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der Schule? Wir haben Wochenende. Willst du dich die ganze Zeit verkriechen? Isi, komm schon.«

      »Ich ruf dich morgen an.« Und bevor Yara noch etwas sagen konnte, gab ich ihr ein Küsschen und bog schnell in die nächste Straße ein.

      »Mein Handy ist an – die ganze Nacht!«, rief sie mir nach. Aber ich antwortete nicht mehr, lief einfach weiter, immer weiter, am Haus meiner Eltern …, nein, meiner Mutter vorbei, bis zum Spielplatz, wo ich mich auf die Schaukel setzte und weinte. Alles fühlte sich plötzlich falsch an. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und gab Tokio ein, dann Hamburg. 8994 Kilometer! So weit entfernt würde Papa nun leben. Dann gab ich meine Straße und die von Matteo ein. 214 Meter. So nah wohnte Matteo. Und beide waren sie unerreichbar. In Tokio ging jetzt gerade die Sonne auf. In meinem Herzen ging sie gerade unter.

      6

      Den Samstag verbrachte ich mit Lilly. Wir lagen zusammen auf der Bettdecke und mümmelten Karotten. Ich machte ein paar Fotos von ihr für Instagram, war aber nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Ich brauchte irgendetwas Neues und sah mir wahllos einige Tutorials auf YouTube an. Am Mittag kam Mama mit einem Teller Suppe herein.

      »Bist du krank?«, fragte sie vorsichtig und setzte sich auf den Bettrand.

      »Hm«, machte ich. Mama streichelte Lilly.

      »Lilly auch?«

      »Hm.«

      »Ich weiß, dass das alles schwer für dich ist …«, begann sie, schwieg aber gleich wieder und rührte mit dem Löffel in der Suppe herum. Sie sah heute auffällig hübsch aus, hatte die rotblonden Locken hochgesteckt, war dezent geschminkt und trug ein enges Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. »Hör mal, Schätzchen, ich bleib zu Hause, wenn du mich brauchst.« Sie strich mir über das Haar. »Ich kann die Verabredung auch absagen.«

      »Nein«, sagte ich grimmig, »das kannst du dem Paul doch nicht antun. Geh lieber zu ihm. Oder hast du schon wieder einen Neuen?« Mama sah mich entsetzt an und sofort tat es mir leid.

      »Nein, Isabelle«, sagte sie streng, »ich habe keinen Neuen. Und dein Papa ist auch kein Heiliger, den du bis aufs Blut verteidigen musst. Die Dinge können sich ändern. Das ist nun mal so. Und es tut mir sehr leid.« Sie blickte mich traurig an. »Paul ist kein schlechter Mensch. Und ich auch nicht. Gib ihm eine Chance.« Es klang wie ein Satz aus einer dieser billigen Vorabendserien. Ich lachte bitter.

      »Nachdem ihr mein Leben zerstört habt?«

      »Dein Leben können wir nicht zerstören.« Mama liefen Tränen über die Wangen, die sie schnell wegwischte. Ich hasste mein schlechtes Gewissen, denn ich fand, dass es in diesem verdammten Fall nur mir zustand, traurig zu sein. »Dein Leben kannst nur du selbst zerstören.« Teil zwei der Vorabendserie. Mama stand auf und stellte die Suppe auf meinen Schreibtisch. Es klingelte an der Tür. »Ich hab das Handy dabei. Bitte melde dich, wenn du mich brauchst, ja?« Ich antwortete nicht. Ich brauchte niemanden, der mich deprimierte. Ich hörte, wie Mama die Tür öffnete und ein Mann mit pelziger Stimme sie freudig begrüßte. Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss und eine unerträgliche Stille blieb zurück. Ich setzte die Kopfhörer auf und zog die Lautstärke hoch. 80 Dezibel. Die Dinge können sich ändern, hatte Mama gesagt. Die Dinge. War unsere Familie ein Ding? War ich ein Ding? War ich auch austauschbar, wie Papa? Wie irgendein Möbelstück? 90 Dezibel. Etwas donnerte in einem anderen Takt. Ich öffnete die Augen. Yara trommelte von außen auf die Dachluke und zog erleichtert die Augenbrauen hoch, als ich die Kopfhörer abnahm. Ich öffnete das Fenster.

      »Na endlich!«, sagte Yara, »ich dachte schon, ich müsste hier übernachten.« Sie schüttelte ihre Hände aus. »Kommst du rauf oder soll ich reinkommen?«

      »Ich komm schon.« Ich kletterte durch die Luke und setzte mich neben Yara auf die Dachziegel. »Luft.« Es tat wirklich gut. »Da unten wäre ich fast erstickt.«

      »Hauptsache, du lässt den Gashahn zu.« Yara umarmte mich und gab mir ein Küsschen. »Du Huhn, rufst mich einfach nicht an.«

      »Bog bog bog.« Ich flatterte mit angewinkelten Armen.

      »Na, zum Glück geht es dir wieder besser.«

      »Besser? Als Huhn?«

      »Ich hab den Neuen von deiner Mutter gesehen. Sag mal, wie alt ist der eigentlich?«

      »Warum?«

      »Sieht aus wie so ein Typ aus dem Fitnessstudio, höchstens 30.«

      »Die Dinge ändern sich eben.«

      »Hä?«

      »Hat meine Mutter gesagt: Die Dinge ändern sich.«

      »Na, dann änderst du einfach auch die Dinge.« Arme Yara! Wenn sie gewusst hätte, was sie damit in Gang setzte.

      »Wie meinst du das?«

      »Eine Ehe ist doch so eine Art Abmachung, oder?«, fragte Yara. »Sie haben sich also nicht an die Abmachung gehalten. Dann musst du dich ja auch nicht an Abmachungen halten, oder?« Ich setzte mich auf.

      »Hey, du hast recht.« Ich zog das Gummi aus meinen Haaren und verstrubbelte sie. »Weißt du, wie ich Montag in die Schule gehe? Ich werde mir die Haare toupieren, die superkurze Jeans mit den Strasssteinen anziehen und ich werde mich schminken wie Nadja Nice, die Nadja Nice.«

      »Bist du verrückt? Musst es ja nicht gleich übertreiben.«

      »Warum? Wennschon, dennschon.« Yara rollte mit den Augen.

      »Ich weiß nicht. Das geht bestimmt nach hinten los. Und Matteo wird das auch nicht so toll finden. Der steht auf deinen natürlichen Look.«

      »Hey, ich mach mich doch nicht für einen Kerl zurecht, der mich vielleicht irgendwann sitzen lässt. Außerdem will er eh nix von mir wissen.«

      »Was für ein Quatsch ist das denn? Wir reden über Matteo, deinen Matteo, den Held deiner Träume, mit dem du ewig zusammen sein wirst. Das hast du doch selbst gesagt!«

      »Die Dinge ändern sich«, beharrte ich. »Was ist schon sicher? Ich dachte auch, dass meine Eltern ewig zusammenbleiben würden. Und nun?« Ich klatschte in die Hände. »Alles vorbei.«

      »Klar gibt es keine Sicherheit.« Yara rüttelte verzweifelt an meinem Arm. »Aber du kannst doch nicht einfach deinen Traum aufgeben, nur weil …«

      Ich unterbrach sie mit einem schrillen Lachen.

      »Yara, du hast es nicht verstanden. Ich will meinen Traum bewahren. Ich will ihn nicht an eine Scheißrealität verlieren.«

      »Aber mit der Ich-schmink-mich-wie-Nadja-Nice-Nummer verlierst du ihn garantiert. Wer steht denn auf so was?«

      »Ich find’s eigentlich ganz cool. Mal was anderes. Und wenn Matteo ernsthaft an mir interessiert ist, dann dürfte ihn ein neuer Look nicht abschrecken, oder? Ist doch ein guter Test.«

      »Na, ich weiß nicht. Ich hab gar kein gutes Gefühl dabei.«

      »Du musst ja nicht mitmachen.«

      »Nein, sicher nicht.« Yara wirkte plötzlich sehr niedergeschlagen, während ich ganz aufgekratzt war und auf meinem Handy das neueste Schmink-Tutorial von NadjaNice aufrief. »Isi«, versuchte sie es verzweifelt, »das bist du nicht.« Aber ich reagierte nicht und starrte verzückt auf das Display meines Handys, als könnte ich da die Lösung für alle meine Probleme finden.

      »Das wird ein Schocker.«

      »Ja«, sagte Yara betrübt, »das wird es sicher.« Und ehrlich gesagt, Nadja Nice sah tatsächlich nuttig aus. Aber auch verdammt cool. Und alles war besser, als einfach so weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre. Yara redete weiter auf mich ein, aber ich hörte nicht mehr zu, verfolgte gebannt, wie Nadja Nice sich das Make-up auftrug, wie sie ihre Lippen umrahmte und anschließend mit einem Pinsel knallrote Farbe auftrug. Wie sie glücklich in die Kamera strahlte, als sie fertig war, sich im hautengen Minirock um sich selbst drehte und sagte, dass sie sich wie neugeboren fühle. Ja, genau das wollte ich, eine Neugeburt. Und zwar eine aufsehenerregende, schockierende Neugeburt, die granatenmäßig in unsere Straße

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