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war ein Lied aus ihrer Kindheit. Ihr Vater, Marrham von Hagen, hatte es ihr oft vorgesungen. Er selbst hatte die Weise einst in Whyten gehört. Dort hatten die Menschen das Lied in der Nacht vor der großen Schlacht gegen die Heere des Herrschers von Darken angestimmt. Sie hatten damit ihren furchtsamen Herzen Mut gemacht, und Marrham war sein Leben lang von der Macht dieses schlichten Gesangs fasziniert geblieben.

      

       „Die Nacht, sie muss nicht dunkel sein,

       der große Schmerz vergeht.

       Ist auch mein Mut bis jetzt noch klein,

       mein Wille dennoch steht!

      

       Der Baum, der biegt sich auch im Wind;

       selbst wenn ein Ast ihm bricht,

       er bleibt doch fest und hält es aus,

       und Furcht, die kennt er nicht.

      

       Der Sturm, der wird vorübergehn,

       dann steht der Baum noch da,

       so prachtvoll, schön und ungebeugt,

       so wie er immer war."

      Marc sah die Gefährtin verwundert an. Sie hatte ihn in den vergangenen Tagen mehrfach verblüfft. Und mit einem Mal liebte er sie. So muss es im Himmel sein, dachte er sich, und saß ganz still. Später kehrten sie gemeinsam in die große, zentrale Halle dieser Unterwelt zurück. Alle nahmen wieder auf ihren Stühlen Platz, und die Beratung ging weiter. Sofort verdrängte das drohende Unheil die heitere Gelassenheit, die für einige Zeit die kleine Gesellschaft abgelenkt hatte.

      Marc nahm als erster den Faden wieder auf: „Gibt es eine Chance, dass die Rutaner sich dem Einfluss der Vespucci wieder entziehen können? Sie würden dann, wenn ich alles richtig verstanden habe, dieses machtbesessene Volk aufhalten, und die Welt wäre gerettet."

      „Die Rutaner wären sicher starke Verbündete für die Völker der Erde. Ihre Befreiung wäre eine große Hoffnung."

      „Was können wir Erits dabei tun? Warum habt ihr uns dies alles erzählt?" Akandra war verwirrt. „Rutan und Vespucci sind so weit weg und doch so nah. Es klingt wie eine Geschichte aus dem Märchenbuch meiner Kindheit und lässt mich vor Angst dennoch schaudern. Wir reden hier über die Rettung der Welt und schämen uns nicht ob dieser Vermessenheit."

      „Sollte man nicht alle Heere der Welt zusammenrufen und nach Rutan ziehen. Gemeinsam könnte vielleicht der Sieg gelingen?“ fragte Marc eifrig.

      „Das wäre aussichtslos, mein Junge“, antworteten die Älteren. „Dies nicht nur, weil die Heere des Westens gegen die Vespucci keine Chancen hätten. Sie würden sich auch nie unter einem Führer vereinen, sondern sich auf dem langen Marsch nach Osten gegenseitig bekriegen. Ihr Völker des Westens könnt nur ganz selten in Frieden und Harmonie ein gemeinsames Werk vollbringen. In der Regel scheitert ihr an eurem Neid, eurer Zwietracht und eurem Geltungsstreben.“

      „Also können wir nur abwarten, bis uns das Schicksal ereilt, alles Grün vernichtet wird, und wir in einer Kunstwelt leben? Es gibt keine Hoffnung?"

       „Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es schon. Als der König der Rutaner von Pareira in den Bann gezogen und sein freier Wille gefesselt worden war, da unterwarf sich zusammen mit ihm sein ganzes Volk. Doch es gab eine Ausnahme. Die Hohe Priesterin der Rutaner, in der sich alles Wissen über den Geist der Pflanzen, der Tiere, der Steine und sogar des Wassers vereinigt. Sie, die für die Harmonie des Landes Rutan mit der Erde verantwortlich war, sie unterwarf sich nicht. Die Priesterin, sie hieß Qumara, flocht aus Pflanzenranken einen Umhang, mit dem sie ihre Blößen bedeckte und schickte sich an, das Land zu verlassen. Bevor sie aber ging, versprach sie den Rutanern, dass sie wiederkommen werde und hinterließ ihnen eine Verheißung."

      Die Alten machten eine lange Pause und sprachen dann gemeinsam:

      

       „Wenn die Zeit erfüllt ist,

       werden kommen

       Kleine Leute

       und werden

       dem König

       die Kette abnehmen."

      Totenstille war in der großen Halle, und dann sagten die Älteren feierlich: „Wegen dieser Worte seid ihr hier bei uns in der Unterwelt."

      

      

      

       Die Aussendung

      In Marc keimte ein fürchterlicher Verdacht: „Soll das etwa heißen, ihr schickt uns nach Rutan?"

      „Ja!"

      „Aber woher wollt ihr wissen, dass einer von uns beiden der Auserwählte ist, der dem König die Kette abnehmen kann?"

      „Ich weiß es, und die Prüfungen, die ihr bestanden habt, bestätigen dies. Ihr seid dazu ausersehen, den König zu befreien."

      „Und wer von uns beiden?" fragte Akandra.

      „Das ist vom Schicksal noch nicht bestimmt, oder ich kann es noch nicht erkennen. Deshalb müsst ihr beide gehen."

      „Nein, das könnt ihr nicht verlangen!" Marcs Gesicht war weiß wie Kalk. Er zitterte am ganzen Körper.

      „Wir verlangen es nicht. Wir stellen euch nur vor die Wahl. Niemand kann euch zwingen. Ihr müsst freiwillig gehen, sonst ist die Mission schon im Anbeginn gescheitert."

      „Aber wir müssen doch zurück ins Heimland. Die Orokòr werden alle Erits überfallen, töten oder versklaven. Wir müssen warnen und helfen." Marcs Einwände klangen verzweifelt und hilflos. „Wir können jetzt nicht auf große Fahrt gehen, wir werden hier gebraucht."

      „Die Rettung des Heimlands ist nicht eure Aufgabe. Um eure Heimat müssen sich andere kümmern. Helft, indem ihr den Ursprung der Gefahr bekämpft! Ihr müsst gegen die Anstifter vorgehen und nicht gegen ihre Schergen."

      „Aber wie können wir, zwei schwache Erits, helfen? Warum sucht ihr nicht eine Gruppe starker, kampferprobter Menschen, vielleicht auch tapfere Zwerge oder gar weise, mutige Achajer? Sie alle sind stärker und besser geeignet als wir. Gerade Erits sind hilflose Geschöpfe und töricht im Kampf und im Umgang mit fremden Mächten. Ich bin sicher, wir würden unser Ziel niemals erreichen, geschweige denn diese Mission ausführen können."

      „Oh, dieser Meinung bin ich nicht. Der treffliche Aramar sagte stets, dass die Erits immer für eine Überraschung gut sind. Ihr seid, wenn man ihm glauben darf, ein Volk, das zu unglaublichen Leistungen in der Lage ist. Natürlich nur, wenn es darauf ankommt. Aber jetzt ist die Stunde der Not und der Gefahr. Nein, stellt euer Licht nicht unter den Scheffel und besiegt eure Angst. Ihr werdet an der Aufgabe wachsen."

      „Wenn ihr so sicher seid, dass wir die Richtigen sind und gehen sollen, könnt ihr uns dann einen Erfolg garantieren?"

      „Das kann ich natürlich nicht. Ich muss euch sogar wahrheitsgemäß darauf hinweisen, dass ihr großen Gefahren entgegengehen werdet. Diese Gefahren werden sogar noch größer sein, als sie damals Til und Mog im Großen Krieg erlebt haben. Euer Tod in diesem Abenteuer ist sogar wahrscheinlicher als euer Sieg."

      „Was ist, wenn wir diese Mission erfolgreich beenden?" Akandras Stimme war ruhig.

      „Wir werden es aber nicht schaffen“, fiel ihr Marc ins Wort. „Man wird uns schon auf dem Weg nach Rutan umbringen und wahrscheinlich zuvor foltern und noch andere scheußliche

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