. Was glaubst du, was mit ihm passiert ist?«

      Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich nehme an, er war sofort tot.«

      Dr. Sommer schüttelte den Kopf. »Er fiel auf die herausgelassene Markise einer Pizzeria im Erdgeschoß und trug lediglich einen Beinbruch davon.«

      Wieder zuckte Dr. Daniel die Schultern. »Dann hat er eben Glück gehabt.«

      »Nein, Robert, so einfach darfst du es dir nicht machen. Es war Bestimmung. Der Mann sollte noch nicht sterben. Ich will dir ein weiteres Beispiel schildern. Eine fünfzigjährige Frau fiel beim Fensterputzen von einer Drei-Stufen-Leiter und hat sich das Genick gebrochen. Sie war sofort tot.«

      Dr. Daniel atmete tief durch. »Du meinst… bei Christine war es ebenso?« Er schüttelte den Kopf. »Christine hatte keinen Unfall. Sie war krank.«

      »Das ist richtig«, stimmte Dr. Sommer zu. »Und vielleicht wurde sie sogar durch die viele Arbeit krank, aber wenn diese Arbeit nicht gewesen wäre, dann hätte sie auf andere Weise den Tod gefunden. Leben und Tod sind Bestimmung, und niemand kann daran etwas ändern.«

      Prüfend sah Dr. Daniel seinen Freund an. »Daran glaubst du wirklich?«

      Offen erwiderte Dr. Sommer seinen Blick. »Ja, Robert, daran glaube ich felsenfest.«

      Im selben Moment fühlte Dr. Daniel, wie sein Herz leichter wurde. Sicher, er hatte unter Christines Tod gelitten und die Sehnsucht nach ihr würde bestimmt noch nicht so schnell vergehen, aber viel schlimmer waren seine Schuldgefühle gewesen. Doch jetzt schien es ihm plötzlich, als hätte Dr. Sommer durch seine schlichten Worte diese Schuld von ihm genommen.

      Dr. Sommer bemerkte die Veränderung, die innerhalb weniger Augenblicke in seinem Freund vorgegangen war. Unmerklich atmete er auf, und dann setzte er sich ganz spontan neben Dr. Daniel und legte eine Hand auf seinen Arm.

      »Ich habe dir heute sehr zugesetzt«, meinte er. »Aber es war nötig. Irgend jemand mußte dafür sorgen, daß du dich mit deiner Vergangenheit auseinandersetzt.«

      Dr. Daniel senkte den Kopf. »Es war sehr schmerzhaft.«

      Dr. Sommer nickte. »Ich weiß. Auch ich mußte mich einmal auf diese Weise mit einem Problem auseinandersetzen.« Er zögerte. »Es ging um unsere Kinderlosigkeit, und ich versichere dir, daß dieses Gespräch damals auch sehr schmerzhaft für mich war. Und jetzt…« Wieder zögerte er einen Moment. »Ich habe es akzeptiert, aber der Gedanke an ein eigenes Kind, das Margit und mir versagt geblieben ist, stimmt mich immer wieder traurig.«

      Grenzenloses Mitleid überkam Dr. Daniel bei diesen Worten. Im selben Augenblick bemerkte er, daß er endlich aufhören konnte, mit dem Schicksal zu hadern. Sicher, Christine hatte ihn viel zu früh verlassen müssen, aber seine Kinder waren ihm geblieben… seine Kinder und die Erinnerung an eine harmonische, glückliche Ehe.

      *

      Dr. Daniel und Dr. Sommer saßen an diesem Abend noch lange zusammen, und gerade als sie sich entschlossen, nun endlich schlafen zu gehen, kam Margit Sommer nach Hause. Sie war erstaunt, Dr. Daniel hier anzutreffen, begrüßte ihn aber mit ehrlicher Freude. Man setzte sich nochmals im Wohnzimmer zusammen, doch als Dr. Daniel sah, mit welcher Vertrautheit Dr. Sommer und seine Frau miteinander umgingen, zog wieder eine leise Wehmut in sein Herz.

      Entschlossen stand er auf. »Ich werde euch jetzt nicht mehr länger zur Last fallen.«

      Dr. Sommer betrachtete ihn genau und spürte, was in ihm vorging.

      »Du willst doch wohl um diese Zeit nicht noch bis Steinhausen fahren«, erklärte er.

      »Das kommt ja überhaupt nicht in Frage«, stimmte Margit sofort zu. »Das Gästezimmer steht bereit, Robert. Schlaf dich richtig aus, und morgen früh bringe ich dich dann nach Steinhausen zurück.«

      Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Das kann ich unmöglich annehmen. Wenn überhaupt, dann fahre ich mit dem Zug, aber ich könnte mir auch ein Taxi nehmen und gleich…«

      »Keine Chance, Robert«, fiel Dr. Sommer ihm energisch ins Wort. »Du bleibst hier.« Und ohne seinen Freund noch einmal zu Wort kommen zu lassen, begleitete er ihn ins Gästezimmer und legte ihm einen Schlafanzug heraus.

      »Er wird dir zwar überall ein bißchen zu weit sein, aber im Bett sieht dich ja keiner«, meinte er grinsend. »So, und bevor du die Schlafanzughose anziehst, bekommst du von mir noch eine Spritze.«

      Entsetzt starrte Dr. Daniel seinen Freund an. »Wie bitte?«

      »Du hast schon richtig gehört. Ich will,

Скачать книгу