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sie mit Bleistift etwas daneben. Eine Frage. Eine Anmerkung. Eine Bewertung. Es war, als würde es nicht um ihr Leben gehen.

      Als sie fertig war, legte sie die Zettel beiseite. Sie starrte aus dem Fenster heraus. Eine Blaumeise stibitzte ein oder zwei Körner aus dem Vogelhäuschen im Garten. Schnell flog sie wieder weg. In den nächsten Holunderstrauch. Martha nahm dies alles nicht wahr. Sie blickte einfach nur durchs Fenster. Ohne Ziel. Im Gedanken all die Möglichkeiten mit ihren mehr oder weniger hohen Chancen. Und mit allen Nebenwirkungen und Risiken. Da waren die Methoden der Schul- und die der alternativen Medizin. Da waren unterschiedliche Darreichungsformen – intravenös oder medikamentös. Es war eine Vielzahl an Behandlungen, den wenigsten wurden jedoch gute Chancen zugerechnet. So schränkte sich der Kreis der Möglichkeiten also ein. Doch selbst die beste Therapie kam nicht über fünfzig Prozent. Aber was sagt das schon? Wieso sollte es nicht auch dieses Mal klappen. Ein Wunder. Das Beste vom Besten.

      Marthas Blick schweifte über die Wände in der Diele und blieb an ihrem Hochzeitsfoto hängen. Plötzlich verspürte sie das innere Bedürfnis, alte Zeiten heraufzubeschwören. Die schönen Erinnerungen waren die besten. Sie halfen – weg von der Traurigkeit, von tristen Gedanken, von notwendigen Entscheidungen. Martha ging ins Wohnzimmer und holte die Kiste aus der Schrankwand. All ihre Erinnerungen in diese kleine Kiste gepackt. Nicht größer als ein Schuhkarton. Vorsichtig hob sie den Deckel ab und griff nach dem ersten Einsteckalbum. Vor Jahren hatte sie die alten schwarz-weiß Bilder in eine gut geschützte Ordnung gebracht. Nun hielt sie diese Kostbarkeiten vorsichtig in ihrer faltigen Hand und blätterte die erste Seite um.

      Er hielt sie fest im Arm. Sie standen auf dem Terrassenufer in Dresden. Es war 1961. Im Hintergrund die Elbe, ein Raddampfer und der Rat des Bezirkes. Plötzlich spürte sie wieder den leichten Wind auf der Haut. Die Sonne prasselte auf ihre Gesichter. Die vielen Menschen um sie herum. Sie genossen ebenso den herrlichen Sommertag. Alle waren gut gelaunt. Touristen fotografierten. Andere schleckten Eis. Sie zuckte zusammen als einer der Dampfer sein tiefes Signal ertönen ließ. Es war ein freudiger Ton, der stetig anschwoll und nach einem kurzen Aufbäumen schließlich schwieg. Einige Menschen auf der Terrasse winkten den Passagieren des Schiffes zu. Und dann legte die „Diesbar“ ab.

      Sie strich sanft über das Foto. Über sein Gesicht, seinen Arm und blieb auf der Hand, die ihre fest umschloss, liegen. Was würdest Du tun? Was würdest Du mir raten? Habe ich eine echte Chance? Wie lange werde ich kämpfen müssen? Wo bist Du jetzt? Ich brauche Dich so sehr! Ich fühle mich so allein.

      Das andere Foto zeigte sie vor der Semperoper. Und da der Fürstenzug. Und hier stand er vor der Ruine der Frauenkirche. Ein trauriges Relikt.

      Martha blätterte ein paar Seiten weiter und entdeckte das einzige Foto von ihr bei der Arbeit. Sie saß auf einem Schemel und melkte. Sie hatten den Kuhstall etwas umgebaut und neue Kühe erworben. Sie konnte den Duft des Stalls riechen. Kuhmist und frische Milch. Die prall gefüllten Euter der Kühe und eine Katze, die um ihre Beine strich.

      Die nächsten Bilder zeigten den Hof und das Wohngebäude, die Scheune und ihren geliebten Gemüsegarten.

      Sie nahm ein anderes Album aus der Kiste und blickte in zwei strahlende Kindergesichter. Hier waren sie nun, ihre zwei Jungen. Steffen, der Ältere, blickte auf Thomas herab. Sie hatten sich an den Händen gefasst und standen vorbildlich, bereit für das Foto. Sie erinnerte sich, welcher Kraftakt das war. Keiner der beiden wollte stillstehen. Und dann schmollte der eine, später bekam der andere einen Lachanfall. Es wunderte sie noch immer, wie sie das Foto letztlich doch zustande gebracht hatten. Weiter hinten folgten alte Familienbilder, Fotos von einigen, wenigen Festen.

      Martha schloss das Album und legte es vorsichtig in die Kiste zurück. Lange blickte sie die Alben an, wie sie da ordentlich in der Kiste lagen. Und dann, ganz langsam, erschien auf ihrem Gesicht ein Ausdruck der Zufriedenheit. Sie lächelte leicht vor sich hin und schien sich noch in einer anderen Zeit zu befinden. Martha hatte etwas Wesentliches begriffen. Sie verstaute die Kiste an ihrem Platz. Ihre schlechte Laune war weg. Sie fühlte sich gestärkt und hatte einen Sack weniger zu tragen. „Danke für die Hilfe, Paul“, flüsterte sie leise. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

      Kapitel 7

      „Jonas, musste das jetzt sein?“ Thelas Stimme nahm eine verdächtige Lautstärke an. Sie stand vor ihrem Sohn, die Hände in die Hüften gestemmt und blitzte ihn wütend an. Sie war kurz davor, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Es war allein seinem Glück zu verdanken, dass sich ihre anfängliche Aggression auf dem Weg zu ihm etwas legte. Denn sie hatte noch den Herd ausschalten müssen. Diese wenigen Sekunden retteten Jonas vor dem besagten Übergriff. Und wahrscheinlich hätte dieser sowieso nichts genützt. Wie meistens. Denn es war einer jener Momente, in denen er seine Mutter herausfordern wollte. Ein Moment, in dem es in seinem Kopf „klick“ gemacht hatte und er nicht mehr überlegte, bevor er etwas tat. Und auch danach war es ihm mitsamt den Konsequenzen egal. Er war mit keiner Strafe mehr zu erreichen, rannte nur weg oder lachte seiner Mutter schadenfroh ins Gesicht.

      Thela hatte mit der Zeit gelernt, dass es hier am besten war, ihn zunächst einmal nicht zu beachten. Oder, sobald noch größerer Blödsinn zu erwarten war, was in den überwiegenden Fällen zutraf, ihn einfach festzuhalten. So saß sie nun mit Jonas auf dem Sofa. Thela hielt ihn an sich gepresst und er strampelte wie ein kleines Kind wild um sich. Er brüllte sie an und schließlich heulte er als wäre ihm das Schlimmste auf der Welt widerfahren.

      In diesem Moment krachte es in der Küche. Gleich darauf kam Lina angelaufen: „Mami, ich brauche einen Lappen!“ Thela stellte den wild schreienden Jonas auf seine Beine und zerrte ihn am Oberarm Richtung Küche. Nur so konnte sie den jaulenden Sohn von weiteren Dummheiten abhalten und zugleich der Ursache des Lärms in der Küche auf den Grund gehen. Als sie im Türrahmen angelangt war, machte Sie ihrer Verärgerung lautstark Luft: „Das kann doch nicht wahr sein! Könnt ihr Euch vorstellen, dass ich keine Lust mehr habe? Ich bin den ganzen Tag im Büro. Das ist anstrengend! Am Nachmittag muss Jonas unbedingt unser halbes Haus auseinandernehmen – kannst Du Dir vorstellen, wie teuer so eine Tür ist? Und unser Abendbrot kann ich nun auch nochmal machen – Lina, das war der Teig für die Pfannkuchen!“ Thela holte tief Luft. Sie wollte aufgeben. Einfach alles hinwerfen und abhauen. Jonas wand sich immer noch laut jammernd in ihrem Griff. Lina stand mit eingezogenem Kopf und schuldbewusstem Blick neben dem Brei, der sich langsam auf dem Küchenboden ausbreitete. Ein Teil tropfte noch vom Küchenschrank. Ein Rinnsal lief die Küchenschranktür hinunter. Die Eiskönigin auf Linas Pulli ließ sich den Teig schmecken.

      Thela ging schnell im Kopf durch, welche Maßnahmen sie jetzt in welcher Reihenfolge ergreifen musste. Endlich ließ sie Jonas‘ Arm los. Dann entkleidete sie Lina vorsichtig und schickte sie unter die Dusche. Lina klebte die Masse in den langen, dunkelblonden Haaren. Als sie den größten Teil des Teiges aus der Küche provisorisch entfernt hatte, half sie Lina beim Waschen. Jonas hatte sich endlich etwas beruhigt und sich auf ihr Geheiß in sein Zimmer verzogen. Innerlich verfluchte sie die Zugverspätung. Mit Jo wäre alles etwas einfacher gewesen.

      Später stand sie immer noch verärgert in der wieder sauberen Küche und rührte neuen Pfannkuchenteig an. Auch Lina war jetzt in Schlafanzug und Bademantel gehüllt in ihrem Zimmer und hörte Hörspiel. Jonas malte. Thela stellte nach einem Blick auf die Uhr fest, dass sie durch das Durcheinander in Verzug waren. Die Kinder würden nicht rechtzeitig im Bett sein. Da klingelte das Telefon. Thela fluchte. Immer zu den besten Zeiten.

      „Thela, ich habe mir gedacht, vielleicht könntest Du mich mit nach Dresden nehmen. Du hast doch erzählt, Du fährst am Freitag dorthin. Ich würde mir gerne nochmal die Stadt anschauen. Wäre das möglich?“ Martha klang recht unbeschwert. Im Gegensatz dazu war sie selbst nun völlig überfordert. Sie stammelte etwas zusammen, dass sie in Dresden keine Zeit für Oma Martha habe. Und dass sie am Nachmittag wieder nach Hause fahren wolle. Und dass sie Martha nicht herumfahren könne. Doch all das schien diese nicht im Geringsten zu stören. Vielmehr schwärmte sie ihr vor, wie schön es damals in der Stadt war. Und dass sie sich vergewissern wollte, ob es immer noch so toll sei. Und sie wolle unbedingt mal die neu aufgebaute Frauenkirche sehen. Sie selbst sei doch schon so alt. 77 Jahre, wer weiß, wie lange sie noch so weit reisen könne. Bitte, Thela.

      Thela

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