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von Jahren auf den Schultern. Frustriert lehnte er an einer mit Kletterpflanzen überwachsenen Säule und beobachtete einen Kolibri, der scheinbar schwerelos von Blüte zu Blüte flog und den Nektar trank. Er schwebte nur eine Armlänge über Kirins Kopf und erweckte den Eindruck, wenn man bloß die Finger nach ihm ausstreckte, könnte man ihn fangen, doch Kirin hatte seit seiner Ankunft in Nardéz viele der Tiere gesehen und wusste, wie sehr er sich auch anstrengte, er würde nie schnell genug dafür sein. Beinahe neidisch sah er dem Vogel bei seiner Arbeit zu, verfolgte, wie mühelos er immer höher stieg, dabei seitwärts und rückwärts flog und plötzlich schneller als ein Blinzeln verschwand. Langsam ließ sich Kirin auf die Treppenstufe sinken. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf; das Gespräch mit Tumàsz, die Drohungen, Larniax‹ Erzählung von Aufständen und Aufrührertum in der Armee, Aderuz‹ Ankündigung des nahenden Sturms … und immer wieder drängte sich ungebetenerweise die Erinnerung an die Krähe dazwischen; auch wenn der Rest des Traums mittlerweile völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden war, den Vogel schien er nicht abschütteln zu können. Unwillkürlich schauderte er in einer aufkommenden Brise und schlang die Arme um seine Knie.

      Er fühlte sich einsam und wünschte, seine Freunde wären hier, die einzigen beiden Freunde, die er hatte: Der spöttische Windreiter Rhùk und die Heilerin Megan Dwayne, die mit ihm gezogen war. Es war noch nicht lange her, wenige Monde erst, seit sie fortgegangen waren, und doch kam es Kirin so vor, als sei es die längste Zeit seines Lebens. Megan war es gewesen, die Kirin in der Großen Bibliothek die Sprache der Arachinen gelehrt und ihm feine Manieren beigebracht hatte, nachdem er zuvor sechzehn Jahre das Leben eines einfachen Bauern hatte führen müssen. Sie hatte ihn auf seiner Reise zum Treffpunkt der vereinigten Heere begleitet, und während dieser Reise hatte er auch die Wahrheit über sie erfahren. Darüber, was sie wirklich war.

      Ein Halbblut.

      Seit seiner Kindheit hatte er immer wieder Geschichten gehört über die Westlichen, Kreaturen, die in den Wäldern im Norden Aracanons hausten, unnennbare Horrorgestalten, deren Aussehen keiner kannte, die jedoch jedes Kind bereits in der Wiege zu fürchten lernte. Natürlich glaubte heutzutage keiner mehr so recht daran, dass es sie wirklich gab, aber der Gedanke an sie war eine gute Gelegenheit, sich zu gruseln.

      Und dann hatte er Megan kennengelernt und erfahren, dass Märchen wesentlich mehr sein konnten als nur Märchen. Megan war ein Halbblut, ein Wesen, das der grauenhaften Verbindung zwischen Mensch und Ungetüm entsprang, ein Abkömmling der Westlichen und mit deren Fähigkeiten ausgestattet. Ihr Vater, Lord Andru von Westfurt, war in seiner Jugend in die Wälder gezogen und dort von diesen Kreaturen gefangen worden, auch wenn er Zeit seines Lebens nie über dieses Erlebnis gesprochen hatte. Megan war aus dieser Begegnung hervorgegangen und einsam und verbannt in der Bibliothek von Egasté aufgewachsen, wo Kirin ihr erstmals begegnet war. Sie hatte ihm nicht gesagt, was sie war, bis sie auf ihrer Reise von agoraekhischen Soldaten überfallen worden waren und er das verderbliche Ausmaß ihrer Kräfte mit eigenen Augen gesehen hatte. Er schauderte erneut, als er an den furchtbaren Schrei dachte, den Megan damals ausgestoßen und der allein den Tod von dreißig Angreifern verursacht hatte, und daran, wie ihre Augen geglüht hatten, als das Wüten zu Ende gewesen war.

      Er hatte damals den Fehler begangen, sich von ihr abzuwenden, doch glücklicherweise waren sie sich wieder begegnet und hatten gemeinsam bis zum Ende gegen Galihl und die Windreiter gekämpft. Tatsächlich war es Megan gewesen, die Kirin dazu gebracht hatte, den entscheidenden Schlag gegen Galihl zu führen und Nardéz anzugreifen; sie war gemeinsam mit einer Handvoll Heerführer von den Windreitern verschleppt worden, und Kirin hatte allen gegenteiligen Ratschlägen zum Trotz darauf gedrängt, sie zu befreien. Es war gelungen, auch wenn Lord Andru und viele andere dabei ihr Leben gelassen hatten. Und jetzt war er hier, und sie war fort. Gemeinsam mit Rhùk davongezogen, wussten die Drei allein, wohin.

      Sie wollte ihm keine zusätzlichen Scherereien verursachen, indem sie bliebe, hatte sie gemeint. Nein, beim Schatten, davon hatte er wahrlich mehr als genug!

      Doch da war noch etwas … Megan war der einzige Mensch abgesehen von ihm, der sein letztes und finsterstes Geheimnis kannte, die Wahrheit hinter der mangelnden Entschlossenheit in seinen Erwiderungen, wenn ihm seine Feinde Frevel und Thronraub vorwarfen … Megan wusste, warum seine Hand immer schmerzte, wenn Nàrdarell in der Nähe war, und hätte man Galihls Leiche damals nicht verbrannt, hätte sie auch erklären können, wie die furchtbare Verletzung an der linken Hand des arachinischen Großfürsten entstanden war.

      Als hätte ihm der Gedanke einen Schlag versetzt, stand er auf und marschierte kurzentschlossen davon, über die Terrasse und eine schmale Steintreppe hinunter, die in die weit verzweigten Gartenanlagen des Palastes führte. Unterwegs begegnete er stumm ausharrenden Wachsoldaten, doch kein einziger von ihnen drehte den Kopf, als er an ihnen vorbeiging. Was der Großfürst machte, hatte sie nicht zu interessieren, nur seine Sicherheit. Wieder dachte er an Rhùk, und ein Gefühl von Dankbarkeit durchflutete ihn.

      Als er sein Ziel am äußersten Rand der Palastgärten erreichte, war es schon fast dunkel geworden; Fackeln erleuchteten den kleinen hölzernen Bau vor ihm, der den Eindruck machte, als sei er in äußerster Hast zusammengezimmert worden. Dahinter erstreckten sich ein eingezäunter rechteckiger Platz mit sandigem Untergrund und eine freie Wiesenfläche, die extra für diesen Zweck von Zierbüschen und anderen Pflanzen gesäubert worden war. Als Kirin die Baracke betrat, sprangen die beiden jungen Windreiter auf, die gemeinsam an einem Tisch gesessen und gegessen hatten.

      »Bleibt sitzen«, meinte Kirin leichthin, die Augen auf einen Punkt hinter den beiden gerichtet. »Ich wollte nur kurz nachsehen, wie es ihm geht.«

      Der Windreiter, der näher bei der Tür gesessen hatte, lächelte. »Oh, er macht sich hervorragend, Exzellenz. Wir haben seine Futterration erhöht, er baut täglich Muskeln auf. Bald ist er so schnell wie der Wind, Herr.«

      Kirin ging an dem Tisch vorbei auf den Gegenstand des Gesprächs zu, einen hochgewachsenen, kräftigen jungen Hengst. Seine Hinterläufe und Kruppe waren noch dunkel gefleckt, aber schon jetzt war zu sehen, dass er einmal ganz weiß werden würde. Das Tier stieß ein leises, freundliches Wiehern aus, als er Kirin näherkommen sah, und beschnüffelte gierig die Hand, die er nach ihm ausstreckte.

      Die Verbindung der Windreiter zu ihren Pferden, die sie Windpferde nannten, war legendär, und Kirin war entschlossen, ihnen zumindest in diesem Punkt keinen Grund zur Klage zu geben. Rhùk hatte ihm beigebracht, wie ein Windreiter zu reiten, und als Großfürst brauchte er ein passendes Pferd. Aderuz hatte ihm vorgeschlagen, sich Szàrad zu nehmen, Galihls Pferd, doch abgesehen davon, dass der graue Hengst niemanden außer Galihl auf seinem Rücken duldete, war Kirin unerklärlicherweise abgestoßen davon gewesen. Da unter den Windreitern bereits Reibereien auszubrechen drohten, wer sonst das herrliche Tier für sich beanspruchen durfte, hatte Kirin kurzerhand entschieden, dem Hengst die Freiheit zu schenken. Er erinnerte sich an den Tag, als Szàrad unter dem tosenden Jubel der Windreiter die Straße hinunter aus dem Haupttor der Stadt hinausgaloppiert war, seine lange silberne Mähne wie eine Fahne hinter sich herflatternd. Mit dieser Geste hatte sich Kirin aus unerfindlichen Gründen den Respekt vieler Windreiter gesichert, die ihn feierten wie einen, der gerade eine Hundertschaft Kriegsgefangener befreit hatte. Da Kirin aber im Laufe der vergangenen Monde hatte feststellen müssen, dass viele Windreiter die Ehre ihrer Pferde höher schätzten als das Leben ihrer Verbündeten, hätte ihn das eigentlich nicht überraschen dürfen.

      Was ihn anging, so hatte er sich ein Jungpferd aus der fürsteigenen Zucht ausgesucht, den Hengst, der jetzt vor ihm in seiner Box stand und auf den Namen Rýsz hörte, was in der arachinischen Sprache so viel wie ›Neuling‹ bedeutete. Kirin selbst hatte ihm diesen Namen gegeben; angesichts seiner eigenen momentanen Position empfand er ihn als durchaus passend. Er klopfte dem Pferd den Hals, lobte die beiden Windreiter für die gute Unterbringung und machte sich dann auf den Rückweg. Als er aus dem Fackellicht in die Dunkelheit eintauchte, kehrten seine Gedanken noch einmal zu Szàrad zurück. An dem Abend, an dem Kirin und seine Gefährten sich durch die Windreiterstallungen in die Stadt geschlichen hatten, hatte das Tier sie beinahe verraten, indem es den halben Stall zusammengeschlagen und einen Höllenlärm veranstaltet hatte. Er erinnerte sich, dass einer seiner Begleiter gemeint hatte, der Hengst habe dasselbe böse Blut in seinen Adern wie Galihl. Ein weiterer

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