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er meine Antwort hat, steckt er die Karte ein und scheint sich wieder vor mir zu verschließen. Ich denke nicht, dass er anrufen wird. Und vielleicht ist das ja auch am besten so. Für uns beide. Ja, es ist besser so, auch weil ein Teil von mir das unbedingt will.

      Ohne sich zu verabschieden, verschwindet Jan die Straße hinunter. Ich schlucke einen riesigen Kloß runter, als ich sehe, wie er das linke Bein nachzieht und es seinen Gang unregelmäßig macht. Mit trockenem Mund rufe ich beim Taxi-Ruf an und warte auf den Fahrer. Seltsamerweise geht mir in der Nacht dieses merkwürdigen Wiedersehens die Nacht unserer merkwürdigen ersten Begegnung nicht aus dem Kopf.

      Kapitel 2

       Ella - 2010

      Ich habe Angst. Schritte verfolgen mich. Noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich Angst haben sollte. Die schweren Schritte kommen näher, beschleunigen ihren Tritt. Verstohlen blicke ich über die Schulter. Ein großer Kerl folgt mir. Es ist viel zu dunkel, um wirklich etwas erkennen zu können. Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass es eine dumme Idee war, zu Fuß nach Hause zu laufen, um drei Uhr nachts. Doch was blieb mir anderes übrig? Auf einer Party in der Innenstadt habe ich fünfmal versucht, ein Taxi zu bekommen, bis mir wieder einfiel, dass ich bei jedem Funktaxiunternehmen nur das Besetztzeichen bekommen würde. Denn in der Nacht des Lifeball, mit den unzähligen Partys und Veranstaltungen kommt es einem Sechser im Lotto gleich, wenn es einem gelingt, ein Taxi in der Innenstadt zu bekommen. Das fünfte Besetztzeichen noch im Ohr, habe ich mich auf den kurzen Weg aufgemacht, obwohl ich sonst, auch wenn ich es mir eigentlich nicht leisten kann, ein Taxi nehme. So oft gehe ich nicht aus, damit es wirklich negativ zu Buche schlagen kann. Und doch ärgere ich mich über mich selbst, besonders jetzt, wo mir der Fremde schon so nahe kommt, dass ich sein leises Schnauben höre. Ich wünsche mir, ich hätte keine Partyklamotten an, besonders keinen kurzen Rock. Meine Beine und die aufkeimende Panik treiben mich an, schneller zu gehen. Aber ich möchte ihn nicht provozieren. So gut es geht, versuche ich im Schein der Straßenlampen zu bleiben. Kalter Schweiß bricht mir aus. Seit fünf Minuten habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Noch drei Straßen. Nur noch drei. Nirgends ein Taxistand zu sehen. Die kleinen Gassen liegen nicht auf einer Hauptstraße. Warum biegt er nicht einfach ab? Bieg ab!

      Etwas drückt auf meine Schulter. Erschrocken drehe ich mich instinktiv um. Ein grinsender Mann mit graumeliertem Bart, deutlich älter als ich, starrt mich an. Seine Augen schwimmen. Ich sage nichts, sehe ihn nur abwehrend an. Wie von selbst wühle ich in meiner Jackentasche nach dem Handy.

      „Hübsch bist du. Hab schon viel von dir von hinten gesehen.“

      Er lallt. Seine Augen wandern unruhig hin und her. Den Rücken will ich ihm auf keinen Fall zudrehen, also behalte ich ihn im Blick und gehe langsam rückwärts.

      „Ach komm schon. Du ziehst dich sicher nicht so an, wenn du’s nicht wollen würdest.“ Dreckig lacht er mich aus.

      Übelkeit steigt in mir hoch, als er meine unbekleideten Beine anstarrt. Gerade will ich mein Handy aus der Tasche ziehen, um vor seinen Augen den Notruf zu wählen, als ich schon gegen die Hausmauer gedrückt werde. Keuchend entweicht mir die Luft zittrig aus den Lungen. Mein Puls rast, als mir klar wird, dass er mich festgesetzt hat und mein Handy auf dem Asphalt liegt, außer Reichweite. Er stinkt nach Bier und Schnaps. Instinktiv stemme ich ihn mit den Händen von mir. Zu meinem Entsetzen stelle ich wieder fest, wie klein ich bin, besonders im Vergleich mit ihm, denn er ist bullig und groß und ziemlich betrunken.

      „Komm schon … Lass mich ran“, sagt er immer wieder, während ich alles tue, um ihn abzuwehren. Meine Hände geben nach. Sein Mund drängt sich an mein Ohr, sein Atem streift meinen Hals. Ich spüre allzu deutlich, wie abgehackt meine Atemstöße sind. Ich möchte schreien, aber es gelingt mir nicht. Um ihn und seine Gier nicht sehen zu müssen, presse ich die Augen zu. Meine Hände drücken so fest sie können. Sie sind zu schwach. Als er sich am Reißverschluss meiner Jacke zu schaffen macht, schreie ich entsetzt auf.

      „Hey, du, lass das Mädchen los!“, höre ich eine Männerstimme, die meine verzweifelten Gedanken ausspricht. Mit aufgerissenen Augen versuche ich über meinen Angreifer hinwegzusehen, um den Ursprung der Stimme zu sehen. Doch er überragt mich. Alles, was ich sehe, ist seine breite Brust.

      „Bist du taub? Du sollst sie loslassen!“ Die Stimme wird schneidender. Sie ist das schönste Geräusch der Welt, diese Stimme. Auf der Schulter des Mannes, der sich immer noch an mich drängt, taucht eine Männerhand auf, die ihn von mir zerrt. Ich sacke zusammen, als der Fremde es schafft, meinen Angreifer zurückzuziehen. Nur die Hausmauer in meinem Rücken hält mich noch gerade so aufrecht. Jetzt kann ich ihn erkennen. Ein junger Mann mit dunklen Haaren steht dem breiten Kerl, der mich bedrängt hat, gegenüber. Sein Körper wirkt angespannt, vorsichtig. Die beiden starren sich gegenseitig an.

      „Verpiss dich! Das geht dich nichts an“, pöbelt er den jungen Kerl an, der mir einen kurzen Blick zuwirft. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie beide deutlich schnaufen. Der junge Kerl, der nicht viel kleiner ist als der andere Mann, versucht ruhig zu bleiben. Ich kann es ihm deutlich ansehen.

      „Geh und schlaf deinen Rausch aus, Mann … ehe es dir richtig leidtut.“ Er klingt entschlossen und gefährlich. Langsam macht er einen Schritt auf den betrunkenen Kerl zu. Er trägt nur ein Shirt, unter dem sich deutlich seine Muskeln abzeichnen. Auch wenn er schmaler als der andere Mann aussieht, wirkt er durchtrainiert und zeigt keine Angst einem Kerl gegenüber, der betrunken und zudringlich ist. Mir wird klar, dass ich die Luft anhalte und Angst um den jungen Fremden habe, der gekommen ist, um mir zu helfen. Der Betrunkene scheint noch etwas Verstand beisammenzuhaben, denn er macht endlich ein paar Schritte rückwärts. Seine Ferse kippt über den Randstein und er stolpert mit den Armen rudernd auf die Straße, lachend und wütend zugleich.

      „Scheiß auf dich!“, nuschelt er vor sich hin, torkelt von links nach rechts. „Scheiß auch auf die blöde Kleine.“

      Der dunkelhaarige Kerl lässt ihn nicht aus den Augen, auch jetzt nicht, als er sich von uns entfernt und in Richtung des Parks schwankt. Erst als ihn die finstere Parkanlage verschluckt hat, lasse ich die angestaute Luft aus meinen Lungen. Mein Retter steht zwei Schritte neben mir und sieht noch angespannt in die Richtung, in die der Kerl verschwunden ist. Ohne ihn wäre das hier nicht gut ausgegangen. Mit kalten, zitternden Händen fasse ich nach seinem Arm, damit er mich ansieht.

      „Danke“, sage ich so fest ich kann. Als ich ihn dabei berühre, sieht er zu mir. Er hat erstaunlich blaue Augen. Selbst bei diesem trüben Straßenlicht kann ich es erkennen. Außerdem ist er ein sehr gut aussehender Mann in meinem Alter, vielleicht auch ein paar Jahre älter.

      „Du hattest Glück, dass ich zufällig auf dem Heimweg war“, sagt er bekümmert.

      „Ich weiß“, sage ich vor mich hin. Mir ist seltsam heiß und kalt, so als wäre nur ein Teil von mir anwesend.

      „Es war kein Taxi zu bekommen. Ich musste zu Fuß gehen“, sage ich, auch wenn er gar nicht danach gefragt hat. Ich beginne zu schwafeln, was ich nur dann tue, wenn ich nervös oder vollkommen daneben bin.

      „Ging mir auch so“, entgegnet er und schenkt mir ein vorsichtiges Lächeln. In dem Moment bin ich mir sicher, dass ich noch nie einem so attraktiven Mann begegnet bin. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob das an der Tatsache liegt, dass er sich heute Nacht zu meinem Retter aufgeschwungen hat, oder daran, dass er einfach viel zu heiß ist, um etwas anderes überhaupt gelten zu lassen. Seinem Lächeln weicht ein besorgter Blick.

      „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt er mich vorsichtig und blickt auf meine halboffene Sommerjacke. Sofort ziehe ich den Reißverschluss hoch. Und etwas daran macht mir erst klar, was alles hätte passieren können. Ich bin mitten in der Nacht von einem Fremden angegriffen worden, der sich an mir vergehen wollte, und wäre er nicht gekommen …

      Bevor ich weiß, wie mir geschieht, laufen mir Tränen über die Wangen, und ich zittere, als wäre es eisiger Herbst und keine laue Sommernacht, in der es immer wieder zu regnen beginnt. So wie jetzt. Besorgt sieht er mich an, blickt von mir nach oben zum Nieselregen und wieder zu mir. Meine Nase läuft. Ich

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