Скачать книгу

nicht überstanden hätte. Mein Blick fiel auf die Ausgabe von Sturmhöhe, die auf meinem Bett lag.

      Unzählige Male hatte ich mich in den Ferien in dieses Buch geflüchtet, in eine andere Person. Eine Person, die genauso unter dem Tod eines geliebten Menschen und der verlorenen Liebe litt, wie ich. Mit schnellen Schritten ging ich zu meinem Bett und stopfte das abgenutzte Buch in meine Schultasche. Ich wollte es unbedingt dabei haben. Auf unerklärliche Weise spendete es mir Trost und ich hoffte, dass es mir auch die Kraft verlieh, den heutigen Tag zu überstehen.

      Der erste Schultag nach den Ferien. Ich war nicht bereit dafür. Jede Faser meines Daseins schien sich vehement dagegen zu wehren. Und doch setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg die Treppe hinab. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter zu machen. Wie genau wusste ich jedoch noch nicht.

      In der Küche angekommen waren mein großer Bruder Lukas und mein Dad Cedric bereits am Aufräumen. Sie hatten gewusst, dass ich zum Frühstück nicht erscheinen würde. Dennoch stand wie an jedem Tag in den letzten Wochen ein frisch zubereitetes Frühstück für mich bereit, das ich letztendlich doch wieder nicht anrühren würde.

      Meine kleine Schwester Mia saß auf dem für sie viel zu großen Stuhl und rührte seelenruhig mit der bloßen Hand in ihrem Essen herum. Mit ihren vier Jahren konnte sie natürlich noch nicht begreifen, dass ihre Mutter nicht mehr da war, dass sie nie mehr zurückkommen würde.

      Mein Blick schweifte auf den leeren Platz am Küchentisch, wo meine Mom jeden Morgen gesessen und in aller Ruhe die Tageszeitung gelesen hatte. Kurz stellte ich mir vor, sie wäre noch da. Ich stellte mir vor, sie würde noch immer an ihrem Platz am Kopfende des Tisches sitzen. Sie würde an ihrem Kaffee nippen und mir einen mahnenden Blick aus ihren strahlend blauen Augen zuwerfen, der besagte, dass ich wieder einmal zu spät dran war für die Schule.

      Ich fühlte ein erdrückendes Gefühl in der Brust und schnell verdrängte ich diese Erinnerungen. Mom war nicht mehr da.

      »Guten Morgen, Drea«, grüßte mein Dad mich aus müden Augen. Auch ihm saß der Schmerz noch schwer ums Herz. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, spiegelte sich meine eigene Trauer in seinen Augen. Schnell sah ich wieder weg und murmelte ebenfalls ein Guten Morgen.

      Mein Bruder Lukas gab mir lediglich einen Kuss auf die Wange und machte sich dann auf den Weg zur Arbeit. Er und Dad führten gemeinsam unser erfolgreiches Familienunternehmen. Eine Immobilienagentur, die Dad bereits in jungen Jahren alleine aufgebaut hatte.

      Schon auf der High School hatte mein Bruder fleißig in der Firma ausgeholfen und hart dafür gebüffelt, einmal in unser Unternehmen einsteigen zu können. Ich dagegen konnte dem nur wenig abgewinnen. Von klein auf vergrub ich meine Nase lieber in Büchern.

      Da Dad selbstständig war, begann er erst später mit der Arbeit und konnte sich so noch um unsere kleine Schwester Mia kümmern, ehe er sie in den Kindergarten brachte. Für gewöhnlich war dies Moms Aufgabe gewesen und nur ein weiteres Indiz dafür, wie sehr sie fehlte.

      »Ich muss los. Bis heute Abend«, informierte ich Dad, bevor ich mich auch schon umdrehte, um das Haus zu verlassen.

      »Drea, warte!«, rief er und folgte mir zur Haustür. Ich wandte mich ihm zu, konnte mich aber nicht überwinden, ihm in die großen braunen Augen zu schauen, die meinen so sehr ähnelten.

      »Ich habe dir etwas eingepackt«, er räusperte sich und ich spürte sein Unbehagen. »Ohne Frühstück bekommst du sicher Hunger bis zur Mittagspause.«

      Er streckte mir eine Brotbox entgegen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Für einige Augenblicke sagte ich nichts und starrte nur auf die Box in seinen Händen. Mir war durchaus bewusst, dass es ein Wink mit dem Zaunpfahl war. Mein Dad machte sich Sorgen um mich. Natürlich war ihm und Lukas mein Gewichtsverlust nicht verborgen geblieben.

      Da ich meinen Dad nicht noch mehr belasten wollte, nahm ich das Essen dankend an und machte mich auf den Weg zu meinem Auto, einem Ford Fusion. Mom und Dad hatten ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag vor einigen Monaten geschenkt. Kurz vor Moms schrecklichem Unfall.

      Ich unterdrückte den Wunsch aussteigen zu wollen, um zurück in mein Zimmer zu laufen, mich unter der warmen Bettdecke zu verkriechen und in den Schlaf zu weinen. Stattdessen startete ich den Motor und fädelte mich in den morgendlichen Berufsverkehr von Seattle ein.

      Es war nur eine zehnminütige Fahrt, wobei mir jedoch von Minute zu Minute übler wurde. Schließlich bog ich auf den kleinen Parkplatz der Garfield High ein und suchte mir einen geeigneten Platz.

      Ich krallte meine Hände in die Riemen meines Rucksacks, während ich über den Parkplatz auf die einladende Steintreppe zuging. Vor den Stufen blieb ich stehen und blickte hinauf auf das alte, rote Ziegelsteingebäude, das meine Schule war.

      So viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Schöne Momente sowie auch schlechte. Und jetzt war alles anders, so vieles hatte sich verändert.

      Ich nahm einen tiefen Atemzug, ehe ich mich in Bewegung setzte und die Treppen zur Tür hinaufstieg. Als ich im Eingangsbereich ankam wimmelte es nur so von Menschen. Es war buchstäblich die Hölle los.

      Neue Schüler, neue Lehrer und überall hingen Informationstafeln aus. Ich schlängelte mich durch die Masse hindurch und als ich aufblickte, spürte ich ein Stück meiner früheren Normalität zurückkehren. Das lag nicht an der überfüllten Aula, in der sich die Schüler nun lautstark über ihre Ferien austauschten oder sich über die neuen Lehrer und Stundenpläne ausließen. Nein, es lag an meinen besten Freunden, die einige Meter entfernt standen und auf mich warteten, wie sie es schon seit Jahren taten.

      Mein erster Blick fiel auf Poppy, die mit ihrer grau gefärbten Mähne überall herausstach. Poppy war schon immer etwas ungewöhnlich gewesen. Sie war anders als die meisten Mädchen auf der High School. Genau aus diesem Grund mochte ich sie so sehr. Sie war offen, ehrlich und vor allem aber war sie vorlaut, auch Lehrern gegenüber. Poppy war dafür bekannt, niemals ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

      Selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, dass ihre dunklen Augen vor Wärme nur so strahlten, als sie mich in der Menschenmenge ausfindig machten.

      In den Ferien hatte sie mich täglich besucht. Anfangs versuchte ich sie zu vergraulen, hatte sie angeschrien, ignoriert, doch rasch wurde mir klar, dass sich Poppy so schnell nicht abwimmeln ließ. Sie blieb. Selbst wenn wir nicht ein einziges Wort miteinander wechselten, uns anschwiegen. Sie blieb. Täglich kam sie vorbei und langsam aber sicher hatte ich mich an ihre Anwesenheit bei mir Zuhause gewöhnt.

      Neben ihr stand Timmy und auch auf seinem Gesicht war ein leichtes Lächeln zu erkennen, als ich mich ihnen näherte. Seine rostbraunen Haare standen ihm wirr vom Kopf und seine blassen Augen folgten mir durchs Getümmel. Das erste, das ich wahrnahm, waren Poppys graue Strähnen, als sie mich in eine stürmische Umarmung zog.

      »Willkommen zurück, Drea«, flüsterte sie und drückte mich noch etwas fester, bevor sie mich schließlich wieder freigab. Ich erwiderte ihr Lächeln, wenn auch etwas gezwungen.

      Lächeln war etwas, das mir fremd geworden war und es fühlte sich merkwürdig an meine Mundwinkel nun so zu verziehen. Es war, als wären sie für lange Zeit eingerostet gewesen, als hätte ich das Lächeln verlernt.

      Timmy grinste mich breit an und auch er zog mich in eine wilde Umarmung, wobei meine Füße fast vom Boden abhoben.

      »Bonjour ma cherié«, sein französischer Akzent war kaum zu überhören. Timmy war zwar hier in Amerika geboren und aufgewachsen, jedoch waren seine Eltern aus Frankreich, daher wuchs er zweisprachig auf.

      »Hey«, grüßte ich meinerseits zurück und wusste noch nicht so ganz, wie ich mich verhalten sollte. Es war nicht so, dass ich mich unwohl fühlte, im Gegenteil. Meine Freunde wieder um mich zu haben war ein schönes Gefühl.

      Allerdings war es merkwürdig in meinen Alltag zurückzukehren, wo sich doch so vieles verändert hatte. Poppy schien mein Unbehagen zu spüren und begann über unseren neuen Stundenplan zu fluchen. Ein liebevoller Versuch mich abzulenken. Sofort nahm ich den Rettungsring an und spürte Erleichterung darüber, dass mich keiner der beiden

Скачать книгу