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mit einem kurzfristigen Untertauchen als Denkzettel für die Hinterbliebenen, glaubten wir allerdings ebenso wenig.

      Also hatte Mirko doch Selbstmord begangen und sich dabei eben untypisch verhalten? Wollte ein Junge, dem durch seine enorme Intelligenz die ganze Welt offenstand, tatsächlich einfach nicht mehr leben?

      Mirkos Mutter erinnerte sich in einem weiteren Gespräch endlich doch noch an ein Detail: »Mein Sohn hat am Abend vor seinem Verschwinden einen Anruf erhalten und ist ganz aufgeregt sofort zum Apparat gelaufen, als hätte er schon ungeduldig darauf gewartet. Unmittelbar nachdem Mirko den Hörer abgenommen hatte, zog er sich mit dem Telefon in sein Zimmer zurück. Es war sein Freund, mit dem er danach über eine halbe Stunde lang sprach.«

      Am nächsten Tag wollte Mirkos Mutter ihren Sohn von der Schule abholen, doch sie wartete vergeblich. Mirko konnte unbemerkt, anzunehmenderweise freiwillig, den Unterricht frühzeitig verlassen – für immer, wie es schien!

      Zu Hause hatte Mirkos Mutter auf dem Schreibtisch ihres Sohnes dann einen in seiner polnischen Muttersprache verfassten Hinweis auf die Diskette in der Schule gefunden, die sich in seinem Schulbankfach befand und über die sein Freund Bescheid wusste.

      Aufgrund der umfangreichen Recherchen wurde auch bald klar, dass sich Mirkos Mutter unter allen Umständen einen überaus erfolgreichen Sohn gewünscht hatte. Dementsprechend könnte dem Jungen diese Last zu schwer geworden sein. Aus diesem Grund ließen wir Mirko über die Medien eine Nachricht zukommen, in der wir ihm den Kontakt mit einer Vertrauensperson vom Jugendamt anboten. Dies sollte ihn ein wenig aus der eventuell von seinem Elternhaus ausgehenden Drucksituation befreien. Ebenso wurde ihm in Aussicht gestellt, ihn bei einer frühzeitigen Erlangung der Volljährigkeit zu unterstützen.

      Aber so groß unsere Bemühungen auch waren, wir erhielten lange Zeit kein Lebenszeichen von Mirko. Auch auf eine ins Internet gestellte Abgängigkeitsmeldung samt Beschreibung des Jungen – »183 cm groß, ca. 65 kg schwer, dunkelbraune Haare, aufgestülpte Nase, sehr großer Mund und sehr kleine, anliegende Ohren. Bekleidet war er zuletzt mit Bluejeans und dunkelgrüner Jacke« – kamen keine Reaktionen, woraufhin die Meldung einen Monat später wieder entfernt wurde. Die Mutter des Jungen klebte sogar ein Fahndungsplakat an eines der Fenster ihres Autos und fuhr damit ständig quer durch Wien, in der Hoffnung, Hinweise zu erhalten. Vergeblich.

      Dann ergab sich in dem Fall plötzlich eine mögliche Wende. Eines Tages flatterte ein Foto von der Interpol Frankreich auf meinen Schreibtisch. Dort war ein junger, total ausgehungerter Mann mit unbekannter Identität aufgegriffen worden. Als ich das Foto sah, spürte ich ein klein wenig Anspannung und Hoffnung in mir, da dieser Fremde die gleiche Brille trug wie Mirko! Die baldige Klärung des schwierigen Falles lag mit einem Mal im Bereich des Möglichen.

      Ein Vergleich der Fingerabdrücke sollte Klarheit in die Sache bringen. Und die Klarheit kam mit der Gewissheit – der aufgegriffene junge Mann war nicht der Gesuchte!

      Alle Fahndungsmaßnahmen nach Mirko verliefen bis heute ohne Erfolg. All jene, die befragt wurden – auch sein Freund – beteuerten, nichts über den tatsächlichen Aufenthalt des Abgängigen zu wissen.

      Was geschah mit dem klugen Jungen, dessen Schicksal seit fast zwanzig Jahren völlig im Dunkeln liegt?

      Doch so wenig, wie ich damals an einen Selbstmord glaubte, so wenig tue ich das heute. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass Mirko, mittlerweile ein erwachsener Mann, lebt! Mit einer ausgezeichneten Planung und der tollen Unterstützung von Fluchthelfern ist es ihm gelungen, sein alltägliches Leben hinter sich zu lassen. Und wenn man weiß wie, dann ist Untertauchen tatsächlich kein Problem!

      Ein wenig erinnert mich die Geschichte des 17-Jährigen an einen Mythos, vielleicht sogar an den von Elvis Presley. Verschwunden, um neu zu beginnen?

      Nicholas George – 007 in Wien

      Die Lichter des Weihnachtsmarktes blinken durch die Bäume, stimmungsvolle Musik und der Duft nach gebrannten Mandeln wehen zu dem 47-jährigen Mann herüber, der vor der Votivkirche in eisiger Kälte auf seine Bekannten wartet. Vereinzelt fallen Schneeflocken vom dunklen Himmel und tanzen im Licht der Straßenlaternen zu Boden.

      Nicholas Shadrin, ein US-Amerikaner mit rabenschwarzem Haar und dicken Augenbrauen, tritt von einem Fuß auf den anderen und vergräbt seine zu Fäusten geballten Hände in den tiefen Taschen seines Wollmantels, während er ungeduldig um sich blickt. Der Geschäftstermin lässt auf sich warten. Shadrin, ein riesiger Mann mit einem hundert Kilo schweren Körper, denkt an seine Frau Ewa, die gerade in der Wiener Staatsoper sitzt und den zauberhaften Klängen klassischer Musik lauscht. Sie wollte nach der Vorstellung sofort ins Hotel zurückkehren und wach bleiben, bis er von seinem Treffen kommt, falls er nicht schon vor ihr dort eintreffen würde. Der Mann blickt auf die goldene Rolex an seinem Handgelenk und stellt fest, dass sich sein Geschäftspartner verspätet, es ist bereits 19 Uhr 10.

      Gerade als Nicholas Shadrin beschließt, sich ein Taxi zu rufen, um ins Bristol zurückzufahren, legt sich eine schwere Hand auf seine Schulter und eine tiefe Stimme flüstert ihm mit ausländischem Akzent ins Ohr: »Dobry wetscher!«

      Als in Wien der gebürtige Russe Nicholas George Shadrin spurlos verschwand, war ich gerade einmal 14 Jahre alt und weit davon entfernt, als Abgängigenfahnder tätig zu sein. Doch bei diesem Fall handelte es sich um eine derart spektakuläre Abgängigkeit, dass man sich davon noch viele Jahre später erzählte – und so kam auch mir die Geschichte des Doppelagenten zu Ohren, als ich meinen Dienst im Wiener Sicherheitsbüro antrat.

      Im Dezember 1975 befanden sich der ehemalige sowjetische Marineoffizier, der am 19. Mai 1928 in Leningrad als Nikolai Fjodorowitsch Artamonov geboren worden war, und seine Ehefrau Ewa Shadrin, mit Mädchennamen Blanka, auf einem Zwischenstopp in Wien, bevor das Pärchen in seinen Skiurlaub im Nobelwintersportort Zürs am Arlberg weiterreisen wollte. Der wohlhabende 47-Jährige, der offiziell in einer Beraterfunktion für die US-Regierung arbeitete, wollte während des Aufenthalts in der Donaumetropole das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und hatte in der City einen Geschäftstermin vereinbart.

      Shadrin war nach seinem Offiziersdienst in Riga und Lettland im Jahr 1959 zu den Vereinigten Staaten von Amerika übergelaufen und seitdem für die Regierung tätig. Er wurde vor allem für verschiedenste Spionageabwehrtätigkeiten während des Kalten Kriegs eingesetzt und genoss hohes Ansehen bei seinen Vorgesetzten.

      18. Dezember 1975, 12 Uhr 30, Flughafen Wien Schwechat: Die Linienmaschine der BEA aus Washington, Flug Nummer 552, landete pünktlich. Die österreichischen Einreiseformalitäten für die amerikanischen Touristen waren schnell erledigt – ein kurzer Blick in die Papiere, und schon winkten die Grenzbeamten die US-Bürger freundlich durch. Wenig später bestiegen Ewa, eine gebürtige Polin, und Nicholas Shadrin ein Taxi Richtung Wien City.

      18. Dezember 1975, kurz nach 14 Uhr, Wiener Innenstadt, Hotel Bristol: Das glamourös wirkende Paar aus den USA traf in seinem Luxushotel am Kärntnerring ein, das sich direkt neben der Staatsoper befand, und bezog das Zimmer Nummer 361 im dritten Stock. Ewa erkundigte sich telefonisch beim Portier nach dem Spielplan der Wiener Opernhäuser und orderte kurz darauf zwei Karten für die Abendvorstellung in der Volksoper am 19. Dezember, aber nur eine Karte für eine Aufführung in der Staatsoper am Tag darauf.

      Das Personal des Nobelhotels würde später aussagen, dass an den beiden amerikanischen Touristen, die sich sehr kultiviert gaben und großzügige Trinkgelder verteilten, nichts auffällig war oder gar verdächtig wirkte. Außer vielleicht, erinnerten sich dann doch noch einige der Angestellten, dass das Paar stets erst gegen ein Uhr mittags sein Zimmer verließ.

      18. Dezember 1975, 17 Uhr 50, Wiener Innenstadt, Votivkirche: Nicholas Shadrin verließ das Hotel und fuhr mit dem Taxi die rund zwei Kilometer bis zur Votivkirche, vor welcher der Russe mit seinen Geschäftspartnern verabredet war. Pünktlich um 18 Uhr erschien Oleg Kozlow, ein sowjetischer Staatsbürger, den Shadrin von zahlreichen Treffen in Washington kannte. Die beiden Männer liefen durch die schneidende Kälte und den knirschenden Schnee bis zur Baustelle der U-Bahn-Station Schottentor, die im Jahr 1980 eröffnet werden sollte. Dort wartete mit laufendem Motor eine

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