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Jetzt rede endlich. Und keine Späße mehr.“

      Jetzt verstand Naxbil, der ein lautes Lachen nicht verkneifen konnte.

      „Ich soll das alles angezettelt haben? Ich? Der nicht einmal sich selbst kontrollieren kann, soll Hunderte zu diesem Aufstand gebracht haben?“

      Mittlerweile waren die Truppen dazu übergegangen, den Verwundeten auf dem Platz den Garaus zu machen. Bald schon würden sich noch mehr Hochgeborene Soldaten für die Beiden interessieren, dann war es mit Naxbil endgültig vorbei. Noch wusste nur Gladicus von seinem verbotenen Ausflug.

      Gladicus war das alles egal, denn er würde Naxbil ausliefern, das ahnte der Unglückliche. Gab es denn keinen Ausweg? Unter normalen Umständen hätte er versucht, Zeit zu gewinnen, doch selbst diese Option hatte er nicht.

      „Gladicus, um Ophras Willen, hör auf damit. Willst du deinen Schwager an den Galgen bringen?“

      Gladicus verzog keine Miene.

      „Das hast du dir selbst eingebrockt. Du kommst jetzt mit, wir werden dich dem Rat vorführen.“

      Was als Nächstes geschah, lief für beide wie in Zeitlupe ab. Eigentlich hob Naxbil nur die Hand mit der rostigen Eisenstange. Er würde später schwören, dass es ein Versehen war, dass er niemanden verletzen wollte.

      Gladicus, der auf diese Aktion nicht vorbereitet war, machte keine Anstalten, sich zu wehren. Im Gegenteil, er wollte wieder auf Naxbil einreden, nur dass diesmal keine Worte aus seinem Mund kamen. Es war nur ein lautes Gurgeln zu hören. Gladicus schaute ungläubig auf Naxbil, der zu Tode erschrocken vor dem Riesen stand.

      Gladicus fasste sich an den Hals, spürte die Stange, die dort herausragte und seine Luftröhre durchbohrt hatte. Das alles war ohne ruckartige Bewegung geschehen, kein Schlag, kein Stoß, nichts, wie von Zauberhand war die rostige Waffe mühelos durch den Hals des Generals geglitten, der diese Attacke nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn gespürt hatte.

      Die Augen des Gladicus weiteten sich, als er langsam verstand, was mit ihm geschehen war. Immer noch schaute er ungläubig auf Naxbil, immer noch fasste er nicht das Ausmaß seiner Verletzung. Er, der Unbesiegbare, der sich den wildesten Kämpfern gestellt und immer obenauf gewesen war, schwer verletzt durch einen schwächlichen Hochgeborenen?

      Er röchelte, versuchte Luft zu holen, was ihm nur schwerlich gelang. Aus seinem Mund floss das dickflüssige, dunkelblaue Blut, während der Riese versuchte, den Eisenstab zu entfernen. Mit jedem Recken jedoch wurden die Schmerzen stärker und die Panik größer, denn je mehr er zog desto schwieriger wurde das Atmen. Sein blasses Gesicht wurde immer blauer, das Blut rann bereits an der Rüstung hinunter.

      Alles spielte sich in Sekunden ab. Noch hatte niemand etwas von dem Vorfall mitbekommen, sicher weil Gladicus wie ein starker Baum stand und keine Anstalten machte, trotz seiner Verwundung, Schwäche zu zeigen. Er würde, wenn möglich, stehend sterben, ein Gedanke, der langsam in ihm heranreifte und mehr und mehr Wirklichkeit wurde.

      Naxbil reagierte schnell, fand noch Zeit, Gladicus einige Worte zu sagen.

      „Es tut mir leid, es war keine Absicht. Bitte verzeih mir.“

      Dann drehte er sich so schnell wie möglich um und verschwand in einer der Gassen, die sich hinter ihm auftat. Als hätte er noch nicht genug Schwierigkeiten, sah er einen verletzten namenlosen Jungen, der nicht mehr laufen konnte. Kurz entschlossen packte er ihn und trug das Geschöpf, das kaum mehr die Kraft fand, sich an ihm festzuhalten. Er lief so schnell er konnte, der Gefechtslärm hinter ihm wurde immer leiser, auch wenn er nie ganz verstummte. Naxbil bemerkte es kaum, aber ihm folgten einige Namenlose, die sich an ihn geheftet hatten. Er machte den Eindruck als wüsste er einen Ausweg und die Nocturnen klammerten sich an diese Hoffnung, dem Massaker, das sicher noch die ganze Nacht weitergehen würde, zu entrinnen.

      Naxbil erinnerte sich wieder, wo er war. Alles war ihm egal, er dachte nicht mehr, wollte nur noch in dem Loch verschwinden, aus dem er hier unten hervorgekrochen war. Bald schon hatten sie die Tiefen der Unterstadt erreicht, wo sich kaum noch jemand hin verirrte. Hier bewegte er den verwitterten, leichten Felsen, legte wie durch ein Wunder für die anderen den Eingang frei. Ohne zu fragen, folgten sie ihm. Er ließ sie gewähren, warum, wusste er nicht. Als der letzte Nocturn hindurch war, schob er den Stein wieder vor das Loch, unauffindbar für jeden außer ihm. Wie im Delirium lief er durch die uralten Gänge. Ein Ziel hatte er nicht. Stumm und erwartungsvoll folgten ihm die anderen. Noch immer trug er den Jungen, der inzwischen eingeschlafen war. Nach einer Stunde des Umherirrens hielt er inne, setzte sich auf das, was früher einmal eine Art Bürgersteig gewesen sein musste und ruhte sich aus. Noch immer sprach niemand ein Wort, doch alle folgten seinem Beispiel.

      Naxbil ahnte, dass er heute Nacht zu weit gegangen war. Ab heute würde alles anders werden, nicht nur für ihn, auch für alle, die ihn kannten. Im Moment war er jedoch zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er legte sich auf die Steine, die gnadenvolle Dunkelheit des Schlafes umgab ihn nach wenigen Sekunden, er verlor sich in der Surrealität der Träume, in denen er noch immer unschuldig und unbefleckt war.

      Kapitel 10

      Naxbil erwachte. Er schaute sich um, doch erkannte er lange nicht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein. Alles kam ihm wie ein schlechter Traum vor, der Aufstand, die Toten, sein Verbrechen am angehenden Bräutigam seiner Schwester. Als er sich jedoch umschaute, blickte er auf die Namenlosen, die ihm gefolgt waren. Der Junge, den er gerettet hatte, lag tief schlafend in seiner Nähe. Auch die anderen schliefen, Naxbil vernahm ihr gleichmäßiges Atmen, das – beinahe synchronisiert – bewies, dass er nicht nur einen Hochgeborenen schwer verletzt hatte oder schlimmer. Er hatte auch viele Leben gerettet, auch wenn diese Namenlosen kaum etwas wert waren. In diesem Augenblick begann er, das anders zu empfinden. Noch immer zogen vor seinem Auge die Bilder dieser Nacht vorbei. Es war, als rieche es wieder nach Rauch, Blut und Exkrementen. Noch immer vernahm er die Schreie der Sterbenden und Verwundeten, sah ihre zermalmten Körper beinahe deutlicher vor sich als zum Zeitpunkt des Geschehens.

      In der Höhle waren an die 20 Namenlose, vorwiegend junge, aber auch einige ältere Nocturnen, die sich an der aufrührerischen Versammlung in der Nacht beteiligt hatten. Naxbil blickte an sich hinunter. Auch er trug immer noch die Torgu. Das erste Mal empfand er so etwas wie Stolz, was ihn wunderte, denn seiner Meinung nach hatte er heute Nacht nichts getan, das ihn zu dieser Empfindung berechtigt hätte.

      Er dachte nach, machte sich Gedanken über das, was jetzt geschehen sollte. Er konnte nicht mehr zurück, wusste allerdings nicht weiter. Es schien ihm wichtig, die Nocturnen hier nicht allein zu lassen, auch wenn es ihn im Grunde nichts anging. Instinktiv jedoch fühlte er, dass er mehr denn je Teil dieser Welt geworden war, wahrscheinlich bereits in dem Moment, als er das erste Mal die Torgu angezogen hatte, um das, was er nicht kannte, kennenzulernen.

      Ein älterer Namenloser in seiner Nähe blinzelte, ein untrügliches Zeichen, dass er erwachte. Naxbil wartete, bis der drahtige, beinahe kahle Nocturn realisiert hatte, wo er war. Bevor dieser sich jedoch in seinen Erinnerungen verlieren konnte, flüsterte Naxbil:

      „Mein Freund, warte hier und pass auf die anderen auf. Ich werde uns etwas zu essen besorgen und zusehen, dass ich in Erfahrung bringe, wie die Dinge draußen stehen.“

      Naxbil machte sich nicht die Mühe, seinen Hochgeborenen Akzent zu verbergen. Der Namenlose schaute ihn verwundert an.

      „Ja, ich bin hochgeboren, das ist ab jetzt nicht mehr wichtig. Meine Zeit in der Oberstadt ist vorbei. Wartet hier auf mich, ich komme zurück, sobald ich mehr weiß. Bewegt euch nicht, ihr werdet sonst niemals wieder hinausfinden. Glaubt mir, es hat mich Jahre gekostet, den Lauf dieser Gänge zu verstehen.“

      Der Namenlose nickte nur verwirrt. Naxbil machte sich sofort auf den Weg. Selbst er brauchte einige Zeit, bis er einen Ort fand, den er kannte. Das Höhlensystem hatte er noch lange nicht vollständig erkundet, kannte aber die Wege zwischen den beiden Zugängen, so dass er nur lange genug umherlaufen musste, bis er einen Weg fand, den er irgendwann einmal markiert hatte. Naxbil prägte sich alles genau ein, um die Gruppe wiederzufinden, die ohne ihn hier unten ganz sicher verloren war. Er musste so schnell wie möglich

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