Скачать книгу

gesehen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Als sie Martha die Beifahrertür aufhielt, versuchte diese sich hinzusetzen. Allerdings blieb sie mehrfach mit dem Hut am Türrahmen hängen. Schließlich kapitulierte Martha und setzte ihn ab.

      „Jonas ist schon ganz aufgeregt. Er konnte gestern noch schlechter einschlafen als sonst“, bemerkte Thela, während sie das Auto Richtung Schule lenkte. Martha schaute aus dem Fenster und nickte geistesabwesend: „Das glaube ich gerne. Ich bin ja mal gespannt.“ Martha schien sich wirklich auf die Vorführung zu freuen. Dennoch hatte Thela den Eindruck, dass sie nicht ganz bei der Sache war. „Ich muss nächsten Freitag nach Dresden.“ Plötzlich drehte sich Marthas Kopf in ihre Richtung und sie blickte Thela mit einem wehmütigen Lächeln an: „Achso, was machst Du denn da?“ Thela erzählte Martha in drei Sätzen von dem Fall, für den sie zur Zeit recherchierte und dass sie dafür noch zur Schwester ihres Mandanten fahren müsse. Diese Schwester hatte sich just gestern einen schweren Bruch zugezogen und konnte daher in nächster Zeit nicht verreisen. Als Thela gestern mit ihr telefoniert hatte, stellte sich heraus, dass Lettie durchaus Informationen zum mutmaßlichen Willen der verstorbenen Mutter zu haben schien. Doch am Telefon wollte sie darüber nicht sprechen. Also nutzte Thela diese Gelegenheit, einmal allein unterwegs zu sein. Weg von den Anstrengungen des Familienlebens. Wenigstens für einen Tag.

      Martha schaute sie noch immer interessiert an: „Das ist aber schön. Du warst doch noch nie da, oder? Dresden ist eine wirklich schöne Stadt. Jedenfalls war sie das damals.“ Schon lag in ihrem Blick wieder etwas Verträumtes. Da stellte Thela fest, dass sie zwar wusste, dass Martha aus der Nähe von Dresden stammte. Viel mehr hatte sie aber nie erfahren. Thela hatte auch nie nachgefragt. Jetzt war dafür aber auch nicht der richtige Zeitpunkt. Denn vor ihnen tauchte bereits die Schule auf.

      In der Aula warteten Jo und Lina schon. Auch Lina war ganz hippelig und stellte ihrem Papa ununterbrochen Fragen zum Theater. Jonas war bereits hinter der Bühne. In der Garderobe legten sie ihre Mäntel ab und nun konnte Thela ihre Oma Martha in voller Pracht bewundern. Diese hatte passend zum bordeauxroten Hut Lippenstift aufgetragen. Auch die Ohrringe und Kette nahmen den Farbton auf, der sich ebenso im schwarzen Kleid wiederfand. Dieses hatte lange Ärmel und war mit ein wenig Spitze verziert. Martha sah wirklich schick aus. Und insbesondere der Hut ließ sie sehr elegant erscheinen. Für eine Schulaufführung definitiv zu elegant. Aber das schien Martha nicht zu stören. Vielmehr schulterte sie ihre Handtasche und hielt Lina die Hand hin. Gemeinsam suchten sie sich Plätze in der bereits gut gefüllten Aula. Johannes schaute Thela mit hochgezogenen Augenbrauen an. Diese zog nur ratlos die Schultern hoch und schmunzelte. Sie hakte sich bei ihrem Mann unter und gemeinsam folgten sie den beiden „Mädels“.

      Kurze Zeit später war die Schulaufführung in vollem Gange. Auf der Bühne waren etliche Schulbänke aufgebaut. An einer Seite stand eine Tafel. Die Schüler – unter anderem Jonas in der dritten Reihe – saßen vorbildlich an ihren Plätzen. An der Tafel erklärte die Lehrerin gerade etwas und stellte dazu eine Frage. Da meldete sich Jonas und konnte zeigen, was er gelernt hatte. Von seiner Aufregung keine Spur mehr. Er sagte ordentlich seinen Text auf, als plötzlich die Klassenzimmertüre aufgerissen wurde: „Hallihallo.“ Da stand ein kleines Mädchen mit roten, abstehenden Zöpfen und schwenkte einen riesigen Hut. Pippi hatte ihren ersten Auftritt und die Zuschauer klatschten lachend Beifall.

      Im Verlauf des Spiels brachte sie die Lehrerin zur Verzweiflung und die Zuschauer amüsierten sich prächtig. Lina und Martha lachten ebenso viel und laut wie Thela und Jo. Es war eine wirklich lustige Aufführung, die Thela in dieser Qualität nicht erwartet hatte.

      Gerade war Pippi dabei, den Kindern auf dem Schulhof eine ihrer Lügengeschichten zu erzählen, als Oma Martha plötzlich aufstand und verschwand. Thela ging davon aus, dass sie sich Richtung Toilette orientiert hatte. Als Martha aber nach etwa zehn Minuten nicht wiederauftauchte, machte sich Thela allmählich Sorgen. Gerade als sie ihr folgen wollte, kam Martha aber zurück auf ihren Platz. Sie lachte nicht mehr, sondern blickte etwas traurig vor sich hin. Nein, sie sah vielmehr erschöpft aus. Und blass. Als sie merkte, dass Thela sie beobachtete, lächelte sie zu ihr hinüber. „Alles in Ordnung?“, formte Thela lautlos mit ihren Lippen. Martha nickte bloß und winkte ab. Dann schaute sie auf die Bühne und wenig später lachte sie wieder über einen von Pippi Langstrumpfs Späßen. Da richtete auch Thela wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf das unterhaltsame Schauspiel. Die Kleine war wirklich gut.

      Kapitel 6

      Martha wischte sich ihre Hände an der Schürze ab. Sie nahm die dreckige Pfanne und spülte auch diese fein säuberlich. Danach der kleine Topf. Über Jahrzehnte hatten sich diese Handgriffe in ihren Tagesablauf eingefügt. Sie spürte das heiße Wasser, den Schaum und den Lappen, der durch ihre Finger glitt. Langsam, sehr langsam wischte sie mit diesem über die silberne Oberfläche des Topfes. Plötzlich war der Dreck weg. Der Topf glänzte von außen.

      Martha hielt ihn hoch über die Spüle und betrachtete ihr Gesicht im spiegelnden Aluminium. Das Wasser tropfte in das Becken. Martha sah nicht viel von sich. Und das, was sie sah, war schmal und verzerrt. Den Mund konnte sie erkennen, die Augen gerade so. Sie senkte den Topf langsam wieder ins Wasser. Das Innere des Topfes füllte sich schnell. Trotz des Schaums und des mittlerweile recht trüben Wassers konnte sie den verkrusteten Boden erkennen. Sie krallte den Schwamm und scheuerte im Topf herum. Alles langsam. Sie nahm den leichten Geruch des Spülmittels wahr. Es roch unnatürlich, aber noch nicht zu penetrant. Sie hasste diese chemischen Gerüche. Es roch so giftig. Deshalb musste es genau dieses Spülmittel sein. Ohne Zitronenduft. Oder einen der anderen unangenehm riechenden, künstlichen Gerüche. Früher hatten sie das Spülmittel selbst hergestellt. Mit gehobelter Kernseife. Jetzt war das schlicht nicht mehr notwendig.

      Sie hörte das Ticken der Uhr. War es schon immer so laut? Die Zeit, sie verlief so schnell. Tick. Tack. Tick. Tack. Sollte es jetzt vorbei sein? Die Zeit um, einfach so? Sie hatte wieder den Krankenhausgeruch in der Nase. Der weiße Kittel. Sein ernstes Gesicht. Voller Sorge, aber zugleich ein aufmunterndes, immerwährendes Nicken. „Die Chancen stehen 50:50.“ Tja, so einfach war es. Das weite, große Leben in eine einfache Formel gepackt. Möglichkeiten, schillernde Vielfalt, Einzigartigkeit – das alles stand oder fiel mit dieser einen Formel. Nicht viel für ein ganzes Leben. Viel zu einfach für diese Komplexität. Und doch war es die Wahrheit. Die einzige, echte Wahrheit. Er sollte es klar aussprechen. Das hatte er getan.

      Und nun stand sie hier, tat das, was sie jeden Tag tat und wischte sich mit dem nassen Handrücken die Träne weg. Eine zweite tropfte ins Wasser. Noch eine. Und noch eine. Wieso ich? Wieso immer ich? Jetzt liefen ihre Tränen unkontrollierbar und sie steigerte sich in diese Frage hinein. Sie hatte so sehr gehofft, es wäre vorbei. Nie wieder. Doch nun wurde sie eingeholt. Und der Brief bestätigte nur schmerzhaft das Gesagte: Welchen Weg wirst Du gehen?

      Ein paar Tage später saß Martha in ihrem Sessel und machte Sudoku. Sie hatte zum Mittag Grießbrei angerührt, weil sie keine große Lust zum Kochen und nichts aus der Gefriertruhe geholt hatte. Diese fehlende Mittagsplanung war sonst nicht ihre Art, aber zurzeit fiel ihr alles schwerer. Sie war unkonzentriert und oft schlecht gelaunt. So war es meistens, wenn sie eine Entscheidung fällen musste, es aber nicht tat. Dieses Mal war es heftiger. Es ging um so viel. Es ging um ihr Leben. Da war schlechte Laune das geringste Übel. Trotzdem oder gerade deshalb fühlte sie sich furchtbar.

      Sie schaute auf die Kästchen im Block hinunter und stellte fest, dass die meisten Zahlen noch fehlten. Wie sollte es auch anders sein? Sie beschloss, die Sache heute zu klären. Es brachte einfach nichts. Es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Und sie würde versuchen, alles pragmatisch anzugehen. Ohne große Emotionen. Einfach nach den Fakten.

      Martha legte den Block beiseite und erhob sich. Sie ging in die Diele zur Geburtstagspost und suchte den Brief heraus. Sie setzte sich an den Tisch und hielt den Umschlag vor sich hin. Sie starrte auf das Papier. „Klinikum“ stand dort. Das Kuvert war bereits geöffnet. Vor ein, zwei oder drei Wochen – die Zeit verging zu schnell – hatte sie den Inhalt bereits gelesen. Widerstrebend und nur flüchtig. Zumindest konnte sie damals feststellen, dass es das Gleiche war, was der Arzt erzählt hatte. Sie wollte es nochmals schriftlich haben. Und hier waren sie nun, die Fakten. Die Möglichkeiten.

      Martha

Скачать книгу