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Miriams Pfadfinderfreunde aus aller Welt kamen auch gern vorbei und übernachteten in dieser superzentralen Location im Herzen Wiens.

      Die Zimmer waren weitgehend mit alten Möbeln vom Flohmarkt oder aus dem Fundus der Großeltern eingerichtet. Dazwischen gab es einige Stücke von Ikea, und die Schreibtische, die maßangefertigt in die Dachschrägen passen mussten, hatten die Zwillinge mit ihrem Vater selbst gezimmert. Das Ganze war ein buntes Sammelsurium aus Altem und Neuem, geschmückt mit farbigen Tüchern und selbst gemalten Bildern in barocken und verschnörkelten Rahmen. Es war ungewöhnlich, witzig und so richtig zum Wohlfühlen. Genau wie die Bewohnerinnen.

      »Du hättest deine Lernsachen ja mitbringen können«, bemerkte Daria vom Schreibtisch herunter.

      »Als ob ich irgendwas lernen könnte, wenn ich hier bin«, murmelte Leni.

      »Warum denn nicht? Ich kann’s doch auch!«

      »Wenn ich hier bin, bin ich mit dir zusammen«, stellte Leni klar. »Und dann muss ich dich ansehen, mit dir reden, dich im Arm halten … Wie soll ich dabei lernen?«

      Ein Lächeln huschte über Darias Gesicht.

      Es war schon schmeichelhaft, dass ihr Freund nach über einem halben Jahr Beziehung noch immer so verschossen in sie war, dass er kaum den Blick abwenden konnte! Wenn auch in mancher Hinsicht ein bisschen mühsam. Leni studierte Chemie, und das ging ohne Lernen wirklich nicht.

      »Wenn du deine Skripten mithättest, könntest du jetzt friedlich lernen, während ich am Computer arbeite«, erklärte sie.

      »Willst du mir damit vielleicht sagen, dass ich störe?«

      »Hm, äh, nein, natürlich nicht … Aber wenn du mich dauernd ansiehst, mit mir redest, mich im Arm hältst und so weiter, kann ich mich halt nicht sehr gut auf den Computer konzentrieren!«

      »Sollst du auch nicht. Du sollst dich auf mich konzentrieren!«

      Daria lachte und rollte die Augen. »Leni, du bist kindisch!«, verkündete sie und tätschelte seine strohblonden Haare. »Ich konzentrier mich gern auf dich, aber ab und zu muss ich auch was anderes tun. Jetzt sei ein braver Junge, geh nach Haus und lern was!«

      »Du willst mich ja nur los sein, damit du wieder ›Miracle Forest‹ spielen kannst«, schmollte er.

      »Ich will dich überhaupt nicht los sein!«, widersprach sie. »Aber ja, ich würde gern eine Runde spielen …«

      »Meine Freundin liebt ein Computerspiel mehr als mich!« Leni schob die Unterlippe vor und setzte den herzerweichenden Blick eines ausgesetzten Hundebabys auf.

      »Du bist wirklich unmöglich!« Daria wusste nicht, ob sie lachen oder mit ihm schimpfen sollte. »Du weißt genau, dass ich eine Seminararbeit über die künstlerische Gestaltung von Computerspielen schreibe! Und die Bumm-krach-Kampfspiele mit ihren explodierenden Robotern oder Rennautos geben dafür nun mal nicht viel her! Aber ›Miracle Forest‹ hat wirklich …«

      »… faszinierende Settings, eine gute grafische Umsetzung und ansprechende Aufgaben«, vollendete Leni den Satz für sie. »Es ist einfach die bessere Welt, und wenn Fräulein Daria Lechner könnte, würde sie noch heute dorthin übersiedeln und fortan nur noch Mithras sein!«

      »Hey, wow, du hast dir den Namen meiner Figur gemerkt!«, stellte Daria überrascht fest.

      »Du hast ihn schließlich oft genug erwähnt«, bemerkte Leni mit einem leicht sarkastischen Unterton. »Bedeutet ›Freund‹ auf Indisch oder so. Damit passt er gut in eine Umgebung, in der Versatzstücke aus jeder Epoche und jeder Gegend der Erde herumkriechen! Griechische Mythologie, nordische Götter, diverse Monster aus aller Welt und eine Prise Hollywood – ein tolles Durcheinander!«

      »Genau richtig, um mir Inspirationen für coole Geländespiele zu holen«, wandte Daria ein. »Ich bin ja nicht bloß zum Vergnügen dort, sondern nutze meine Erfahrungen gleich doppelt – fürs Studium und für die Pfadis!«

      »Jaja, schon gut«, beschwichtigte Leni. »Warum hast du dir eigentlich eine männliche Figur ausgesucht?«

      »Mal was anderes.« Daria zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«

      »Hast du – also, hat Mithras auch eine Freundin, wenn er schon ›Freund‹ heißt?«, erkundigte er sich leichthin.

      Daria drehte sich auf ihrem Stuhl herum und lachte ihn an. »Hey, sag mal – bist du eifersüchtig?«, staunte sie. »Auf ein Spiel?? Hör mal, wenn du so neugierig bist, warum spielst du nicht einfach selbst einmal? Du könntest dich unerkannt an mich – ich meine, an Mithras – heranpirschen und mich beobachten, ich würde es nicht mal wissen!«

      »Wer sagt dir, dass ich das nicht längst tue?«, fragte er herausfordernd.

      Einen Augenblick lang sah sie ihn verblüfft an. Dann erschienen zwei verschmitzte Grübchen in ihren Wangen. »Na, dann weißt du ja, was ich in dem Wald so alles treibe!«

      »Ab jetzt wirst du dich bei jeder Figur, der du begegnest, fragen, ob ich das bin«, grinste er.

      »Nicht bei denen, die ich in der nächsten halben Stunde treffe!«, lachte sie zurück. »Schneller kannst du unmöglich zu Hause sein, und jetzt bist du ja offensichtlich nicht online!«

      10

      Im Miracle Forest

      Mithras erwachte in seiner Hütte am Rand der Schweigenden Sümpfe. Dort hatte Daria ihn schlafen gelegt, als sie das Spiel das letzte Mal verlassen hatte. Er sah sich um. Was auch immer während Darias Abwesenheit – also während Mithras’ Schlaf – passiert war, es hatte keine allzu großen Schäden angerichtet. An der Außenseite der Mauer gab es Kratzspuren wie von Wölfen oder Hyänen, aber die Tür aus massivem Eichenholz hatte standgehalten. Auf dem Dach schien ein Kampf stattgefunden zu haben; Blut und Federn klebten auf den Schindeln. Möglicherweise hatte eine Harpyie, ein riesiger Raubvogel, die Wölfe angegriffen. Mithras nahm die Federn an sich. Sie bestanden aus äußerst widerstandsfähigem Material und eigneten sich durchaus als Waffe. Dann überprüfte er seine Ausrüstung: Bogen und Pfeile gehörten zur Grundausstattung jedes Elben. Dazu trug er eine Axt bei sich, die er eines Nachts einem Troll abgenommen hatte, und ein Stahlmesser, dessen Klinge mit geheimnisvollen Symbolen verziert war. Die Bedeutung der Zeichen kannte er nicht; er hatte das Messer in einem Kampf gegen einen Nachtalb errungen. Bestimmt hatte es besondere Fähigkeiten. Außerdem führte Mithras Fleisch und Brot als Proviant mit sich sowie seine letzten paar Münzen.

      Heute wollte er versuchen, die Schweigenden Sümpfe zu überqueren. Nur müsste er es rechtzeitig schaffen, eine sichere Bleibe für die Nacht zu finden. Tagsüber hatte er hier nicht viel zu befürchten, aber wenn es dunkel wurde, krochen allerlei Monster und Ungeheuer aus ihren Verstecken (lauter NPCs – Non-Player-Charaktere) und überfielen harmlose Wanderer. Gelegentlich sogar die, die gerade schliefen, weil ihre Besitzer offline waren!

      Es war nicht leicht, einen Weg durch den Sumpf zu finden. Mehr als einmal versank Mithras bis übers Knie im Morast, als er auf ein scheinbar festes Rasenstück steigen wollte. Seine Schuhe und seine Hose waren schlammverschmiert, und auch der Saum seines orangefarbenen Umhanges färbte sich dunkel. Früher als erwartet brach die Dämmerung herein. Weißer Nebel stieg auf, ein Geräusch wie das Quaken von Fröschen war zu hören.

      Daria bewunderte den Nebel, der weißlich aus dem Boden quoll, nach oben hin durchsichtiger wurde und sich mit dem dunkler werdenden Abendhimmel mischte. Einzelne Schilfhalme hoben sich davor ab; in der Ferne standen die Bäume wie Scherenschnitte vor der Silhouette der Berge. Wie ein Aquarell, dachte sie, speicherte einen Screenshot ab und machte sich eine Notiz.

      Ein Fenster poppte auf und eine Chatmeldung erschien. Es war eine Botschaft von Eldina. Daria stutzte und schaute auf die Uhr. Es war eine gute halbe Stunde her, dass Leni nach Hause aufgebrochen war. Er könnte

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