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Instagirl. Annette Mierswa
Читать онлайн.Название Instagirl
Год выпуска 0
isbn 9783732012572
Автор произведения Annette Mierswa
Издательство Bookwire
10
Am nächsten Tag schwänzte ich die Schule und blieb im Bett. Ich hatte nichts mehr anzuziehen. Gegen Mittag klingelte es an der Tür. Mama war bei der Arbeit. Ich zog einen Bademantel an und nahm drei gigantische Pakete entgegen. Mein Herz klopfte Gangnam, als ich sie öffnete. Das war wie Weihnachten hoch zehn. So coole Sachen hatte ich noch nie besessen. Ich zog die erste Hose an und blickte in den Spiegel. Verdammt. An dem Mädchen aus dem Tutorial hatte sie wunderschön ausgesehen, aber an mir? Nur mit Mühe bekam ich den Knopf zu, und das bei Größe 36. An den Oberschenkeln quetschte sie mir fast das Blut ab, während sie an den Waden etwas schlabberte. Frustriert warf ich eine Decke über den Spiegel und zog schnell ein langes Shirt an, das am Rücken weit ausgeschnitten war. So konnte ich den Hosenknopf offen stehen lassen. Das Shirt passte, aber der rosa Ausschnitt biss sich mit meinen roten Haaren. Ich steckte sie hoch und probierte die Schuhe an. High Heels traute ich mir noch nicht zu, aber diese halbhohen Stiefeletten dürften kein Problem sein. Sie saßen perfekt. Und Perfektion war mein Ziel. Perfektion würde mir Halt geben. Das Make-up aufzutragen fühlte sich toll an, wie eine Maske, hinter der ich alles verstecken konnte, vielleicht sogar mein altes Leben. Für die Augen brauchte ich fast eine Stunde. Himmel, war das kompliziert. Wie schaffte Kim das alles morgens vor der Schule? Dann der Lippenstift, ein helles leichtes Rot. Als ich fertig war, stellte ich mich vor den verhüllten Spiegel wie bei Germanys Next Topmodel. Der erste Blick nach dem Make-over. Ich zog die Decke weg und erstarrte … Mein erster Gedanke: Miss Piggy nach einer Nasen-OP. Ich warf mich aufs Bett und heulte zwei Pakete Taschentücher durch, die sich schillernd verfärbten. Anschließend sah mein Gesicht aus wie nach einem Farbbeutelanschlag. Ich eskalierte komplett, schleuderte die Stiefeletten durch das Zimmer, pellte mich aus der viel zu engen Hose, riss an dem Shirt, dass die Nähte kreischten, und verschwand in der Dusche, wo ich eine halbe Stunde lang an meinem Gesicht herumrubbelte, bis es aussah wie eine rote Warnlampe. Bing, bing, bing, machte das Handy in einem fort. Flüchtig blickte ich auf die Chatliste. Yara, Matteo, Josh, Suri, Anouk … die halbe Klasse hatte mir Nachrichten geschickt. Bloß nicht öffnen, sonst kam ich um Antworten nicht herum. Ich schmiss das Handy in eine Zimmerecke. Gleich darauf suchte ich es jedoch verzweifelt in einem Kleiderhaufen, und als ich es fand, drückte ich auf Kim und tippte: Das Tutorial ist cool, aber … Ich fügte einen verzweifelten Smiley hinzu und wählte senden. Wieder war sie sofort online, aber nur für ein paar Sekunden. Keine Antwort. Die Welt war ein unendlicher, trostloser Ozean und ich eine einsame fette Seekuh. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich ließ es klingeln. Aber beim dritten Mal schrillte es minutenlang. Also zog ich schnell einen Bademantel an und schlurfte zur Tür. Und da stand Kim, wie aus dem Ei gepellt.
»Lass mal sehen«, sagte sie und ging einfach an mir vorbei ins Haus. Himmel, Kim. Ich zog mir noch die Kapuze über den Kopf. Aber es war lächerlich. Sie hatte die Situation sofort durchschaut. Dann schien sie in Sekundenschnelle unsere Wohnung zu scannen und steuerte zielstrebig die Treppe zur oberen Etage an. »Die Sachen hast du noch?« Ich wackelte hinter ihr her wie ein Pinguin. Seekuh, Pinguin. Ich mutierte in Lichtgeschwindigkeit durch die Fauna.
»Welche Sachen?« Kim balancierte die Treppe hoch wie über den Laufsteg einer Modenschau und schien mich gar nicht zu hören. Es gab drei Türen, aber sie öffnete zielsicher die meine und blieb im Eingang stehen. Ich schob mich an ihr vorbei. Wieder dieser abartige Blick. Ich konnte spüren, wie sie blitzschnell Schlüsse zog. Die Wolldecke, halb über dem Spiegel hängend; die umgestülpte Jeans, achtlos weggeworfen; die fleckigen Taschentücher im Mülleimer; die über das ganze Zimmer verstreuten Kosmetika.
»Aha«, sagte sie bloß, schritt auf das traurige Häufchen Klamotten zu und zog ein schwarzes Top heraus, das ich seit Monaten nicht mehr getragen hatte. Dann sah sie sich das neue Shirt an und drückte mir beides in die Hand. »Drunter das Top, drüber das Shirt, aber mit der Rückseite nach vorne.« Sie stocherte mit einem Zeigefinger in den restlichen Sachen herum wie in einer Kloake, zog eine Hose heraus, warf sie mir zu und desinfizierte sich anschließend die Hände. »Schneid sie an den Knien auf und näh das Label von der neuen Hose über das H&M-Schild. So muss es fürs Erste gehen.« Sie zeigte auf eine der Stiefeletten, die unter dem Schreibtisch lag. »Passen die?« Ich nickte. »Na also.« Zufrieden ließ sie sich auf mein Sofa herabgleiten und verschränkte die Arme. Ich musste schrecklich ausgesehen haben, wie ich da vor ihr stand, im schlumpfblauen Bademantel mit verheulten roten Augen. »Was ist?«, sagte sie. »Ich muss noch Hausaufgaben machen. Also los!« Kim und Hausaufgaben? Das war wie Papa und Paul. Aber ich sagte nichts, bekam ja schließlich von Kim, der Erscheinung Kim, ein kostenloses Coaching. Also ließ ich mir von ihr die erste Lektion in Sachen Styling erteilen. Die neue Klamottenkombination stand mir tatsächlich gut, und während wir vor dem Spiegel saßen und sie mir Schminktipps gab, wurde ich immer lockerer, denn es schien ihr wirklich Spaß zu machen, ihr umfangreiches Wissen weiterzugeben. Sie kam richtig in Fahrt. Es war das erste Mal, dass ich sie mehr als einen Satz am Stück reden hörte. Und es war auch das erste Mal, dass sie lachte. Lenny wäre dahingeschmolzen. Wahrscheinlich hätte er sie jetzt bezaubernd genannt anstatt affengeil oder hammermäßig.
»Bist du eigentlich auf Instagram?«, fragte ich, während sie meine Haare glättete.
»Klar, mein Account heißt KimGalaxy.« Sie entblößte ihr Handgelenk und hielt mir ihr Tattoo vor die Nase.
»Cool.« Ich überlegte kurz, wie wohl ein Kaninchentattoo bei mir aussehen würde, verwarf die Idee aber sofort wieder. Schließlich vergingen drei Stunden, bis ich die neuen Klamotten halbwegs selbstständig kombinieren und mich schminken konnte. Dann hielt Kim ihre Schlussrede, die wie eine Art Mantra für meinen Überlebenskampf werden sollte.
»Die Optimierung deines Körpers wirkt wie ein Resonanzverstärker«, hob sie an, »er ist ein Rohstoff, den du verändern und damit verbessern kannst. Alles um dich herum kann sich jederzeit auflösen – zum Beispiel deine Familie. Aber dein Körper bleibt. Er ist deine einzige Sicherheit. Und um von der Welt gesehen zu werden, musst du Aufmerksamkeit bekommen, Likes. Sonst existierst du praktisch nicht und niemand wird sich je an dich erinnern. Die Welt ist dein Warenhaus. Du musst dich nur bedienen und gut in Szene setzen. Und ich bin deine Regieassistentin, die dir bei der Inszenierung hilft.« Es klang wie auswendig gelernt, aber ich wollte ihr jedes Wort glauben. Ich hing an ihren Lippen, denn sie sagte genau das, was ich brauchte, was mich wiederaufrichten würde. Ja, mein Körper war meine Sicherheit. Der konnte mich nicht verlassen, und wenn ich ihn gut formte und verpackte, würde er mich auch nicht enttäuschen. So einfach war das. Ich klammerte mich also an Kims »Mantra« und baumelte willig in ihrem Netz, während mich die bezaubernde Spinne langsam einwickelte. Wir waren gerade dabei, meine endlich mal glatten Haare zu kämmen, als Mama hereinkam.
»Oh, Besuch«, sagte sie. »Ist Isabelle im Bad?« Kim und ich sahen uns an, prusteten laut los und schlugen die Hände ein. Mama blickte verwirrt, bis sie mich erkannte und sowohl Augen als auch Mund aufriss. »Isabelle?!«, sagte sie.
»Bingo.« Ich warf die Haare über die Schulter, wie Kim es immer tat, und strahlte überglücklich.
»Easy passt jetzt besser«, sagte Kim, während sie sich die Hände desinfizierte. »Easy wie voll easy.«
»Und wer bist du?«, fragte Mama.
»Ich bin Kim, Easys persönliche Beraterin.« Das klang so genial. Meine persönliche Beraterin. Wahnsinn.
11
Mama redete den ganzen Abend auf mich ein. Es war die Hölle.
Sie dreht komplett durch, schrieb ich Kim.
Das zählt schon fast als Like, schrieb sie zurück und postete einen Zwinkersmiley. Jetzt ändern sich die Dinge endlich, dachte ich und fühlte mich großartig. Wenn ich in den Spiegel blickte, sah mich eine neue Isi an, noch nicht ganz perfekt, aber immerhin getuned und fast nicht wiederzuerkennen. Eine Isi, die so schnell nichts umhauen würde. Ich machte ein Selfie und schickte