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nur Durchschnitt, während er das Leben aus der Perspektive der Gewinner betrachten konnte. In meinem Fall sagte man Dinge wie: Sie kommt gut zurecht. Während er erfolgreich war. Denn als das mit uns anfing, war ich zweiundzwanzig, ging noch auf die Hochschule für Hotelfachmanagement, die für meine Familie fast schon zu teuer war, und musste mir meinen Lebensunterhalt mit Jobs bei Cateringfirmen und als Garderobiere verdienen. Jan dagegen hatte damals sein Architekturstudium gerade hinter sich und konnte durch Beziehungen eine Traineestelle in einem sehr angesehenen Architekturbüro bekommen. Ich komme aus einer stinknormalen, wundervollen Familie. Jan kommt aus sogenanntem gutem Haus und musste sich um so etwas wie Geld nie Sorgen machen, auch wenn die Beziehung zu seinen Eltern nicht vergleichbar war mit dem Band, das mich mit meiner Familie verbindet. Meine wenigen Freunde waren damals so gut wie allesamt vom Land – wie ich – und arbeiteten nebenher, um in ihrem Beruf oder im Studium weiterzukommen. Jans Freunde kamen aus der Stadt, hatten ererbte oder geschenkte Eigentumswohnungen – vorzugsweise im ersten Bezirk – oder kamen aus der näheren Umgebung Wiens. Sie schwänzten ihre Vorlesungen, wechselten ihre Ausbildungs- und Jobgelegenheiten wie ich Sommer- und Wintergarderobe und gingen drei- bis viermal die Woche auf Partys oder in die besten Clubs der Stadt. Jan war viele Dinge, die ich nie sein würde. Das wusste ich von Anfang an. Oft hatte ich damit zu kämpfen, vor allem mit seinen versnobten Freunden oder mit seiner lockeren und sehr selbstbewussten Einstellung zu vielen Dingen, die ich sehr ernst nahm. Doch wenn wir alleine waren, wenn es nur um uns ging, war Jan der wundervollste Liebhaber, der beste Freund und der Mensch, der mir gezeigt hat, dass man Freude im Leben haben soll, auch wenn unsere Schwächen letzten Endes dazu geführt haben, dass wir es als Paar nicht geschafft hatten. Mit diesem Mann hatte ich die schönsten und schlimmsten Monate meines Lebens. Kaum zu glauben, dass er jetzt nicht mehr dieser Mann sein soll und vielleicht sogar nie wieder sein wird. Der Gedanke bereitet mir Magenschmerzen. Ich ertrage das nicht. Ich muss mich aufsetzen und die Decke wegschlagen. Heute Nacht werde ich ohnehin kein Auge zutun.

      Gefährliche Gedanken beginnen sich in meinem Kopf zu formen. Schon die bloße Vorstellung ist total verrückt, aber es ist genau das, was ich will. Ich will, dass Jan wieder so ist, wie er einmal war. Ich kann nicht zulassen, dass Jan so weitermacht und der bleibt, den er mir heute Abend gezeigt hat. Eigentlich sollte ich das nicht wollen. Doch wenn es um ihn geht, war ich immer schon unvernünftig. Dabei bin ich für meine Vernunft und meine Kontrolle, besonders in meinem Job als Veranstaltungsmanagerin eines Hotels, bekannt. Der Geschäftsführer, Herr Peters, hat mir in unserem letzten Jahresgespräch versichert, dass er noch nie eine so junge Angestellte in dieser Position – mit gerade mal sechsundzwanzig Jahren – hatte, die ihren Job mit so viel Professionalität und Können bewältigt hat. Ich bin froh, dass niemand bei der Arbeit meine Gedanken lesen kann, denn wenn sie wüssten, wie absolut unvernünftig und gefährlich meine Gedanken gerade sind, würden sie mich nicht wiedererkennen. Und doch sind sie da und hämmern gegen meinen Schädel. Ich möchte für Jan das tun, was er, ohne sein Wissen, für mich getan hat. Jan hat mich vor vier Jahren aus meinem schüchternen Schneckenhaus befreit, mir gezeigt, wie ich mit jemandem sein kann, dem ich vertraue und der mich Vergnügen auf eine ganz neue, aufregende Art erfahren hat lassen. Jan hat mir beigebracht, was Intimität ist und wie sich guter Sex anfühlt. Fast alles, was ich an weiblichem Selbstbewusstsein besitze, geht trotz allem auf Jans Konto. Und nun ist er von Narben gezeichnet, er, bei dessen Anblick die Frauen schwache Knie und feuchte Höschen bekamen – selbst die schönsten. Ausgerechnet er ist gezwungen, mit einem kaputten Bein zu leben, er, der immer so stark und sportlich war. Der beim Marathon seine Spitzenzeit mit einer Sektdusche gefeiert hat. Ich kenne ihn. Gut genug. Ich weiß, dass er sich so nicht akzeptieren kann, dass es ihn umbringt, so angesehen zu werden und nicht die Leistung bringen zu können, die ihm immer so mühelos gelang. Seine Aggressivität mir gegenüber hat es gezeigt. Jan erträgt es nicht, so zu sein, wie ihn der Unfall hat werden lassen, und er schlägt um sich, weil er sich nicht selbst akzeptieren kann. Ich weiß nicht genau, seit wann er sich auf dieser Abwärtsspirale aus Selbsthass und Ablehnung befindet, aber ich weiß aus tiefstem Herzen, dass ich etwas dagegen tun möchte. Meine Mutter nannte es immer meinen Helferkomplex. Sie sagt, ich sei schon immer damit geschlagen gewesen. Als in der Grundschule Franziska von einem der älteren Jungen drangsaliert wurde und ich mit ihr gemeinsam um unser Leben gelaufen bin, weil ich mich einmischen musste, dämmerte mir zum ersten Mal selbst, dass an der Ansicht meiner Mutter etwas dran sein könnte. Aber selbst wenn, kann ich nichts gegen diesen Drang machen, der sich in meinem Inneren ausbreitet. Ich möchte Jan helfen. Ich möchte, dass er nicht mehr so leidet und lernt, sich selbst auch mit seinen Narben und dem kaputten Bein anzunehmen. Denn für mich macht es kaum einen Unterschied. Ich denke an ihn, sehe ihn an, und vor dem Unfall oder danach, dreht sich in mir diese wilde Gefühlsspirale aus heißen Funken, die mich fühlen lässt, die das Feuer in mir entfacht. Egal was damals zwischen uns passiert ist, der Hunger ist noch da. Außerdem muss ich ja nicht blind in diese Sache hineinlaufen. Gut, ich habe den Drang, Jan zu helfen, auch wenn ich sehr bezweifle, dass er mich helfen lässt oder je anruft, dennoch bin ich nicht dumm. Ich muss mich selbst schützen. Ich muss einen Weg finden, Jan zu helfen, ohne dass er es mitbekommt, und gleichzeitig auf der Hut vor meinen Gefühlen für ihn sein. Zu gut kenne ich die Folgen meiner Verliebtheit in Jan Herzog. Die einzige Art, wie ich Jan helfen kann, ohne dass er denkt, ich würde ihn nur bemitleiden, führt über unsere körperliche Anziehungskraft. Sex. Jan hat immer schon alles zwischen uns körperlich ausgedrückt und geregelt. Wenn wir einen Streit hatten, verführte er mich. Wenn wir uns besonders nahe waren, schlief er mit mir und zeigte mir, was er für mich empfand, ohne es mir mit Worten sagen zu können. Jan glaubte an Lust wie niemand sonst. Er sagte sogar einmal zu mir, dass Lust und körperliche Anziehung das Einzige sei, was zwischen einem Mann und einer Frau frei von jeder Lüge sei.

      Wenn ich einen Weg zu Jan finden will, um ihm zu zeigen, dass er für mich genauso begehrenswert ist wie früher, führt der nur übers Bett. Bin ich bereit, diesen Weg zu gehen? Will ich das wirklich? Kann ich das tun, ohne mich nochmals Hals über Kopf in ihn zu verlieben?

      Ja, meine Gedanken sind vollkommen wahnsinnig. Abgesehen davon sind es nur Hirngespinste. Jan will keinen Kontakt zu mir, das hat er mehr als deutlich gemacht, auch wenn er am Ende schwankte. Und selbst wenn … Natürlich bin ich in den letzten Jahren erwachsen geworden und selbstbewusster als noch vor vier Jahren. Doch auch heute plagen mich Unsicherheiten und gewisse Ängste, die ich überwinden müsste, um Jan ohne Zweifel zu beweisen, dass ich ihn noch will. Sein Körper und seine sexuelle Kraft konnten manchmal einschüchternd sein, während ich – schüchtern und unerfahren – einfach von seiner Leidenschaft infiziert worden war. So wie mit ihm war ich mit keinem anderen. Und da ist dieser kleine selbstsüchtige Teil von mir, der das nicht nur für ihn, sondern auch für mich selbst tun möchte, der wieder diesen Rausch fühlen will, wenn ich mit ihm schlafe.

      Bin ich stark und entschlossen genug, das durchzuziehen?

      Gott, steh mir bei! Aber ich will es tun. Ich will das wirklich wagen. Wie zum Teufel stelle ich das nur an? Wie verführe ausgerechnet ich jemanden, der früher selbst der Verführer war und aufgrund seiner derzeitigen Verfassung sehr wahrscheinlich unempfänglich oder misstrauisch für diese erotischen Absichten sein wird?

      Ich erinnere mich nicht daran, je so verrückte Ideen gehabt zu haben. Seltsamerweise ist es dieser kühne, völlig wahnsinnige Plan, der sich in meinem Kopf formt, der mich endlich einschlafen lässt. Verrückt. Erst jetzt gelingt es mir, die Unruhe in mir abzustellen und die Augen zu schließen. Vielleicht bekomme ich doch noch zwei Stunden Schlaf vor einem zehnstündigen Arbeitstag.

      Kaum bin ich eingenickt, läutet mein Handy. Zuerst denke ich, dass ich kurz verschlafen habe und nun schon der Wecker läutet. Murrend fasse ich nach dem Smartphone und bekomme fast einen Schlag, als ich den Anrufer auf dem Display erkenne. Eingehender Anruf: Jan Herzog. Sofort bin ich wach. Vielleicht träume ich noch? Mit Unterstützung dieser beruhigenden Vorstellung drücke ich auf annehmen und halte mir das Handy ans Ohr. Mein Herzschlag dröhnt so laut, dass ich Angst habe, nichts zu hören.

      „Ella?“, höre ich seine fragende Stimme. Er klingt verdammt wach, so als hätte er keine Minute geschlafen.

      „Jan?“

      „Ja“, bestätigt er kurz und eine unangenehme Pause entsteht, als wisse keiner von uns, was er eigentlich sagen soll. Aber immerhin hat er mich

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