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oder daran hindern. Er ist fest entschlossen, seinem Leben, so wie es jetzt ist, ein Ende zu bereiten.

      Mirko nimmt sich ein Stück Papier und einen Bleistift und beginnt zu zeichnen. Das Strichmännchen, das ihn selbst darstellen soll, trägt einen Rucksack voller schwerer Steine auf die Brust geschnallt und springt damit von einer Brücke in die Donau.

      Es ist beschlossen, denkt der Junge und legt seine Brille zur Seite. Ab morgen ist alles anders … vielleicht sogar besser.

      Von allen Abgängigkeitsfällen, die mir bis dato untergekommen waren, begann der von Mirko Spase wohl am theatralischsten. Der hochintelligente Mirko, ein Computer-Genie, das sich in vier Sprachen verständigen konnte, aber auch sportlich gut in Form war, verschwand am 15. März 1995 aus der Internationalen Schule in Wien – und das sechs Tage vor seinem 18. Geburtstag.

      Ich bekam den Fall auf den Tisch und überlegte, was mit dem schlauen Jungen passiert sein könnte, während ich die Ermittlungen einleitete und alle nötigen ersten Schritte zur Suche des Abgängigen veranlasste.

      Einem Menschen schien es allerdings von Anfang an egal zu sein, warum Mirko nicht mehr auftauchte, nur die Tatsache, dass er plötzlich weg war, sie verlassen hatte, zählte – für Mirkos Mutter, K. Spase, eine gebürtige Polin!

      Helfen konnte oder wollte sie den Ermittlern jedenfalls nicht. Sie erklärte bei der Befragung immer wieder, dass sie keine Ahnung hätte, warum ihr Sohn ihr »das antat«.

      An jenem Tag, an dem der Junge verschwunden war, war er auch das letzte Mal in seiner Schule gesehen worden. Ein Lehrer hatte in seinem Bankfach einen Abschiedsbrief gefunden, der uns Rätsel aufgab. Er war in englischer Sprache verfasst und auf einer Diskette mit dem Titel »gameover« gespeichert. In diesem Schreiben, das nicht einen Hauch von Sentimentalität erkennen ließ, nahm Mirko Abschied von dieser Welt. Es fand sich auch keine Spur von Verzweiflung oder Verbitterung, lediglich Zeichen einer immensen Ablehnung der Gegebenheiten, in einer absolut sachlichen und distanzierten Schilderung der Umstände.

       Originalbrief von Mirko Spase (ins Deutsche übersetzt):

      Hallo allerseits. Nein, tschüss wäre vielleicht passender …

      Es ist gerade 19:24, kurz nachdem Bosh mich angerufen hat. Ich höre gerade Melodien von »Offspring« und im Hintergrund die Stimme meiner Mutter, die nach mir ruft. Ich weiß nicht, was zum Teufel sie will, aber es scheint nicht allzu wichtig zu sein, da sich die Zahl ihrer Rufe in Grenzen hält.

      Na gut … jetzt komme ich zum wichtigen Teil … der einzige Grund, warum ich den Blödsinn oben geschrieben habe, ist, dass ich nicht weiß, wie ich ans Eingemachte gehe. Aber jetzt weiß ich’s: Ich fange einfach damit an, euch zu erzählen, wie alles begann – was ich damit meine, ist, wie ich auf die Idee gekommen bin, den Selbstzerstörungsknopf zu drücken.

      Eigentlich weiß ich nicht einmal mehr, wann zum Teufel das war! Soweit ich mich erinnern kann, habe ich irgendwie schon immer darüber nachgedacht. Sogar als ich erst so um die fünf Jahre alt war, fragte ich mich schon, wie es sein würde, mich einfach umzubringen … Aber ich entschied mich dafür zu warten und zu beobachten, wie sich die Dinge entwickeln.

      Es ist nicht so, dass ich ein schweres Leben hatte – Nein! Als einziger Sohn einer gehobenen Mittelklasse-Familie, die gutmütige Menschen waren, hatte ich ein hervorragendes Leben. Deshalb werdet ihr euch wahrscheinlich fragen: »Warum zum Teufel hat sich dieser Schwachkopf umgebracht?« Alles was ich dazu sagen will, ist, dass keines der üblichen Motive wie übermäßiger Stress, eine ausweglose Situation im Leben usw. zutrifft. Na gut, muss jetzt gehen – es gibt Essen.

       [Nächster Tag]

      Verdammt! Ich hab’s nicht geschafft, den ganzen Scheiß rechtzeitig aufzuschreiben, genauso wie es mir mit meiner Hausübung immer geht! Jetzt muss ich es im Computerraum in der Schule schreiben.

      Aber nun zurück zur Geschichte. Nein, es ist einfach so, dass das Leben einfach nervig geworden ist. Ich meine, es gibt nichts, worauf man sich freuen kann. Und außerdem werde ich früher oder später sowieso tot sein, wieso also so lange warten, bis ein unerwartetes Ereignis dein Leben beendet, wenn du alles planen und unter Kontrolle haben kannst? Noch dazu ist da diese seltsame Neugierde – wie wird es sein, wenn ich tot bin? Ich nehme an, es wird das gleiche Gefühl sein wie jenes, das ich hatte, bevor ich geboren wurde, bevor ich existiert habe, sogar noch bevor meine Großeltern geboren wurden – nämlich gar keines.

      Das Bedürfnis, mich umzubringen, kommt schubweise, erst baut es sich auf, dann ist es wieder weg und ich denke die nächsten Monate nicht daran. Dieses Mal habe ich beschlossen, es auf die Reihe zu kriegen und es einfach zu tun! Dass ich es tue und wie ich es tue, habe ich gestern während des Mittagessens im Esszimmer entschieden. Auf einmal hat es mich angewidert zu essen und ich habe mein Tablett mit dem halb aufgegessenen Mittagessen weggeschoben.

      Ich habe versucht, mir einen einzigen guten Grund zu überlegen, mich nicht umzubringen, und leider (oder zum Glück!) habe ich es nicht geschafft. Als ich andere nach ihrer Meinung gefragt habe, haben sie es ebenfalls nicht geschafft, gute Gründe zu finden.

      Alles was ich mit diesem Brief sagen will, ist, dass nichts und niemand außer mir für meinen Tod verantwortlich ist. Ich habe nicht mehr getan als ein Mensch, der jeden Tag raucht – ich habe einfach mein Leben verkürzt.

      Mein besonderer Dank gilt:

      Meinen Eltern. Danke für alles. Es tut mir leid.

      Bosh. Du warst ein cooler Freund. Und vergiss nicht, deine Freundin flachzulegen!

      Tamara. Mach dir keine Sorgen, niemand, mit dem ich gesprochen habe, hat einen Grund gefunden, der zufriedenstellend wäre.

      Und jetzt wird es Zeit, dass ich gehe, meine Schultasche mit Steinen anfülle und von der Reichsbrücke springe …

      Mirko Spase

      Der Junge hatte also einfach alles satt. Verblüffend war allerdings die Reife, die er dabei an den Tag legte: Er gab bei allem Widerwillen gegen alle und alles um ihn herum niemandem die Schuld an seiner Situation!

      Dem Brief beigelegt war eine von Mirko handgezeichnete Skizze, die ihn selbst in ironischer Weise als Strichmännchen mit Brille darstellte. Die Karikatur trug einen Rucksack voller Steine und sprang von der Wiener Reichsbrücke, die der Junge symbolisch »Friedensbrücke« nannte. Die schwere Tasche hatte die Figur vorne an die Brust geschnallt, was verdeutlichen sollte, dass Mirko plante, mit dem Gesicht auf das Wasser zu prallen, um unmittelbar danach das Bewusstsein zu verlieren. Das Gewicht der Steine würde dann schlussendlich den Körper des bewusstlosen Teenagers in die Tiefen der Donaufluten ziehen. Es schien, als hätte Mirko an alles gedacht. Ja, er hatte sogar ein Testament verfasst, in dem er einem guten Freund, Bozdan, seinen Computer vererbte. Das Testament war von besagtem Schulfreund unterschrieben.

      Aber hatte Mirko tatsächlich ohne jede erkennbare Gefühlsregung und auf solch wohlüberlegte Art und Weise einen Selbstmord geplant, den er mittels einer makaberen Zeichnung ankündigte? War der 17-Jährige überhaupt tatsächlich lebensmüde gewesen und hatte sich zum Zeitpunkt des Auffindens seiner Nachricht bereits das Leben genommen?

      Diese Fragen stellten wir uns damals alle. Doch mit »Ja« beantworten wollte sie eigentlich niemand so wirklich. Auch hielten Experten den Abschiedsbrief des Jungen für viel zu lang und zu ausführlich, um einen Plan zu beschreiben – da war mehr Fantasie im Spiel als Realität. Allerdings handelte es sich dabei um reine Spekulation, denn wer konnte schon so genau wissen, was in dem Kopf eines hochintelligenten Jungen, der sein Leben hasste, vorging? Interessant war allerdings auch die Tatsache, dass Mirko die Nachricht zu seinem Selbstmord am Vortag seines Verschwindens begonnen und direkt am Tag seiner Abgängigkeit in der Schule fertiggeschrieben hatte. Dies stützte die Theorie von der nicht wirklich vorhandenen Lebensmüdigkeit des Jungen, da es eine absolut untypische Vorgangsweise für einen Menschen ist, der sich wirklich das Leben nehmen will.

      Aber was war tatsächlich passiert? Was konnte Mirko dazu veranlasst haben, einen Selbstmord anzukündigen und dann abzuhauen?

      Wir begannen zu ermitteln und schlossen

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