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weiß ich auch jetzt noch nicht über Meister Urial. Er muss Euch doch auf der langen Reise von sich erzählt haben?"

      „Hat er aber nicht. Er ist nicht sehr mitteilsam. Wahrscheinlich hat er etwas zu verbergen. Aber wer hätte das nicht! Ich kann mich auf jeden Fall nicht über ihn beklagen. Er war bisher anständig und gab keinen Anlass für Misstrauen. Andererseits kommt er aus Nowogoro."

      „Was wisst Ihr über diesen Ort?“

      „Nowogoro war lange Zeit keine Stadt, sondern ein Kloster des Weißen Rates. Es liegt an der nördlichsten Spitze des Thaurgebirges. Ich schätze, es ist eine recht unwirtliche Gegend, kalt und dunkel. Was aber den Aufenthalt dort wirklich schlimm macht, ist die Nachbarschaft."

      „Nachbarschaft?"

      „Ja, nicht weit von Nowogoro, nur ein paar Tagereisen entfernt, liegt das Reich von Ormor, mit dem Dunklen Schloss des Zauberkönigs. Man spricht davon, dass Ormor, nachdem er lange im Berg gefangen gewesen war, dorthin zurückgekehrt ist. Wenn diese Gerüchte stimmen, so hat er sicher zuerst seine nächste Umgebung unterworfen. Dann gehört Nowogoro jetzt ihm, und wer von dort kommt, ist entweder auf der Flucht vor seiner Rache oder sein heimlicher Abgesandter. Ihr könnt wählen, was Ihr von Urial halten wollt. Doch genug davon, Jungfer, wir sollten von etwas anderem sprechen."

      Sie hatten schon seit geraumer Zeit den Wald verlassen und zogen durch ödes Land. Der Regen prasselte weiter auf sie herab, und ihre Glieder waren kalt und klamm. Deshalb waren sie froh, als am Horizont mit Stroh gedeckte Dächer auftauchten. Urial gab dem Maultier die Peitsche, und die Körper der Wanderer strafften sich. Sie beschleunigten ihre Schritte. Der Ort, der Ruhe, Trockenheit und Essen verhieß, kam langsam näher. Es war ein armseliges Dorf. Im Sumpf der aufgeweichten Straße wühlten magere Schweine nach Nahrung. Die Dächer der vier Häuser waren eingebrochen, die Zäune niedergetrampelt. Keine Menschenseele ließ sich sehen.

      Sie standen in der Mitte der kleinen Ansiedlung und blickten sich in dem Elend um, da schrie die Sängerin plötzlich mit schriller Stimme laut auf. Alle Augen wandten sich in die Richtung ihrer ausgestreckten Hand. Dort in einer leeren Fensterhöhle hing ein kleiner, blutbeschmierter Leib.

      „Das ist doch ein Kind“, stammelte die Dienerin.

      „Fort! Wir dürfen keine Sekunde länger bleiben!" Urial stieß die Worte hastig hervor und peitschte gleichzeitig auf das Maultier ein. Alle begannen zu laufen, kamen aber im tiefen Morast nur langsam vorwärts. Hinter den Häusern, aus Tür- und Fensterhöhlen quollen plötzlich bleiche Gestalten hervor mit grausam aufgerissenen Mäulern, in denen weiße Zähne blitzten. In ihren Klauen hielten sie lange Messer. Sie gaben keinen Ton von sich. Eine gespenstische Stille begleitete diesen Angriff.

      „Welche Unterwelt hat diese Bestien ausgespien?" stöhnte Fallsta, aber niemand gab ihm Antwort.

      „Wir sind verloren!" ächzte die Dienerin. Ihre Herrin hatte die Stimme verloren.

      „Schaut sie nicht an! Lauft los und wendet Euch nicht um! Beachtet sie nicht!" Urial hatte schnell gesprochen, vor den Angreifern das Maultier gezügelt und war vom Wagen gesprungen. Dann kümmerte er sich nicht weiter um die kleine Reisegruppe, sondern stellte sich mit ausgebreiteten Armen in die Straßenmitte.

      „Zurück!" sagte er mit ruhiger, befehlender Stimme. „Zurück!" wiederholte er noch einmal, als seinem Befehl keine Folge geleistet wurde. „Im Namen der Macht von Nowogoro gebiete ich euch!"

      Es ging eine so große Kraft von diesen Worten aus, dass die schrecklichen Gestalten innehielten und diesen jungen, wagemutigen Widersacher erstaunt ansahen. Auch die beiden Frauen und der Mann waren stehen geblieben und starrten auf ihren Gefährten.

      Der zischte ärgerlich: „So verschwindet doch endlich!"

       Sie lösten sich aus ihrer Erstarrung und rannten was das Zeug hielt. Dabei sahen sie nicht mehr, was hinter ihrem Rücken vor sich ging. Sie liefen so lange, bis sie nicht mehr konnten. Als sie endlich keuchend stehen blieben, hörten sie das Trappeln von Hufen und das Knirschen von Rädern. Sie wagten nicht sich umzusehen, sondern hasteten voller Angst weiter. Nicht lange, und die Geräusche hatten sie eingeholt. Es war Urial, der auf dem Kutschbock stehend, die Zügel in beiden Händen hielt und das Maultier anspornte.

      Als er sie erreicht hatte, ließ er das Tier langsamer laufen und rief: „Springt auf!"

      Sie taten, wie ihnen geheißen. Er kümmerte sich nicht weiter darum, ob sie es auch geschafft hatten, sondern trieb das Tier wieder an. Die Hufe trommelten auf der nassen Erde, und die Räder schlingerten hin und her. Irgendwann war die wilde Fahrt zu Ende. Das Maultier blieb mit zitternden Flanken stehen. Die Menschen sprangen auf den festen Boden und fielen sich in die Arme. Die Sängerin schluchzte hysterisch. Als sie wieder zu Atem gekommen waren, überfielen sie Urial mit Fragen, wie er ihre Rettung zustande gebracht habe. Doch der winkte nur unwirsch ab.

      

       Aramar

      In dieser Nacht blieben sie von Regen verschont und hätten ein Feuer machen können, wagten es jedoch nicht. Der Lichtschein wäre meilenweit zu sehen gewesen. Zum Umfallen hungrig und müde legten sie sich unter den Wagen. Die beiden Männer teilten sich die Wache auf. Es war kurz nach Mitternacht. Fallsta kämpfte mit dem Schlaf, als ihn das Geräusch von Pferdehufen hochschrecken ließ. Er griff zu seinem Schwert und rüttelte die anderen wach. Urial machte sich bereit, einen Zauber einzusetzen. Die Frauen liefen rasch tiefer in das Wäldchen, an dessen Rand sie lagerten. Dann warteten alle in der Dunkelheit und hofften, dass die nächtlichen Reiter sie nicht bemerkten. Doch die zwei großen Schatten hatten sie entdeckt und kamen direkt auf sie zu. Vor dem Wagen, der schwarz und massiv in der Nacht stand, hielten sie an.

      Eine ruhige Stimme sagte: „Es ist zwar reichlich spät für einen Besuch, aber wir würden gerne bei Euch Rast machen."

      Misstrauisch traten die Männer hinter dem Wagen hervor und versuchten, in der Dunkelheit etwas von den Neuankömmlingen zu erkennen.

      „Warum macht Ihr kein Feuer?" fragte die Stimme wieder. „Solche Nächte lassen sich mit ein wenig Wärme besser ertragen."

      Ohne auf Erlaubnis zu warten, stiegen die Reiter ab.

      „Zu gefährlich“, antwortete Urial lakonisch und fügte hinzu, „es wäre uns lieb, wenn Ihr etwas Abstand halten könntet. Seltsame Leute treiben sich seit einiger Zeit in Centratur herum. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“

      „Das erfahrt Ihr, wenn wir gemeinsam am Feuer sitzen.“

      „Reitet weiter und macht Euch Euer eigenes Feuer!“

      „Wir sind müde und wollen nur noch etwas essen und schlafen. Wir laden Euch auch zu einer späten Mahlzeit ein. Zündet endlich Feuer an, damit wir uns gegenseitig in Augenschein nehmen können“, beharrte die Stimme.

      Das Wort ‘Essen’ hatte Galowyn aufhorchen lassen. Sie kam aus dem Schatten der Bäume und trat in das fahle Licht des Mondes hinaus.

      „Was könnt Ihr uns anbieten?“

      „Frisches Brot, Räucherspeck, Salz.“

      Als die Namen dieser Köstlichkeiten fielen, gab es auch für Smyrna kein Halten mehr. Sie trat an die Seite ihrer Herrin. Widerwillig mussten sich die Gefährten der beiden Frauen geschlagen geben und die Fremden einladen. Aber sie blieben auf der Hut.

      Bald brannte ein gemütliches, kleines Feuer. Alle ließen sich von den Flammen wärmen, kauten auf beiden Backen und starrten sich gegenseitig an. Die Neuankömmlinge waren ein alter Mann in blauen Reisekleidern und einen Zwerg mit einem langen Bart.

      „Gestatten, Glaxca, Kraks Sohn aus Krocks Haus", stellte sich dieser vor.

      Der alte Mann sagte: „Ich bin Aramar. Einst war ich bekannt in ganz Centratur. Man nennt mich auch den Blauen Alten. An Euren Augen sehe ich, dass Euch diese Namen nichts mehr sagen. Meine Zeit in diesem Land ist wohl vorüber, und dennoch muss ich hierbleiben und meiner Aufgabe nachgehen. Ich weiß, ich spreche in Rätseln. Das ist nun

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