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Instagirl. Annette Mierswa
Читать онлайн.Название Instagirl
Год выпуска 0
isbn 9783732012572
Автор произведения Annette Mierswa
Издательство Bookwire
»Die Schule spendiert dir gnädigerweise dieses edle Schreibwerkzeug, damit du nicht mehr mit Kajal scheiben musst.« Er spitzte genüsslich die Lippen. »Setze es wohlüberlegt ein.« Kim würdigte ihn keines Blickes. Sie öffnete das Heft, überflog die zwei Seiten und schloss es wieder. Dann drückte sie ein transparentes Gel aus einem Fläschchen und rieb sich ausgiebig die Hände ein. Das war so ein Tick von ihr. Ständig desinfizierte sie ihre Hände mit dem Zeug. Sie schien nicht nur Angst vor Zahlen zu haben. Poschek rümpfte die Nase und wandte sich wieder dem Smartboard zu. Ich blickte sofort auf mein Handy, denn ein Gedanke ließ mich nicht mehr los. Angst vor Essen tippte ich in die Suchmaske. Cibophobie. Volltreffer! Die erste Mine konnte detonieren.
9
»Bitte?« Mama reagierte genau wie Poschek. »Was hast du?«
»Cibophobie.«
»Und was soll das sein?«
»Angst vor Essen.« Mama schnaubte wie ein Gaul. Die Lasagne stand dampfend auf dem Tisch, der für drei Personen gedeckt war. Paul saß auf Papas Platz. Es gab sogar Servietten mit bunten Blumen.
»Was soll das?«, fragte Mama. Ihre Stimme war dünn wie Pergamentpapier. »Und wie siehst du überhaupt aus?«
»Nuttig«, sagte ich. »Ich geh hoch.« Uhh, ausgerechnet Lasagne. Ich liebte Lasagne. Paul nieste in eine Blumenserviette. Mama ließ sich auf ihren Platz fallen. Sie wirkte verstört.
»Cibophobie gibt’s wirklich«, nuschelte Paul durch die Serviette hindurch und häufte sich anschließend eine doppelte Portion auf seinen Teller, »hab ich mal irgendwo gelesen, Wartezimmer oder so.« Er stopfte sich ein Riesenstück Lasagne in den Mund. Ich schlich die Treppe hoch, setzte mich auf die oberste Stufe und lauschte weiterhin, was unten passierte.
»Sie hatte noch nie vor irgendetwas Angst«, sagte Mama. »Noch nie.«
Doch Mama, du hast es nur nicht gemerkt. Ich hatte Angst davor, dass ihr euch trennt, Papa und du. Meine Stunden auf dem Dach, mit Kopfhörer, während ihr euch angebrüllt habt. Du hast nie etwas gemerkt. Ich habe die Sterne gezählt, die Wolken, die Vögel. Ich habe um mein Leben gezählt. Verdammt.
Paul schmatzte. Mama weinte. Ich konnte nicht fassen, dass sie Papa für diesen Hirni verlassen hatte, der die Sensibilität eines Rasenmähers und die Kauwerkzeuge eines Steinbeißers hatte.
»Das wird schon wieder.« Kussgeräusche. Bäh. »Die ist doch in der Pubertät. Da sind sie eh alle kleine Ungeheuer, oder?« Er schien die nächste Ladung intus zu haben und nuschelte. »Ich werd mal mit ihr reden, kenn mich da aus. Man muss nur an den richtigen Schräublein drehen … Das wird.« Ich war tatsächlich im falschen Film gelandet. Hatte er Mama Drogen gegeben? Sie hypnotisiert? Warum warf sie diesen Windbeutel nicht im hohen Bogen hinaus?
»Kennst du das von deinen Kindern?« Sie ging ernsthaft auf ihn ein. Moment mal – deinen Kindern? Der hatte Kinder? Und würden die auch bald hier einziehen?
»Jep«, sagte der Steinbeißer.
»Ich weiß nicht«, sagte Mama und das war definitiv nicht das klare Nein, das ich erwartet hatte. Ich verzog mich in mein Zimmer. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Lilly. Der Käfig stand offen. Ich starrte durch das Gitter, aber sie war nicht da. Ich wühlte mich durch das ganze Zimmer und sämtliche Klamottenstapel. Ich blickte unter jedes Möbelstück. Nichts. Ich durchsuchte alle Zimmer des oberen Stockwerks. Lilly war weg. Panisch durchsuchte ich das ganze Haus.
»Wo ist Lilly?« Paul häufte sich gerade den letzten Rest Lasagne auf den Teller.
»Lilly? Ist das deine Freundin?«, fragte er scheinheilig und wich meinem Blick aus.
»Mein Kaninchen«, schrie ich ihn an, »das Viech, auf das du allergisch reagierst. Wo ist sie?« Mamas Augen weiteten sich. Sie blickte zu Paul und schnappte nach Luft.
»Du hast doch nicht …?« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund.
»Was?«, schrie ich. Paul blickte stumm auf den Tisch. In seinem Mundwinkel klebte Tomatensoße.
»Wo ist Lilly?« Ich schluchzte los. Paul zog entschuldigend die Schultern hoch.
»Das war eine Überlebensfrage«, sagte er leise, »sie oder ich.«
»Was?«
»Keine Sorge. Sie ist im Garten. Hab ihr ein Freigehege gebaut. Sie futtert gesundes Gras und freut sich, dass sie mal rauskommt. Ist doch auch besser, als in einem engen Käfig vor sich hin zu vegetieren.« Eine unerträgliche Sekunde lang starrten Mama und ich uns fassungslos an. Dann rannte ich ins Wohnzimmer, riss die Gartentür auf und stürzte auf ein Carré aus Blumenkübeln und umgestürzten Plastikstühlen zu. Das Arrangement war ein Witz für Kaninchen. Mit einem müden Hopser hatte Lilly die Barriere überwinden können. Panisch durchpflügte ich den Garten.
»Lilly?« Nichts. Sie war nicht da. Nirgends. Zu den Nachbargrundstücken gab es keine Zäune, nur Hecken. Ich quetschte mich durch die piksigen Zweige, die mein Gesicht zerkratzten. Ich dachte an Papa. Ich dachte an Auswandern. Auch in den anderen Gärten war Lilly nicht. Irgendwo, drei Grundstücke weiter, ließ ich mich auf ein Mäuerchen sinken und weinte. Diese Mine hatte der Scheißpaul gezündet und in meinem Kopf explodierte sie hundertfach.
»Isabelle? Wo bist du?« Mama. Ich sagte nichts. Ich würde überhaupt nie mehr etwas sagen. Und dann sagte ich doch etwas:
»Paul oder ich!«
Noch am selben Abend musste Paul überstürzt verreisen. Ein klares Statement war das nicht. Aber wenigstens war er weg. Mama half mir Vermisstenanzeigen zu schreiben, die wir in der ganzen Umgebung aushängten. Weitere Fotos unter @rabbitlove4ever, stand unter einem Pic von Lilly, auf dem sie einen kleinen Wanderrucksack trug, der früher meiner Puppe gehörte. Zu meinem Outfit sagte Mama nichts mehr. Aber wenn Passanten unseren Weg kreuzten, stellte sie sich immer vor mich und nestelte an ihrer Jacke herum, die sie dabei weit öffnete wie einen Vorhang. Yara half uns. Sie war sofort gekommen, nachdem ich ihr in einer Sprachnachricht erzählt hatte, was passiert war.
»Hast du Matteo schon gefragt?«, sagte sie. »Der wohnt doch ums Eck.«
»Da ist eine Straße dazwischen.«
»Ja und? Können Kaninchen keine Straßen überqueren oder was?« Plötzlich nervten mich ihre Kuppelversuche.
»Yara«, sagte ich gereizt, »der erkennt Lilly doch sowieso.« Sie gab beleidigt auf. Doch als wir um zehn Uhr immer noch erfolglos durch die Nachbarschaft streiften und in jedem Gebüsch nachsahen, verabschiedete sie sich gähnend.
Allein in meinem Zimmer, ohne Lilly, überkam mich das Gefühl einer bodenlosen Einsamkeit. Papa war weg. Lilly war weg. Mama setzten offensichtlich die Wechseljahre zu oder Paul hatte sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Matteo vertraute ich nicht mehr, seit der Wette. Und dann auch noch die Schwindelei, die wie ein kleiner Splitter in der Freundschaft mit Yara steckte. Ich war bei Sturm auf offener See und das Einzige, das mir geblieben war, war mein nacktes Leben in diesem okayen Körper. Ich musste etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Alles lief aus dem Ruder. Nichts passte mehr, also musste irgendetwas passend gemacht werden. Mir fiel Kims Nachricht wieder ein und ich las sie noch einmal. Willst du Tipps?, hatte sie geschrieben. Das könnte die rettende Insel sein! Ich wählte einen hochgereckten Daumen und schickte ihn ab. Sofort stand online in der Statuszeile. Kim schrieb. Sie schrieb lange. Doch es kam keine Antwort. Ich warf das Handy aufs Bett, riss alle Kleider, die noch nicht verstreut in meinem Zimmer lagen, aus dem Schrank und häufte sie auf einen Stapel am Boden. Anschließend stopfte ich sie, bis auf ein paar wenige, alle in Plastiksäcke und brachte sie auf den Speicher. Die Leere tat gut. Jetzt musste ich mich neu erfinden.
Bing, machte mein Handy. Eine Nachricht von Kim. Sie hatte mir einen Link geschickt, kommentarlos. Ich klickte ihn sofort an. Es war ein Tutorial von @Beauty_is_the_goal. Von dem Kanal hatte ich noch nie gehört. Ein sehr hübsches Mädchen, das Kim verdammt ähnelte, verwandelte sich darin von einer normalen Schülerin in eine Art Supermodel, das fünf Jahre älter aussah. Jeder Schritt wurde genau erklärt, sogar mit Links zu den Onlineshops. Es gab verblüffend einfache Tricks,