Скачать книгу

      »Das kann ich mir vorstellen«, meinte er schließlich, dann wurde er wieder ernst. »Weißt du, Stefan, diese Gründlichkeit hat er unter anderem von Professor Thiersch gelernt. Und du kannst ganz beruhigt sein: Als dein alter Vater noch Assistenzarzt war, verhielten sich die Chefärzte genauso. Ich habe damals einen ähnlichen Fall erlebt wie du heute.

      Und ich habe es ebenfalls gewagt, meinen Chefarzt darauf

      hinzuweisen. Das war Professor

      Thiersch, und vielleicht kannst du dir seine Reaktion vorstellen.«

      »Nach allem, was du so über ihn erzählt hast, denke ich, daß ein wahres Donnerwetter über dir niedergegangen ist.«

      Dr. Daniel nickte. »Und das ist noch ziemlich harmlos ausgedrückt. Professor Thiersch hat mich vor allen anwesenden Ärzten so zur Schnecke gemacht, daß ich am liebsten meinen Beruf hingeschmissen hätte. Allerdings war das, was er sagte, auch einleuchtend. Ein Arzt, der eine wirklich gute Klinik haben will, darf sich nie auf Untersuchungsergebnisse verlassen, die von außerhalb kommen. Professor Thiersch tut das heute noch nicht, und mehr als einmal hat sich das bewährt. Ich bin selbst praktizierender Arzt und will keinem Kollegen zu nahe treten, aber gerade in Arztpraxen passieren oft schon bei Routineuntersuchungen dermaßen haarsträubende Fehler, daß es ganz bestimmt nicht verkehrt ist, wenn in einer Klinik alle benötigten Untersuchungen noch einmal durchgeführt werden – mag das für den Patienten auch manchmal recht unangenehm sein.«

      Stefan seufzte. »In diesem Ton hätte Wolfgang mir das doch auch sagen können.«

      Dr. Daniel lächelte. »Professor Thiersch hat mir das auch nicht in diesem Ton beigebracht. Und vielleicht habe ich es mir gerade deshalb so gut gemerkt.«

      »Möglich«, räumte Stefan ein, dann stand er auf.

      »Willst du denn nichts essen?« fragte Dr. Daniel erstaunt.

      »Keine Zeit«, entgegnete sein Sohn. »Der liebe Wolfgang hat mich heute obendrein noch mit Nachtdienst beglückt.« Er dämpfte die Stimme. »Manchmal könnte ich ihm wirklich den Hals umdrehen.«

      Dr. Daniel schmunzelte. »Ich glaube, mit diesem Gedanken spielt jeder Assistenzarzt gelegentlich. Aber wenn du mal ganz ehrlich zu dir selbst bist, dann wirst du sicher zugeben müssen, daß Wolfgang vielleicht doch nicht so ganz unrecht hatte.«

      Stefan nickte. »Du hast natürlich wieder mal recht, Papa, und es ist auch gar nicht so sehr das, was er gesagt hat, sondern wie er es gesagt hat. Weißt du, Gerrit schimpft auch mit mir, wenn ich einen Fehler mache. Er ist sogar fast so streng dabei wie Wolfgang, aber… ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«

      »Ich verstehe schon, was du meinst«, erklärte Dr. Daniel. »Wolfgang besitzt eine Ausstrahlung, die auf einen jungen Assistenzarzt mehr als nur respekteinflößend wirkt.«

      Wieder nickte Stefan. »Ja, Papa, ich glaube, das ist es, und ich habe das sogar schon gespürt, als ich ihm das erste Mal begegnet bin – damals, als er hierher zu Besuch kam und auf den Balkon getreten ist. Es war für mich ein sehr einschneidendes Erlebnis, und obwohl ich mir wünschte, irgendwann einmal mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen, hatte ich gleichzeitig etwas Angst davor.«

      »So ähnlich habe ich mir das schon vorgestellt«, meinte Dr. Daniel. »Aber nicht nur du hast das gespürt, Stefan. Diese Ausstrahlung war es auch, die in Karina diese unselige Liebe geweckt hat. Sie hat einmal zu mir gesagt, Wolfgang wäre wie ein Held in ihr Leben getreten.«

      Stefan senkte für einen Augenblick den Kopf, dann sah er seinen Vater wieder an. »Was glaubst du, Papa, wird sich Karina von dieser Liebe irgendwann befreien können?«

      »Ich hoffe es«, antwortete Dr. Daniel. »Du weißt ja, daß sie in dem Brief, der gestern gekommen ist, geschrieben hat, daß sie sich mit Jean verlobt hat. Allerdings hat sie schon einmal geglaubt, das mit Jean wäre etwas Endgültiges, doch kaum hatte sie dann Wolfgang wiedergesehen, da kehrten die Zweifel zurück.«

      »Arme Karina«, murmelte Stefan, dann sah er auf die Uhr. »Meine Güte, ich muß mich ja beeilen. Wolfgang macht Hackfleisch aus mir, wenn ich nicht pünktlich zum Dienst erscheine. Heute hat er sowieso schon eine Stinkwut auf mich.«

      Rasch verabschiedete er sich von seinem Vater, küßte seine Tante, die eben mit einer Schüssel voll Nudeln das Eßzimmer betrat, flüchtig auf die Wange und verließ dann im Laufschritt die Villa.

      »Der Bub hat ja gar nichts gegessen«, jammerte Irene.

      Dr. Daniel grinste. »Keine Angst, Schwesterlein, der Bub ist fünfundzwanzig und durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Außerdem hat die Waldsee-Klinik eine erstklassige Kantine und ein sehr gutes Café. Stefan wird also bestimmt nicht verhungern.«

      »Rabenvater«, knurrte Irene. »Dir ist es anscheinend völlig egal, was mit deinem Sohn passiert.«

      »Ganz und gar nicht«, verwahrte sich Dr. Daniel. »Aber im Gegensatz zu dir habe ich inzwischen bemerkt, daß Stefan kein kleines Kind mehr ist.«

      *

      Stefan wollte die Villa gerade verlassen, als draußen das Auto seiner Freundin Rabea Gessner hielt. Obwohl sie in letzter Zeit gelegentlich Differenzen hatten, freute sich Stefan jetzt doch über das unverhoffte Auftauchen seiner Freundin. Eilig ging er auf ihren Wagen zu und öffnete die Fahrertür.

      »Rabea, Liebling, das ist aber eine nette Überraschung!« erklärte er, und die Freude war ihm dabei deutlich anzusehen, doch Rabea bemerkte es gar nicht.

      »Was heißt denn hier ›Überraschung‹?« fragte sie, und Stefan hörte den leicht gereizten Unterton sofort heraus. »Wir waren doch schließlich für heute verabredet.«

      Eine heiße Röte überzog Stefans Gesicht. Daran hatte er ja überhaupt nicht mehr gedacht!

      »Liebes, es tut mir furchtbar leid, aber… ich muß jetzt in die Klinik hinauf«, gestand er zerknirscht.

      Völlig fassungslos starrte Rabea ihn an. »Du mußt… Stefan, das ist doch wirklich die Höhe!« Sie stieg aus dem Auto und warf mit einer heftigen Bewegung die Tür zu. »Da fahre ich extra von München hierher, und du sagst mir kaltlächelnd…«

      Stefan versuchte, seine Freundin tröstend in die Arme zu nehmen, doch sie stieß ihn zurück – zum ersten Mal, seit sie sich kannten.

      »Laß mich in Ruhe!« fauchte sie ihn an.

      »Liebling, es tut mir doch wirklich leid«, beteuerte Stefan noch einmal. »Wolfgang hat mir Strafdienst aufgebrummt, weil ich…«

      »Das glaubst du doch selbst nicht!« fiel Rabea ihm ins Wort. »Das sind alles nur Ausreden! Wenn es wirklich so wäre, wie du sagst, dann hättest du mich ja anrufen können, denn ich glaube nicht, daß du den Strafdienst erst vor fünf Minuten bekommen hast.« Sie sah ihn mit eigenartigem Blick an. »Weißt du, Stefan, wenn du mich schon nicht mehr liebst, dann könntest du wenigstens soviel Anstand haben, es mir zu sagen!«

      Dieser Vorwurf war so ungeheuerlich, daß Stefan ein paar Sekunden lang sprachlos war.

      »Bist du verrückt geworden?« brachte er dann endlich hervor. »Meine Güte, Rabea, du weißt doch, daß ich dich liebe! Und ich verspreche dir…«

      Doch seine Freundin winkte ab. »Versprich mir nichts, was du sowieso nicht halten wirst.« Dann stieg sie in ihr Auto, ließ den Motor an und fuhr davon, bevor Stefan noch zu einer Erwiderung ansetzen konnte.

      Völlig konsterniert starrte er ihr nach. Er begriff das alles nicht. Warum nur endete in letzter Zeit jedes Gespräch zwischen ihm und seiner Freundin mit einem Streit?

      Doch Stefan hatte keine Zeit mehr, diese Frage zu ergründen, denn ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er sich wirklich beeilen mußte, wenn er nicht zu spät zur Nachtschicht erscheinen und sich damit den erneuten Zorn des Chefarztes zuziehen wollte.

      *

      Stefanie Metzler, die Schwester des Chefarztes der Waldsee-Klinik, die seit einiger Zeit mit dem dortigen Dr. Gerrit

Скачать книгу