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Sie konnte nichts mehr denken. Ihr Kopf war leer.

      Morgen würde sie den Erlenhof wieder verlassen, und sie ahnte, dass sie etwas erfahren würde, was Eric Ride Schmerz bereitete.

      Die Gräfin Czibulski war gestorben und hatte anscheinend ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, dessen alleinige Erbin aller Wahrscheinlichkeit nach die kleine Jacqueline sein würde.

      Ach nein, sie war ja keine Gräfin, sondern eine Freiin. Mit diesen deutschen Adelstiteln sollte man sich erst auskennen. Aber auch Eric Rides Ahnen waren Adlige gewesen.

      Je weiter Dorrit ging, desto klarer wurde ihr Kopf. Jacqueline war also eine vermögende Erbin. Jene, die das Erbe zu verwalten hatten, würden wahrscheinlich nichts unversucht sein lassen, Eric Ride auszuschalten.

      Geld bedeutet Macht. Aber Eric Ride hätte Geld und Macht hergeschenkt, um Jacky zu behalten. Dorrit war überzeugt davon.

      Doch für andere bedeutete das Geld vielleicht mehr. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar.

      Es geht mich doch gar nichts an. Warum soll ich mir Gedanken darüber machen, sagte sie sich. Ich muss an mich denken. Von meinem Ersparten kann ich nicht ewig leben.

      War das wichtig?

      Sie schrak zusammen. Es war ihr, als folgten ihr schwere Schritte.

      Sie blieb stehen, und da krallte sich eine Hand um ihren Arm.

      Es kam so unerwartet, dass sie einen gellenden Schrei ausstieß.

      *

      Eric Ride hörte diesen Schrei. Doch aus welcher Richtung kam er? Er hastete vorwärts.

      »Lassen Sie mich los! Was wollen Sie von mir?«, hörte er es da schon ganz nahe. Und es war unverkennbar Dorrit Maxwell.

      »Ich will die Briefe rüberbringen, die Briefe«, lallte eine männliche Stimme. »Der Herr Baron gibt mir Geld, viel Geld. Niemand darf mich sehen.«

      »Emmerich!«, rief da eine andere Stimme, und Eric Ride erkannte sie als die seiner Mutter. »Emmerich, lass die junge Dame los!«, sagte sie jetzt. »Hörst du, zum Teufel noch mal! Du hast mir zu folgen!«

      Es war eine gespenstische Szene, die sich da vor seinen Augen abspielte, als er noch ein paar Schritte weitergelaufen war.

      Das Licht des Mondes fiel auf die drei Menschen. Emmerich – mit ihm wusste er nichts anzufangen, weil er diesen Namen nie gehört hatte – sank in die Knie und hob die Hände zum Himmel.

      »Sie ist da, o Herr, sie ist wieder da«, lallte er. »Sie will mir die Briefe wegnehmen.«

      »Ich habe sie schon«, sagte Mary-Ann. »Ich weiß, dass du sie dem Baron gebracht hast. Wie viel Geld hat er dir gegeben, Emmerich?«

      »Gnade!«, lallte der Alte. »Ich habe alles aufgespart. Ich gebe es zurück.«

      »Mutter!«, rief Eric in höchster Angst. Dann stürzte er auf Emmerich zu.

      »Lass ihn«, sagte sie müde. »Er ist krank. Er weiß nicht, was er tut. Lass mich mit ihm reden, euch kennt er nicht. Aber mich kennst du, Emmerich«, fuhr sie fort.

      »Nicht schlagen, gnädige Frau!«, stöhnte er.

      »Habe ich dich jemals geschlagen?«, fragte sie laut.

      »Nein«, schrie er. »Aber er wird mich totschlagen, wenn er es erfährt. Er wird mich …«

      »Schweig! Steh auf, Emmerich! Geh zurück! Geh dorthin, woher du gekommen bist. Niemand wird es erfahren. Aber du darfst nie mehr hierherkommen! Du darfst nicht in den Wald gehen und die Leute erschrecken, hörst du?«

      »Ich werde nie mehr in den Wald gehen«, wiederholte er monoton. »Ich wollte niemanden erschrecken. Ich wollte nur die Briefe bringen.«

      »Du brauchst keine Briefe mehr zu bringen. Es kommen keine mehr«, sagte sie. »Du weißt den Weg, geh ihn zurück, und merk dir, was ich gesagt habe!«

      Entschlossen und furchtlos stand sie da, neben ihr Dorrit Maxwell mit schreckensweiten Augen.

      Taumelnd erhob sich Emmerich.

      »Verzeihung, gnädige Frau«, lallte er, »Verzeihung.«

      »Ich habe dir verziehen und auch dem Baron«, erklärte sie eindringlich.

      Er wankte davon. Augenblicklich schien auch sie zu wanken. Eric legte seinen Arm um sie.

      »Mutter«, flüsterte er, »was soll das bedeuten?«

      Ein paar Sekunden herrschte tiefes Schweigen.

      »Ein Stück Familiengeschichte der Riedings, aber auch du wirst mit ihr konfrontiert werden, Eric«, murmelte sie. »Und Sie, Miss Maxwell, wurden zufällig Zeuge. Es tut mir leid.«

      *

      Sie brachten die alte Dame heim. Rechts stützte sie Dorrit, links Eric. Ihn bewegte die Frage, ob es richtig war, dass man diesen geistesgestörten alten Mann sich selbst überließ.

      »Er ist nicht gemeingefährlich«, erklärte seine Mutter auf diese Frage.

      »Aber deinen Worten, die du zu ihm gesprochen hast, muss ich doch entnehmen, dass er schon mehrere Menschen erschreckt hat«, murmelte er.

      »Erschreckt wohl, aber er wollte ihnen nichts antun. Er ist von Kindheit an zurückgeblieben, ohne jedoch total verblödet zu sein. Er war anstellig, aber zu einem gewissen Zeitpunkt blieb sein Denkvermögen stehen. Er lebt immer noch in dieser Zeit. Sie hörte vor etwa fünfzig Jahren für ihn auf, während sie für uns fortschritt. Er war übrigens Knecht bei Titus Grossmann.«

      »Grossmann, den Namen habe ich heute doch schon einmal gehört«, murmelte Eric.

      Sie hatten wohl beide vergessen, dass Dorrit alles mit anhörte.

      »Freddy wird ihn genannt haben«, bemerkte Mary-Ann schon wieder ruhiger. »Er will Evi Grossmann heiraten.«

      »Ich konnte mich noch nicht damit befassen«, erklärte Eric Ride. »Ich habe ihm gesagt, er soll sie heiraten und mit ihr nach Australien gehen.«

      »Für dich scheint das sehr einfach zu sein«, meinte sie rätselhaft.

      »Warum nicht? Er will sie haben, er soll sie bekommen. Ich lege ihm nichts in den Weg.«

      »Du konzentrierst dich auf Jacky«, sagte sie mit leiser Bitterkeit.

      »Sie ist ein Kind. Freddy und Tracy sind erwachsen«, stellte er fest.

      »Ich billige ihnen Handlungsfreiheit zu.«

      »Sie haben vielleicht auch Sorgen, mit denen sie allein nicht fertig werden«, flüsterte sie.

      »Meinst du, dass ich dann nicht für sie da wäre, Mutter?«, entgegnete er. »Du verkennst mich.«

      Plötzlich wurde es ihm bewusst, dass Dorrit bei ihnen war.

      »Warum sind Sie allein in den Wald gegangen, Miss Maxwell?«, fragte er.

      »Die Nacht war so schön, der Wald so verlockend«, erwiderte sie leise. »Es tut mir leid, dass ich diesen Zwischenfall ausgelöst habe.«

      »Nonsens«, sagte Mary-Ann, »dann wäre ich es eben gewesen. Ja, dieser Wald und die Burg da droben besitzen eine magische Anziehungskraft. Eigentlich ist alles so gelieben, wie es vor langer Zeit war, nur der Sonnenwinkel und Erlenried sind dazugekommen. Es ist gut, dass neues Leben erblüht. Früher war es hier sehr einsam«, fuhr sie gedankenvoll fort. Doch da hatten sie das Haus erreicht. »Ich denke, wir sollten auf den Schrecken hin noch ein Glas Wein trinken«, schlug sie vor. »Bitte, machen Sie mir die Freude, Miss Dorrit. Schlafen können wir wohl alle nicht.«

      *

      Sie saßen vor dem Kamin, in dem Eric das Feuer entzündet hatte. Über ihnen war das Bild Albrechts von Riedings, des Letzten dieses Namens, der ihn voller Stolz getragen hatte, mit einer gewissen Verachtung für die anderen, mit einem Hochmut, der heute unbegreiflich war.

      Mary-Ann

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