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Gewalt und lockenden Worten hinter sich her.

      Während die Abgängigkeitsfahnder in Österreich fast alle Fälle vermisster Kinder klären konnten, gab es in anderen Ländern leider nicht immer so gute Erfolge. In der damaligen Tschechoslowakei kam es öfter vor, dass Kinder aus Wohnblockvierteln verschwanden und nie wieder auftauchten.

      Eines Tages – es war im Sommer 1992 – stieß ich beim Durchstöbern einer alten Akte auf einen Fall, den ich längere Zeit zuvor von einem guten Freund aus dem Auswärtigen Amt bekommen hatte, der im Österreichischen Generalkonsulat in Bratislava Dienst versah. Der offizielle Datenaustausch über Interpol funktionierte damals mit der Slowakei etwas schleppend und die Berichterstattung hinsichtlich der Auffindung von unbekannten Leichen erfolgte zumeist auf diplomatischem Weg.

      Mein Bekannter hatte mir von dem abgängigen Lubos Bednar, einem fünfjährigen Buben, der im Jahr 1988 spurlos verschwunden war, erzählt. Der Sachverhalt ließ hier eigentlich keine Zweifel aufkommen: Der kleine Junge wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entführt. Es gab zu dieser Zeit in der damaligen Tschechoslowakei mehrere solcher Fälle. Die Kinder sind dabei aber nicht an Sexualtäter vermittelt und geschlagen oder auf eine andere Art und Weise misshandelt, sondern an gut situierte und bezahlende Ehepaare im »reichen Westen« verkauft worden. Es galt auch als Tatsache, dass manchmal die Kindeseltern selbst diese Kidnappingaufträge gaben, um an Geld zu kommen oder ihrem Kind eine bessere Zukunft bieten zu können.

      Laut den Ermittlungen der tschechoslowakischen Behörden bestand bei Lubos der Verdacht, dass der Junge im Kofferraum eines Pkws über die Grenze nach Österreich geschmuggelt worden war. Es handelte sich bei dieser Version aber nur um eine Annahme. Ebenso bestand die Möglichkeit, dass der Fünfjährige entgegen aller Vermutungen in ein zwielichtiges Milieu vermittelt worden war und heute sein Dasein als Stricher oder Drogendealer in Wien fristet. Oder längst in Armut und einem kalten, menschenunwürdigen Umfeld sein Leben verloren hatte.

      Jetzt lag dieser alte Akt aus dem Jahr 1988 vor mir, in dem sich auch ein Fahndungsersuchen der nun slowakischen Kriminalpolizei in englischer und deutscher Sprache befand. Es gab ein Foto von Lubos, welches kurz vor seinem Verschwinden aufgenommen worden war. Der kleine Junge hatte ein etwas längliches und freundliches Gesicht, blondes, gelocktes Haar und trug auf diesem Bild ein großkariertes Hemd. Ich entdeckte außerdem eine Computerrekonstruktion, die das vermutliche Aussehen des Jungen mit einem Lebensalter von 15 Jahren darstellte.

      Der durch die Übersetzung ein wenig fehlerhafte Fahndungstext zu Lubos Bednar lautete:

      Die Kriminalpolizei der slowakischen Republik bittet um die Zusammenarbeit und Hilfe bei der Fahndung nach der vermissten unmündigen Person Bednar, Vorname Lubos, geboren am 7.7.1983, zuletzt wohnhaft in der Slowakei, Púchov. Der Genannte hat am Samstag den 27. August 1988 ca. um 12 Uhr von vorn des Hauses, in dem er gewohnt hat, schleierhaft verschwunden. Trotz der umfangreichen Fahndung in allen Mitgliedsländern von Interpol in der ganzen Welt wurde er bisher nicht gefunden. Es gibt Hinweise dazu, dass er in das Ausland zum Zwecke einer Adoption entführt wurde. In der Zeit seiner Verschwindung als 5-jähriger war Bednar Lubos ca. 1,22 m groß, vollschlank, helles lockeres Haar, mit der ca. 0,5 cm langen Narbe auf dem Kinn. An seinem Rücken zwischen Schulterblättern befand sich ein ellipsenförmiges drei mal eins großes Muttermal. Seine jeweilige Personenbeschreibung ist unbekannt. Auf dem Lichtbild Nummer 1 ist Bednar Lubos 5 jähriger kurz vor seiner Verschwindung – das Lichtbild Nummer 2 ist sein Phantombild, das mittels einer Computerverarbeitung angefertigt wurde und seinem diesmaligen Aufsehen entsprechen sollte.

      Nach meinen weiteren Erkenntnissen wohnte Lubos zum Zeitpunkt seines Verschwindens gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem Wohnblock in einer eher zweifelhaften Gegend. Er hielt sich gemeinsam mit seinem älteren Bruder auf dem Spielplatz auf, als die Mutter ihre beiden Söhne um 12 Uhr mittags zum Essen rief. Lubos’ Bruder lief daraufhin sofort nach oben in die Wohnung, der Fünfjährige wollte gleich darauf nachkommen, doch er ist nicht aufgetaucht – nie mehr!

      Was war mit dem freundlichen Kind, das an diesem Sonntag im Jahr 1988 offenbar vertrauensvoll die Hand eines Fremden ergriffen und für einen kurzen Moment die mahnenden Worte seiner Eltern »Geh nicht mit Leuten mit, die du nicht kennst« vergessen hatte, passiert?

      Es gab konkrete Verdachtsmomente, die auf einen Aufenthalt des Buben in Österreich hindeuteten. Aber sie waren zu schwach, um weitere zielführende Maßnahmen einleiten zu können. Ich halte es nicht für abwegig, dass der kleine Junge tatsächlich in den Westen entführt wurde. Eine offizielle Adoption über österreichische oder deutsche Behörden war damals – und ist es heute noch immer – mit viel Aufwand und Bürokratie verbunden. Deshalb war es für kinderlose, wohlhabende Paare durchaus eine Alternative, eine Auslandsadoption anzustreben, die mit immensen Kosten verbunden war. Die angeblichen Vermittler ließen sich die oftmals zum Zweck einer Adoption entführten Kinder teuer bezahlen.

      Doch durfte ich auch die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Lubos nie außer Landes geschafft worden war, dass ein Fremder den Jungen damals vom Hof entführt, missbraucht und nach der Tat seinen geschundenen Körper so gut »entsorgt« hatte, dass er nicht gefunden werden konnte.

      Leider gelang es auch uns nicht, Lubos wiederzufinden. Alle Spuren verliefen ergebnislos im Sande und sind heute bereits verweht.

      Wollen wir hoffen, dass Lubos noch lebt – vielleicht in Österreich, vielleicht in Deutschland, unter Umständen sogar in seiner Heimat … wer weiß!

      Möglicherweise kennt er seine wahre Identität und möchte nicht mehr nach Hause. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er einen deutschen Namen trägt und gar nicht weiß, dass er Lubos heißt und seine Eltern sowie sein Bruder in der heutigen Nordwestslowakei immer noch auf ihn warten, weil sie davon überzeugt sind, dass er noch lebt.

      Vielleicht will das Schicksal aber auch, dass der Leser dieses Buches einen jungen Mann kennt, der am Rücken zwischen den Schulterblättern ein ellipsenförmiges, drei Mal ein Zentimeter großes Muttermal und am Kinn eine 0,5 Zentimeter lange Narbe hat, und gibt mit dieser Information Lubos seine wahre Identität zurück.

      Vielleicht ist es Lubos selbst, der dieses Buch irgendwann in Händen hält und sich wiedererkennt.

      Gabriele – Kein roter Faden

      Blaugraue Rauchschwaden wandern träge durch das Lokal und senken sich auf die Tanzfläche wie ein hauchdünner Schleier. Es ist brütend heiß, die dicke Luft riecht nach den Ausdünstungen der tanzenden Menschen, die sich über das Parkett bewegen – langsam, im Rhythmus zu den alten Schlagern, die zu dieser vorgerückten Stunde auf die baldige Sperrstunde vorbereiten sollen. Die Schnulze »Only You« von Elvis stimmt die noch anwesenden Frauen gefügig und lässt alle übrig gebliebenen Männer hoffen, die Nacht nicht alleine verbringen zu müssen.

      Gabriele nimmt noch einen Schluck aus ihrem Glas, in dem sich letzte Reste einer pinkfarbenen Flüssigkeit befinden, und verabschiedet sich von den anderen Stammgästen. Wieder geht ein Abend zu Ende wie viele davor: viel getrunken, viel gelacht, viel getanzt. Leider auch viel gestritten, so wie immer. Erich entschuldigt sich bei Gabriele für den Ausraster. Natürlich will er sie nicht umbringen. Er schreibt die unbedachten Worte dem Alkohol zu.

      Als Gabriele und Erich mit einem Bekannten das Tanzcafé verlassen und hinaus in die warme Julinacht treten, hat sie ihm schon längst verziehen. Die Flügeltür schließt sich hinter der angeheiterten Gesellschaft. Zum letzten Mal für Gabriele Barta.

      In meiner Zeit als Abgängigenfahnder gab es Fälle, die beinahe täglich aktualisiert werden mussten, ohne dass man der verschwundenen Person dabei auch nur einen Schritt näher kam; Vermisstenakten, denen man beim Wachsen buchstäblich zuschauen konnte und die dennoch viele falsche Fährten enthielten.

      Was bringt eine mitten im Leben stehende Frau dazu, plötzlich all ihre Kontakte abzubrechen und jene, die sie liebt, ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen? Das ist eine Frage, die ich mir seit dem 23. Juli 1990 beinahe täglich stelle. Es war der Tag, an dem die damals 30-jährige Gabriele Barta aus Wien Landstraße als abgängig gemeldet wurde.

      Im Sommer 1990 landete

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