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Moabit, Reutlingerstraße 16, 2 Treppen bei Mießtaler, ein. Mein Nachlaß besteht in der Hauptsache aus einem Sparguthaben von zwölftausend Mark und aus dem sogenannten Lammerthof, der einen Wert von etwa zweiundzwanzigtausend Mark haben mag.

      An meine langjährigen treuen Gehilfen, das Ehepaar Parlitz, ist ein Legat von dreitausend Mark auszuzahlen. Außerdem sollen die Leute bis zu ihrem Tode kostenlos weiter auf dem Grundstück wohnen dürfen. Den Lammerthof, der sich seit zweihundert Jahren im Besitz meiner Familie befindet, soll mein Erbin, wenn irgend möglich, nicht veräußern. Ich lege ihr diese Bitte warm ans Herz.

      Ich wünsche nicht, daß meine Enkelin von meinem Tode vor meinem Begräbnis benachrichtigt wird. Dieses soll in der einfachsten Form stattfinden.

      Dieses Testament hinterlege ich bei dem Amtsgericht Sziemanowo, damit ich sicher bin, daß mein letzter Wille streng beachtet wird.

      Frau verwitw. Elvira Hölsch

      geb. Lammert

      Irma ließ den Bogen wieder sinken.

      Vor ihr tauchte das Bild einer alten Frau auf, – ein grobknochiger Körper, ein Kopf mit harten Zügen, strengen Augen … Sie hatte die Großmutter Hölsch nie geliebt, stets gefürchtet, obwohl sie sie kaum kannte.

      Die geborenen Lammert, aus altem posener Bauerngeschlecht stammend, das sich mannhaft seine deutsche Art inmitten einer fanatischen polnischen Bevölkerung bewahrt hatte, vergaß es dem einzigen Sohne nie, daß er gegen ihren Willen das ›Theatergeschmeiß‹ – anders nannte sie ihre Schwiegertochter nie! – geheiratet hatte. Und der verbohrte Haß gegen die kleine, bescheidene Schauspielerin, die dann Irmas Mutter wurde, hatte sich auch auf die Enkelin übertragen, war nie verhehlt worden. Dazu war die alte Frau Hölsch eine viel zu aufrichtige Natur.

      Der Großmutter Bild verschwand …

      Andere Erinnerungen stiegen vor Irmas geistigem Auge wie aus der Versenkung in bunter Folge auf – –: eine kleine Großstadtwohnung, in der es erst so fröhlich hergegangen war, in der die Liebe und das Glück sich so fest eingenistet zu haben schienen, bis dann die raue Faust des Schicksals die junge Menschenblüte knickte, an der sich eines Mannes schwacher Charakter wie ein haltsuchendes Schlinggewächs hochgerankt hatte. –

      Das hatte die Großmutter Lammert aber nie einsehen wollen, daß der leichtsinnige Leutnant Günter Hölsch ohne das ›Theatergeschmeiß‹ wahrscheinlich drüben in Amerika als Kellner oder dergleichen geendet hätte, daß er nur durch die kleine Schauspielerin Irma Werhofen ein strebsamer Versicherungsbeamter und glücklicher Ehemann geworden war …

      Wie mußte der Vater doch seine Frau geliebt haben – wie sehr …! Ihretwegen der Bruch mit den Eltern, ihretwegen das Ausscheiden aus der Armee, ihretwegen die plötzlich erwachte Freude an geregelter Tätigkeit, an dem eigenen Heim, – und das trotz all der Sorgen! – und ihretwegen schließlich das gewaltsame Ende, – ein Revolverschuß an einem frischen Grabe …

      Damals war die kleine Irma gerade zwölf Jahre alt gewesen. Und seitdem hatte sie unter Fremden gelebt. Die einzige Verwandte, die sie noch besaß, die harte, unerbittliche Frau auf dem Lammerthof bei Sziemanowo, hatte das Kind in Pension gegeben, es nur selten, sehr selten besucht. Auch zwischen ihr und dem zum Weibe heranreifenden jungen Mädchen gab es keine engeren Fäden, – nur lose Bande: die Pflicht, für die Enkelin zu sorgen …! – Und sie hatte auch bestimmt, daß Irma Lehrerin wurde, – ohne sie zu fragen. Sie verlangte Gehorsam, – denn sie gab ja das Geld …

      Und diese Frau war jetzt tot … War von Fremden zu Grabe geleitet worden … –

      Irma war stets ehrlich gegen sich selbst. – Wo sollte sie wohl ein Gefühl der Trauer über den Tod ihrer Großmutter hernehmen …?! – Nein, wenn sie überhaupt etwas empfand, war es lediglich ein wenig Freude, daß sie jetzt die nahe bevorstehenden Osterferien auf dem Lammerthof als dessen neue Herrin zubringen konnte …

      Aber diese kleine Freude blieb stark gedämpft. Als Schatten fiel darauf … das Andere, Dunkle … die anonymen Briefe …

      2. Kapitel

       Die treue Hand

       Inhaltsverzeichnis

      Irma verschloß das Schreiben des Amtsgerichts in der Blechkassette, die sie sich eigentlich nur Frau Mießtalers wegen angeschafft hatte, bei der sie nun schon ein Jahr wohnte und von deren Neugier sie sehr bald sichere Beweise erhalten hatte. Die Kassette hatte ein Schloß, das nur mit dem schmalen, langen Schlüssel mit den vielen Zacken zu öffnen war, – zu der Kanzleirätin großem Ärger.

      Dann legte sich Irma wie immer auf den Diwan, schlief bis vier, wachte von selbst auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Sie wollte ihre Freundin und Kollegin Hedwig Melcher besuchen, die schon etwas altjüngferliche Zeichenlehrerin, die doch ein so gutes Herz und einen so scharfen, feingebildeten Verstand besaß. Ihr wollte Irma sich endlich anvertrauen. Das Geheimnis der anonymen Briefe konnte sie jetzt nicht länger in ihrer Seele verschließen, jetzt, wo es durch den Tod der Großmutter nur noch rätselhafter geworden war.

      Fräulein Melcher wohnte in der Invalidenstraße gegenüber einem alten Museum. Drei Geschwister hausten hier zusammen, zwei Schwestern und ein Bruder, stille, zufriedene Menschen, die die Arbeit nicht als Frondienst auffaßten, die an allem Freude hatten.

      Hedwig war nicht daheim, auch die älteste Melcher nicht, Thilde, die als Buchhalterin in einem Warenhause zu der gemeinsamen Wirtschaft fast eben so viel beisteuern konnte wie Fritz Melcher, der pedantische Herr Polizeisekretär, trotz seiner achtundzwanzig Jahre bereits ein eingefleischter Junggeselle mit dem Glaubenssatz ›Besser als bei meinen Schwestern kann ich’s nirgends haben!‹

      Fritz Melcher hatte soeben eine harmlose Influenza überstanden und daher noch ein paar Tage Urlaub. Er führte Irma in das Wohnzimmer, setzte ihr eine Tasse Kaffee vor, strich ihr ein Brötchen, – alles mit der Selbstverständlichkeit erprobter Freundschaft.

      »Hedwig wollte erst ein paar Besorgungen erledigen und dann zu Ihnen gehen, liebes Fräulein Hölsch,« hatte er Irma aufgeklärt. »Sie wollte mit Ihnen irgendwohin ins Freie hinaus. Sie meinte heute beim Mittagessen, Sie seien in letzter Zeit stets sehr nervös und reizbar.«

      Irma trank die halbe Tasse auf einmal aus. Sie fühlte sich schon wieder recht abgespannt.

      Fritz Melcher saß ihr gegenüber und beobachtete sie unauffällig. Mit seinem blonden, dünnen Bart und der goldenen Brille, dem dunkelblauen Jackettanzug und der soliden schwarzen Schleife unter dem niedrigen Kragen brauchte er niemandem zu sagen, daß er Beamter sei, zumal der Ausdruck seines blassen Gesicht zumeist streng und verschlossen war. Nur jetzt leuchtete fast väterliche Güte und Milde auf diesem feingeschliffenen Antlitz, das durch jedes Lächeln wunderbar verschönert wurde.

      »Was quält Sie eigentlich, Fräulein Hölsch?« fragte er, als Irma nicht gleich etwas erwiderte, sondern nachdenklich vor sich hinschaute.

      »Deshalb kam ich ja gerade zu Hedwig,« meinte sie leise aufseufzend. »Ich wollte mich mit Ihrer Schwester einmal aussprechen.«

      »Hm – wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bäte, sich der Selbsttäuschung hinzugeben, daß nicht ich, sondern Hedwig Ihnen jetzt gegenübersäße …?! So halb und halb betrachte ich Sie ja doch als meine Adoptivschwester, Fräulein Irma. Natürlich will ich mich Ihnen wahrhaftig nicht aufdrängen. Aber …«

      Sie hatte ihm die Hand über den Tisch hingestreckt.

      »Für diese schlechte Welt sind Sie eigentlich viel zu gut, – wirklich! Sie finden für jeden das rechte Wort. Adoptivschwester …! Wie hübsch das klingt … Ich bin ja immer so allein gewesen. – Aber – was das Aufdrängen anbetrifft, das könnte doch nur mich angehen … Ich bin es doch, die Ihnen einen Teil meiner Seelenlast mitaufladen würde, meiner Geheimnisse …«

      Er hatte ihre kühle, weiche Hand noch immer in der seinen.

      Wie das Blut in bläulichen Adern pulste

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