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Hallo. Das ist aber eine schöne Überraschung“, Michael klang wirklich erfreut, ihre Stimme zu hören. Seit sich vor mehreren Jahren ihre beruflichen Wege gekreuzt hatten, bestand ein regelmäßiger Kontakt. Aufgrund der örtlichen Entfernung jedoch vorwiegend telefonisch.

      „Ja, ich dachte, Du brauchst so kurz vor der Mittagspause noch eine kleine Abwechslung. Deswegen überfalle ich Dich heute auch gleich. Ich habe hier nämlich einen wirklich interessanten Fall liegen, bei dem ich gerne Deine Meinung hören würde. Von der bin ich zeitweise ganz schön abhängig“, manchmal musste sich Thela sehr zurückhalten, nicht zu viel mit ihm zu flirten.

      Michael lachte kurz auf. Dieses Lachen war einer der Gründe, weshalb sie so gerne mit ihm telefonierte. Am besten stundenlang. Und ohne Punkt und Komma, meist von einem Thema zum nächsten springend.

      „Es geht um die Beweisführung beim mutmaßlichen Patientenwillen. Bei der Patientin wurde eine Magensonde eingerichtet. Wer bei dieser Maßnahme wann die Beweislast hat, ist ja juristisch schon klargestellt. Nun habe ich aber den Fall, dass der Sohn der Patientin behauptet, die Sonde war im letzten Jahr nicht mehr medizinisch indiziert. Und dies hätte der Arzt ihnen mitteilen müssen, da sie dann die künstliche Ernährung einstellen lassen hätten. Da mir bei diesem Fall der mutmaßliche Wille der Patientin noch ein wenig Magenschmerzen bereitet, habe ich Hoffnung, dass wir das Problem damit umgehen können, dass der Wille nicht von uns zu beweisen ist. Besteht aus Deiner Sicht die Möglichkeit, dass der Arzt hier ausnahmsweise den Willen der Patientin beweisen muss, dass sie eine Fortführung der künstlichen Ernährung gewollt hätte? Dann könnte ich mir nämlich die Arbeit ersparen, den Willen herauszufinden. Dahingehend hatte sich die Mutter nämlich zu Lebzeiten nicht schriftlich geäußert.“

      Thela hoffte, Michael möge ihr zustimmen und die Beweislast auch bei dem Arzt sehen, ihr somit also einige Arbeit ersparen. Nicht, dass seine Ansicht im Fall irgendein Gewicht hätte. Er war zwar Richter, aber weder in der zuständigen Instanz noch am örtlich zuständigen Gericht. Insoweit war seine Antwort nur ein Abtasten, wie der zuständige Richter das Problem in ihrem Fall möglicherweise juristisch einordnen würde. „Ich verstehe“, Michael dachte kurz nach: „Das ist eine gute Frage. Der Fall ist mir in dieser Form noch nicht über den Weg gelaufen. Er ist wirklich interessant und soweit ich weiß, auch noch nie verhandelt wurden.“ Thela konnte dies nur bestätigten. Also fuhr Michael fort: „Würde es um die Einrichtung einer Sonde gehen, was ja regelmäßig verhandelt wird, dann wäre die Beweislast klar bei der Patientin bzw. hier bei dem Sohn. Dieser müsste beweisen, dass der Wille der Mutter gegen eine künstliche Ernährung lauten würde.“ Michael leitete sich die Antwort auf Thelas Frage Schritt für Schritt her und legte dabei seine so angenehme Ruhe an den Tag. „Nun ist die Mutter aber schon angeschlossen. Eigentlich ist dieser Fall doch in etwa vergleichbar mit den Fällen, in denen sich zum Beispiel der bestellte Betreuer und der Sohn um die Einstellung der künstlichen Ernährung streiten. Und bei diesen Fällen muss auch derjenige beweisen, der behauptet. Also zum Beispiel der Sohn, dass seine Mutter keine künstliche Ernährung mehr gewollt hätte. Es dürfte auch hier egal sein, ob der Sohn gegen den Betreuer klagt und die Mutter noch ernährt wird oder ob der Sohn gegen den behandelnden Arzt der inzwischen toten Mutter klagt, wie in Deinem Fall.“ Michael schien es zu bedauern, dass er ihr nichts Besseres bieten konnte. „Das habe ich mir auch fast so gedacht. Da ändert wohl auch der Umstand recht wenig daran, dass wir beweisen würden, dass eine medizinische Indikation fehlte. Ich meine, man könnte sich den Fall doch auch so legen, dass bei fehlender Indikation die Sondenernährung eingestellt werden muss. Es sei denn, der Arzt kann beweisen, dass der Wille der Patientin dagegensteht bzw. hier gestanden hat. In diesem Fall müsste der Arzt beweisen“, Thela klammerte sich an ihre Hoffnung. Doch auch wenn sie ihre Argumentation recht gelungen fand, am Erfolg vor Gericht hatte sie trotzdem ihre Zweifel. So sah es auch Michael: „Ein guter Gedanke ist das schon. Aber ich glaube nicht, dass es vor Gericht standhält. Trotzdem, probieren kannst Du es ja. Ich meine, dafür bist Du doch Anwältin geworden. Immer kämpfen!“ Thela hörte ihn schmunzeln. Wahrscheinlich hatte er gerade Bilder vor Augen. Bei dieser Vorstellung – Thela mit verbissener Miene und Schwert in der Hand (und vielleicht noch Waage in der anderen und Binde vor den Augen) – musste selbst sie lachen. Auch wenn ihr die Aussicht auf noch mehr Recherche nicht so sehr zusagte. „Ich werde wohl die Schwester mal befragen, ob sie mir da bessere Informationen geben kann. Vielleicht kann sie mir helfen. Immerhin war sie ja fast ständig bei ihrer Mutter.“ Thela hatte sich damit abgefunden. Denn insgeheim hatte sie sowieso die ganze Zeit damit gerechnet, die Recherchen zum mutmaßlichen Willen vertiefen zu müssen. Das war nur immer so mühsam.

      Aber jetzt wollte sie lieber noch ein wenig das Gespräch genießen. Sie vernahm das vertraute Rattern am anderen Ende der Leitung. Michael war also wieder dabei, seine Runden um den Schreibtisch zu drehen. Es war so eine Angewohnheit, wenn er telefonierte. Er lief im Zimmer hin und her und dabei ratzte das Telefonkabel am Tisch entlang. Und wahrscheinlich hielt er gerade das Kabel um seinen Finger gewickelt. Mal auf, mal ab, auf und ab.

      Ihr fiel das Buch ein, welches sie gerade las. Sie wollte mit ihm darüber reden. Ihn fragen, ob er es auch gelesen hatte. Trotz aller beruflichen und familiären Verpflichtungen versuchte Thela, regelmäßig Bücher zu lesen. Sie liebte das Lesen seit ihrer Kindheit. Das war der eine Grund. Und der andere war, dass sie so mit Michael über die Sache reden konnte, die beide liebten. Über Bücher verständigten sie sich. Bücher waren für sie zu einem Sprachrohr ihrer „Beziehung“ geworden. In Büchern suchten sie nach Geschichten, die der ihren ähnelte. So konnten sie Träumen. Und sie suchten nach einem glücklichen Ausgang. Es waren die Bücher, die ihnen zeigten, dass es auch gut gehen konnte. Das waren die Geschichten, die sie besonders liebten. Bücher, in denen sie vereint waren. Zumindest zeitweise.

      Manchmal waren es auch Filme. So kamen sie fast zeitgleich auf den kürzlich ausgestrahlten Film. „Zug um Zug“. Wieder brauchten sie wenige Worte und jeder wusste um des anderen Empfindung. Michael gefiel der Film. Er brauchte nur anzudeuten, dass es gerade der Reiz war, zwei unterschiedliche Figuren – sowohl im Aussehen als auch in den Angewohnheiten, dem Lebensstil und der Art – eine Liaison eingehen zu lassen. Umstände, unter denen sich beide normalerweise nicht gefunden hätten. Im Alltagstrott der Zugfahrt aber schon. Diese Andeutung reichte aus. Eine große Diskussion war meist nicht mehr notwendig, da sie sowieso dasselbe dachten. Und wenn es doch zu einer längeren Besprechung kam, dann nur, um sich gegenseitig zu bestätigen. So sprangen sie gleich zum Nächsten. Und auf diese Weise verging die nächste Viertelstunde mit einem regelrechten Schlagabtausch der gelesenen Bücher, immer mit Betonung der wichtigen Stellen. Wichtig für sie. Für beide.

      Als sie soeben bei der Aufzählung ihrer Lieblingsschriftsteller angekommen waren – weshalb sie dies die vergangenen Jahre verpasst hatten, war Thela ein Rätsel – hörte sie, wie jemand mit Michael redete. Er erwiderte etwas. Dann sprach er wieder zu ihr: „Entschuldige. Der Kollege möchte mit mir dann noch etwas besprechen. Wann sehen wir uns denn mal wieder? Ich würde mich über ein anregendes Gespräch in der Mittagspause freuen.“ Emotional gesehen war Michael kein Mann großer Worte. So überraschte Thela dieses Eingeständnis umso mehr. „Schön, dass Du Dich so nach meiner Anwesenheit verzehrst“, Thela lachte. „Leider komme ich hier aus meinem Örtchen nicht so recht weg. Es spielt sich alles in der näheren Umgebung ab. Und einen Kurztrip zu meinem geliebten Richter würde mein Mann wohl weniger tolerieren.“ Thela überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch in diese Richtung weiterlaufen lassen könnte. Sie flirtete gerne mit Michael, auch wenn dies sonst eher in einer hypothetischen Form ablief. Es war alles zugleich – Bestätigung, Reiz, Spaß, Erotik.

      Eine kurze Weile sann jeder seinen Träumen nach. Dann sagte Michael: „Ich muss jetzt wirklich…“ „Ja, klar. Kein Problem. Ich muss mich auch wieder in die Arbeit stürzen“, stellte Thela ein wenig traurig fest. „Also dann, Tschüss.“ Und schon war er weg. Und Thela saß mit dem Hörer in der Hand allein in ihrem Büro. Und plötzlich rückte das Gesicht von Michael Theis in weite Ferne, ungreifbar weit weg.

      Kapitel 5

       März 2016

      Martha musste ihren Hut festhalten, damit er nicht auf der Straße landete. Das Kleid flatterte ihr um die Beine. Den

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