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nach unten. Die schmalen Stufen waren in die Felswand gehauen und nun verwittert. Einst hatte ein hölzernes Geländer den absteigenden Zwergen Halt gegeben, doch längst war es weggefault. Wer dort hinunter stieg, wagte sein Leben. Aramar hielt seine Begleiter mit einer Handbewegung zurück. Schon allein an diesem Abgrund zu stehen, war gefährlich.

      „Wie kommen wir dort hinunter, ohne uns den Hals zu brechen?" seufzte Glaxca.

      Als der Nebel aufriss, gab er zuerst den Blick auf die vier Spitzen des Loron frei. Es waren runde Säulen, die sich nach oben gleichmäßig verjüngten. Sie waren so scharf, dass man sie als Lanzen hätte benutzen können. Dann wurde das obere Teil des Turms sichtbar. Es war rund und aus einem schwarz glänzenden Material. Fenster blickten nach allen Seiten. Nach kurzer Zeit konnte man den Grund des Tales erkennen, und dann tat sich ein Paradies auf. Trotz der späten Jahreszeit standen unten die Bäume noch in vollem Grün. Alleen liefen sternförmig auf den geheimnisvollen Turm zu. Felder in Form von Gärten unterbrachen die Baumreihen und kleine Seen und Bäche ergänzten das Bild. Ein Fluss stürzte als Wasserfall aus den Bergen in die Tiefe, floss quer durch das Tal und verließ es im Süden. Es war die Is, die viele Tagesreisen später als mächtiger Strom in das Worameer mündet. Das Wunderbarste aber war der Turm. Er war sehr schlank und sehr hoch. Seine Mauern waren glatt und schimmerten in einem Schwarz, das ins Dunkelblau überging. Auf halber Höhe zog sich ein Balkon oder eine Galerie um sein gesamtes Rund. Alles an diesem Turm strebte nach oben und mündete in Spitzen, die sich mit dem Himmel zu vereinen schienen.

      Dort, wo sich Rotamin zur Ebene von Equan hin öffnete, konnte man ein großes Zeltlager erkennen. Aus diesen Zelten strömten nun im Morgengrauen Menschen in großer Zahl. In langen Reihen marschierten sie auf den Turm zu und trampelten dabei alles nieder, was ihnen im Weg stand. Es waren Soldaten aus Ammyl. Die Gefährten in der luftigen Höhe beobachteten voller Erstaunen, dass sich die Soldaten zu konzentrischen Kreisen um den Loron formierten. Schließlich war nach einem stundenlangen Aufmarsch das ganze Tal schwarz von Menschen. Nur um den Mittelpunkt dieser Versammlung, den Turm, gab es noch freien Raum. Dann, es musste ein Befehl ergangen sein, begannen alle Soldaten gemeinsam dumpf zu singen: „Omm amm mii. Omm amm mii. Omm amm mii.“

      Das monotone Singen steigerte sich zu einem Orkan, der das ganze Tal füllte: „Omm amm mii. Omm amm mii. Omm amm mii.“

      „Was soll das?" fragte Galowyn entgeistert und hielt sich die Ohren zu, denn selbst in dieser Höhe schmerzte der gebündelte Schall aus dem Tal.

      „Sie versuchen den Loron mit einem gewaltigen Zauber zu sprengen“, antwortete Urial bestürzt. „Wir müssen etwas unternehmen. Sie werden den Turm öffnen oder vernichten."

      „Der Loron ist stärker, als du glaubst. Der ganze Zauber, zu dem die Alten fähig waren, steckt in ihm. Er wird auch diesem brutalen Angriff widerstehen."

      Das „Omm amm mii" schwoll noch weiter an, und der große Turm begann zu wanken. Im Rhythmus des "Omm amm mii" schwang er hin und her. Und noch immer steigerte sich der Zauberspruch. Die tausendköpfige Menge, die ihn gemeinsam rief, wurde von ihm selbst mitgerissen. Wie in Trance brüllten die Männer im Gleichklang: „Omm amm mii. Omm amm mii. Omm amm mii."

      Der Turm bebte, und seine vier Spitzen schwangen in einem immer größeren Radius. Kein menschliches Bauwerk hätte diese Belastung ausgehalten. Es wäre gebrochen und in sich selbst zusammengestürzt.

      „Wer hat den Fürsten und seine Männer diesen Zauber gelehrt?" Urial war entsetzt.

      Auch Aramar war bleich geworden: „Um den Turm mache ich mir keine Sorgen. Aber wer einen solchen Zauber entfesseln kann, ist noch zu ganz anderen Teufeleien fähig."

      „Es sind die Glatzköpfe“, sagte Axylia. „Sie sind gefährlich wie Klapperschlangen, und wir wissen noch immer nicht, um wen es sich bei ihnen handelt, und von woher sie kommen. In keiner Sage, die ich kenne, kommen sie vor. Wie kann man einen Feind bekämpfen, von dem man nichts weiß?"

      „Heute wird der Turm standhalten“, stammelte Urial, „aber was wird morgen sein? Vielleicht haben sie bald einen noch mächtigeren Zauber? Sie schrecken vor nichts zurück, um an ihr Ziel zu gelangen. Kann man nichts dagegen unternehmen? Können wir den Loron nicht verteidigen?"

      „Man könnte die ganze Bande wegfegen“, antwortete ihm Aramar, „aber dazu müssten wir im Loron sein. Außerhalb seiner Mauern sind wir machtlos."

      „Was sollen wir tun?" fragte die alte Frau.

      „In den Turm gehen und dem Spuk ein Ende machen." Aramar hatte ganz ruhig gesprochen.

      „Wie wollt ihr da hineinkommen? Er wird streng bewacht. Habt ihr einen Schlüssel?"

      „Unser junger Freund sagt, er weiß, wie er zu öffnen ist. Dazu braucht man keinen richtigen Schlüssel, sondern etwas, das man im Kopf mit sich herumtragen kann."

      „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Loron aufbekomme“, sagte Urial zaghaft. „Meine Meister haben mir nur verschiedene Methoden gesagt, die ich ausprobieren kann."

      „Das Wissen und die Weisheit im Weißen Rat haben nachgelassen." Aramars Stimme war enttäuscht und bitter. „Da wird ein junger Bursche zu einer äußerst wichtigen Mission ausgewählt und durch die halbe Welt geschickt, aber ohne vernünftige Informationen und Hilfestellungen. Zum Glück ist deine Unwissenheit nicht tragisch, denn ich bin durch Zufall dein Gefährte. Ich weiß, wie der Turm geöffnet werden kann, schließlich habe ich ihn selbst vor vielen Jahren verschlossen."

      Und wieder scholl das „Omm amm mii" aus der Tiefe. Es war nun ein Sturm, der die Blätter von den Bäumen riss. Das „Omm amm mii“ war so mächtig geworden, dass es die Männer selbst angriff. Sie mussten das Singen beenden, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Deshalb gab jemand den Befehl zum Aufhören, und die Beschwörung erstarb. Eine fürchterliche Stille machte sich breit. Der Turm schwang noch ein wenig hin und her und stand dann kerzengerade, als wäre nichts geschehen.

      Die Soldaten entfernten sich langsam und gebückt aus dem verwüsteten Tal, und die fernen Zuschauer meinten, ihre Enttäuschung über die vergebliche Anstrengung zu spüren. Nur ein paar kleine Gestalten blieben noch und untersuchten den Loron. Auch sie zogen schließlich ab und ließen den schwarzen Turm allein und unberührt zurück.

      Viel Zeit war vergangen, und die Gruppe musste an den Abstieg ins Tal denken. Doch alle hatten Angst vor den steilen, zerbrochenen Stufen ohne Geländer, die mehrere hundert Fuß in die Tiefe führten. Würden sie jemals heil unten ankommen. Selbst Aramar waren Zweifel und Angst anzusehen.

       „Wenn wir jetzt ein Seil hätten, mit dem wir uns gegenseitig sichern könnten“, sagte er, „wäre viel gewonnen."

      „Seil! Das ist es“, jubelte Fallsta. „Wir brauchen Seile."

      „Ja, schon gut“, beruhigte ihn Urial. „Das wissen wir. Aber wo sollen wir sie hernehmen? Tragt Ihr etwa ein Bündel davon unbemerkt bei Euch?"

      „Natürlich nicht. Aber wir werden Seile herstellen."

      „Und wie, wenn ich fragen darf?"

      „Ihr dürft! Aus unseren Decken. Wir werden unsere Schlafdecken in Streifen schneiden und zu Seilen zwirbeln."

      „Und womit werden wir uns in der Nacht vor der Kälte und dem Regen schützen?"

      „Im Turm wird es warm und trocken sein."

      „Schon recht! Aber was ist, wenn wir nicht in den Turm hineinkommen?"

      „Wir haben keine Wahl. Wir müssen alles auf eine Karte setzen. Hier können wir nicht bleiben, zurück aber auch nicht. Unser Weg führt da hinunter. Das ist unser Schicksal. Übrigens werden wir bald Besuch bekommen, denn unsere Verfolger haben nicht aufgegeben. Ich glaube nicht, dass wir den Rest unseres Lebens hier auf diesem felsigen Pfad verbringen sollten. Also, beginnen wir mit dem Zerschneiden der Decken."

      Fallstas Argumente waren überzeugend, und so begannen sie, ihre Decken mit Messern in Streifen zu schneiden. Nur die Sängerin murrte.

      Ihre Decke stamme schließlich aus Rejkor, sagte sie. Ihr

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