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habe jetzt keine Zeit. Schau mal, dass Du was alleine spielst. Oder magst Du mir helfen? Ich habe noch viel zu tun.“ Lina schüttelte den Kopf und schaute sie böse an. „Vielleicht kannst Du ja später mit Jonas spielen. Wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat. Und Papa kommt dann auch bald.“ Thela wandte sich in Richtung Küche: „Ach übrigens, wir müssen noch etwas vorbereiten. Oma hat doch morgen ihren Geburtstag. Jonas, kannst Du schon ein Lied oder ein Gedicht?“ Jonas folgte ihr schmollend in die Küche. „Och nein, nicht schon wieder was lernen! Außerdem will ich was Süßes!“

      Im Wohnzimmer ertönte ein spitzer Schrei und dann packte Lina die höchsten Töne ihrer Wut aus. Thela stöhnte innerlich und sehnte Jos Feierabend herbei.

      Fünfzehn Minuten zu spät. Für Thela, die Unpünktlichkeit hasste, wieder eines dieser Ärgernisse, die das Familienleben mit sich brachte. Es machte sie rasend, dieser Stress vor einem Termin, einer Feier oder einer großen Fahrt. Immer wieder die notwendige Organisation, Planung und Hektik. Immer wieder Stress. Wenn sie irgendwann einmal beide Kinder aus dem Haus hatten – was wäre das für eine Ruhe. Und endlich keine Unordnung mehr.

      Sie hatte sowieso schon Halsschmerzen gehabt, jetzt ging die Tendenz zur Stimmlosigkeit. Dieses ständige anweisen, schimpfen, reden. Immer wieder dasselbe. Immer wieder die gleichen Litaneien. Wahrscheinlich war genau dies die Kunst der richtigen, der guten Erziehung: Nicht aufgeben!

      Jedenfalls waren sie jetzt endlich angekommen. Mit fünfzehn-minütiger Verspätung wohl gemerkt. Als sich die Haustür öffnete und Thela ein wenig später den gedeckten Kaffeetisch entdeckte, war ihr klar, dass Oma Martha auch dieses Mal ungeduldig gewartet hatte. Und wie immer waren sie die Letzten.

      Thela sollte es einmal schaffen, bei einer Feier den Kaffeetisch schon gedeckt zu haben, wenn die ersten Gäste erschienen. Vielmehr war sie jedes Mal froh, wenn im Bad alle Armaturen getrocknet waren und sie den Putz-Look gegen festliche Kleidung getauscht hatte. Auch das würde sich – hoffentlich – mit dem Auszug der Kinder bessern. Irgendwann einmal.

      Jetzt saßen alle fröhlich am Tisch und genossen die Köstlichkeiten, wie etwa die leckere Eierschecke. Das Rezept hatte Martha aus ihrer Heimat mitgebracht und variierte es bei jeder Feier: einmal Dresdner Eierschecke pur, dann mit Mohn und ein andermal mit Stachelbeeren. Und alles schmeckte köstlich.

      Thela blickte sich um und stellte zufrieden fest, dass sowohl Lina als auch Jonas ruhig auf ihren Plätzen neben den Großeltern saßen und ihre Kuchenstücke und Kekse verdrückten. Zuvor hatten sie ihre Lieblingsoma Heidi und ihren Lieblingsopa Thomas ausgelassen begrüßt und sie mit Erzählungen über Schule, Kindergarten, Freunde und Co. überschüttet. Diese freuten sich jedes Mal sehr, wenn sie Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen konnten. Und für Thela und Jo war es eine enorme Erleichterung.

      „Na, meine liebe Thela, wie geht es Euch denn so?“ Oma Martha blickte sie erwartungsvoll an und erst jetzt registrierte Thela, dass sie angesprochen wurde. Sie erzählte ein wenig von ihren Kindern. Ein paar Anekdoten gab es da immer zu berichten. Aber Oma interessierte sowieso alles, was ihre Urenkel anging. Allerdings war sie auch den ganzen Tag allein. Den dadurch angestauten Redeschwall bekam Thela zu spüren, als sie anfing von ihrem Job zu berichten. Martha unterbrach sie dann und informierte sie wie so oft über ihre unzähligen Termine – Ärzte, Geburtstage, Rommeerunden. So beherrschte also bald sie das Gespräch und Thela freute sich, einmal nicht reden zu müssen. Ihr Hals würde es ihr danken.

      Später wurden wie immer Spiele gemacht. Die Kinder waren eifrig bei der Sache. Besonders die „stille Post“ ließ beide mehrfach losprusten. Auch Martha genoss es. Sie machte jeden Spaß mit, schien sich prächtig zu amüsieren und lachte lauter als alle anderen. Das steckte bald die ganze Gesellschaft an, sodass es insgesamt eine sehr lustige Runde wurde. Thela dachte hinterher, sie hatten wohl lange nicht mehr eine so vergnügliche Familienfeier gehabt. Auch den einstudierten Vorträgen der Kinder merkte man ihren anfänglichen Protest nicht an. Martha freute sich, wie zu erwarten, wieder sehr über ihre Urenkel. Auch wenn Thela meinte, ein wenig Wehmut in Marthas Blick erkannt zu haben, als Jonas sein einstudiertes Lied zum Besten gab.

      Kapitel 2

      Als Martha aufwachte, wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie öffnete die Augen. Alles war dunkel. Nur durch die schmalen Schlitze der Rollläden drang das spärliche Licht der Straßenlaternen.

      Jetzt fiel es ihr wieder ein. Natürlich, wo sollte sie auch sein. Seit Jahren war sie jeden Morgen in ihrem Haus aufgewacht. Wieso sollte es heute anders sein? Und dann kam ihr der gestrige Tag wieder vor Augen. Ihr Geburtstag. 77 Jahre. Ganz schön alt. Und doch staunte sie manchmal, dass es immer mehr Menschen wurden, die jünger waren als sie und immer weniger, die älter waren. Dabei konnte sie sich noch so gut an längst vergangene Ereignisse erinnern. Als wäre das gestern gewesen und nicht ihr 77. Geburtstag.

      Martha wollte aufstehen. Wie immer war es viel zu früh am Tag. Aber ihr Kopf drängte. Doch ihr Körper rebellierte. Jedes ihrer Körperteile schien zu schreien: Ich bin müde! Lass mich noch schlafen! Sie spürte, dass ihre Arme und Beine einfach nicht wollten. Sie wollten einfach liegen bleiben. Ruhe haben. Das Nichtstun genießen.

      Martha überlegte, was sie heute alles zu tun hatte. Es war so viel aufzuräumen. Die Essensreste waren zum Glück schon verstaut. Doch das Geschirr wartete, in der Spülmaschine und daneben. Tische und Stühle mussten wieder an ihre Plätze. Und gegen neun Uhr kamen Thomas und Heidi zum Helfen. Bis dahin wollte sie schon einen großen Teil geschafft haben. Sie musste also aufstehen.

      Martha setzte sich auf und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. So saß sie und schaute zum Fenster. Kein Laut von draußen. Ruhe. Dunkelheit. Nicht einmal die Finsternis entfernte sich langsam. Sie blickte auf die Uhr. Kein Wunder – es war kurz nach sechs. Es würde noch gut eine Stunde dauern bis es hell wurde. Sie rutschte ein Stückchen in ihre Kissen zurück. Ihre Arme fühlten sich an, als würden sie heruntergezogen. Wieder ins Bett hinein. Und den Beinen erging es ebenso. War sie gestern tatsächlich keinen Marathon gelaufen? Ihr ganzer Körper wollte liegen bleiben. Aber das Geschirr wartete. Und es musste unterm Tisch gesaugt werden. Lina war gestern nicht die Einzige gewesen, die ihr Essen auch dort verteilt hatte. Auch die Küche war zu wischen. Es gab wirklich so viel zu tun. Sie schloss die Augen.

      Aber eigentlich konnte sie das alles doch mit ihren Kindern gemeinsam machen. Und bis neun war es noch viel Zeit. Martha rutschte tiefer in ihre Kissen, rollte sich auf die Seite und gönnte ihren Gliedern noch ein wenig Ruhe. Ihr Kopf arbeitete indes auf Hochtouren. Aber zum Glück gab es genügend zu planen für den heutigen Tagesablauf.

      Eine Stunde später war Martha beim Anziehen. Sie frühstückte eine Kleinigkeit, trank ihren Tee und putzte Zähne. Danach nahm sie sich zunächst den Geschirrspüler vor. Das Ausräumen ging langsam voran. Und als sie die schmutzigen Gläser eingeräumt hatte, musste sie zunächst eine Pause einlegen. Sie setzte sich auf die Bank in der Diele. Und schon fielen ihr wieder etliche Dinge ein, die sie noch zu erledigen hatte. Doch ihr Atem ging noch zu schnell und ihr Rücken schmerzte.

      So wanderte ihr Blick zum Geschenketisch. Sie hatte wieder eine Menge bekommen. Viel zu viele Süßigkeiten, etliche Blumen und Kleidung. Doch was sollte man einer alten Frau auch anderes schenken? Sie brauchte nichts. Vor allem keine Süßigkeiten. Na, ihre Damen von der Rommeerunde würden sich freuen. Und all die anderen gelegentlichen Gäste.

      Sie nahm den Stapel Post in die Hand und blätterte durch. So viele Menschen hatten an sie gedacht. Goldene Schnapszahlen und Zahlenräder zierten die Karten. Doch dann hielt sie den Brief in der Hand. Ihr wurde plötzlich flau im Magen. Schnell legte sie den Stapel beiseite. Den Brief steckte sie unter den Haufen Zeitschriften, der neben ihr auf der Bank lag. Bloß weit weg. Wie kam der denn zwischen die Glückwunschpost? Ihr war immer noch übel. Sie stützte ihren Kopf auf die Hände. Starrte vor sich hin. War plötzlich ganz weit weg. Die Übelkeit verwandelte sich in einen dicken Kloß im Hals. Dort hing er. Und machte sich breit. Und als er drohte, höher zu klettern, stand Martha mit einem entschiedenen Seufzer auf. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und versuchte sich an den schmutzigen Schalen, in denen am vorigen Abend Naschereien dargeboten wurden. Sie lenkte ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Einräumen der Spülmaschine.

      Dann

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