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Vom Winde verweht. Margaret Mitchell
Читать онлайн.Название Vom Winde verweht
Год выпуска 0
isbn 9783753197203
Автор произведения Margaret Mitchell
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
An Melanie hingegen schienen die Gerüche, die Wunden und die Nacktheit der Männer spurlos vorüberzugehen, was Scarlett an dieser schüchternsten, verschämtesten aller Frauen wundernahm. Manchmal sah Melanie allerdings sehr bleich aus, wenn sie Dr. Meade die Schalen und Instrumente reichte, während er brandiges Fleisch wegschnitt. Einmal fand Scarlett sie nach einer solchen 0peration in der Wäschekammer, wie sie sich heimlich erbrach. Aber solange die Verwundeten sie sehen konnten, war sie sanft, verständnisvoll und froh, und die Leute nannten sie einen Engel des Erbarmens. Diesen Titel hätte Scarlett auch gern gehabt, aber damit war verbunden, daß man verlauste Männer anfaßte, mit dem Finger im Hals von bewußtlosen Patienten nachfühlte, ob sie nicht etwa an einem verschluckten Priem erstickten, daß man Stümpfe verband und faules und eitriges Fleisch säuberte. Nein, sie mochte durchaus nicht pflegen! Vielleicht wäre es hier erträglicher gewesen, wenn sie bei den Genesenden ihren weiblichen Zauber hätte spielen lassen dürfen. Aber als Witwe konnte sie sich derlei nicht erlauben. Die Genesenden waren in der Hut der jungen Mädchen aus der Stadt, die nicht pflegen durften, damit ihre jungfräulichen Augen nichts Unziemliches zu sehen bekamen. Unbeschwert von Ehe und Witwenschaft konnten sie sich ausleben, und auch die Unscheinbar sten unter ihnen hatten, wie Scarlett mißmutig beobachtete, keine Schwierigkeiten, einen Bräutigam zu finden. Abgesehen von den schwerverletzten und sterbenden Männern im Lazarett, lebte Scarlett ganz und gar in einer Welt von Frauen. An drei Nachmittagen in der Woche mußte sie an den Nähzirkeln von Melanies Freundinnen teilnehmen. Alle Mädchen waren sehr freundlich und zuvorkommend gegen sie, besonders Fanny Elsing und Maybelle Merriwether, die Töchter der beiden städtischen Machthaberinnen. Sie kamen ihr mit solcher Ehrerbietung entgegen, als wäre sie alt und zähle nicht mehr mit. Ihr ständiges Gerede über Bälle und Verehrer erfüllte Scarlett mit Bitterkeit, weil ihre Witwenschaft sie davon ausschloß. War sie nicht dreimal so anziehend wie Fanny und Maybel le? Ach, wie ungerecht war das Leben! Wie ungerecht, daß jeder dachte, ihr Herz läge im Grabe, und es war doch in Virginia bei Ashley!
Aber trotz aller Kümmernisse gefiel Atlanta ihr gut. Die Wochen vergingen, und ihr Besuch dauerte länger und länger.
An einem Hochsommermorgen saß Scarlett am Fenster ihres Schlafzimmers und sah betrübt die Leiterwagen und Equipagen voller Soldaten und Mädchen mit ihren Chaperons fröhlich die Pfirsichstraße hinunterfahren, um Blätterschmuck für den Basar zu holen, der am Abend zum Besten der Lazarette stattfinden sollte. Auf die schattige rote Straße fielen helle Sonnenflecken durch das Laubgewölbe der Bäume. Die Hufe wirbelten kleine Staubwolken auf. In einem Leiterwagen, der den anderen voranfuhr, saßen vier dicke Farbige mit Äxten, während sich hinten im Wagen die mit Servietten bedeckten Frühstückskörbe und Dutzende von Wassermelonen häuften. Zwei der schwarzen Gesellen waren mit Banjo und Harmonika ausgerüstet und gaben schwungvoll »Wenn ihr es gut haben wollt, kommt zur Kavallerie!« zum besten. Hinter ihnen her strömte die lustige Kavalkade, die Mädchen in leichten geblümten Waschkleidern mit feinen Schals, Häubchen, Handschuhen und Sonnenschirmchen. Alte Damen lächelten zufrieden unter Scherzen und Anrufen von Wagen zu Wagen. Genesende Soldaten, eingekeilt zwischen dicken Chaperons und schlanken Mädchen, die viel Lärm und Wesens um sie machten, 0ffiziere zu Pferde im Schneckenschritt neben den Equipagen, Rädergequietsch und Sporengeklirr, schimmernde goldene Tressen, Fächergewedel und dem Gesang der Farbigen. Ganz Atlanta fuhr über die Pfirsichstraße hinaus, um Laub zu pflücken und ein Picknick zu feiern. »Ganz Atlanta« dachte Scarlett, »nur ich nicht.«
Man winkte ihr fröhlich im Vorbeifahren zu. Sie suchte mit fröhlicher Miene zu antworten, aber es wurde ihr schwer. Mit einem Stich im Herzen hatte es begonnen und stieg nun langsam zum Halse herauf. Jeder ging zum Picknick, nur sie nicht. Und heute abend ging jeder zum Basar und zum Ball, nur sie nicht. Das heißt, nur sie, Pittypat und Melly und all die anderen Unglücksvögel in der Stadt, die Trauer hatten, nicht. Melly machte sich nichts daraus und kam gar nicht auf den Gedanken, daß sie gern hingegangen wäre. Aber Scarlett fühlte den brennenden Schmerz der Entsagung.
Es war ungerecht. Sie hatte doppelt so schwer wie andere Mädchen in der Stadt gearbeitet, um mit allem für den Basar fertig zu werden, hatte Socken, Babykappen und Halsbinden gestrickt und zahllose Meter Spitzen geklöppelt. Viele Kissenbezüge hatte sie mit der Konfö deriertenflagge bestickt. Die Sterne waren wohl ein wenig schief geworden, einige beinahe rund, andere sechsund sogar siebeneckig, aber es machte sich doch gut. Gestern hatte sie bis zur Erschöpfung in dem alten verstaubten Schuppen eines Waffenarsenals gearbeitet, um die Verkaufsbuden, die an den Wänden entlang errichtet waren, mit buntem Stoff zu verkleiden. Das war rechtschaffene Arbeit und kein Spaß gewesen. Den Damen Merriwether und Elsing zur Hand zu gehen, war niemals ein Spaß, sie sprangen mit ihr u m, als wäre sie eine Schwarze. Dazu mußte sie auch noch mit anhören, wie sie mit der Beliebtheit ihrer Töchter prahlten. Was aber das Schlimmste war, sie hatte sich, als sie Pittypat und Cookie bei den Schichttorten für die Tombola half, zwei Blasen in die Finger gebrannt. Sie hatte gearbeitet wie eine Magd und sollte sich jetzt, wo das Vergnügen anfangen sollte, zurückziehen. Ach, es war hart, daß sie einen toten Mann und ein Kind hatte und von allem Schönen ausgeschlossen war! Noch vor einem Jahre hatte sie getanzt und statt der dunklen Trauer bunte Kleider getragen und war mit drei Burschen so gut wie verlobt gewesen.
Sie war siebzehn Jahre alt, und ihre Füße warteten noch auf viele ungetanzte Tänze. Das Leben ging in grauen Uniformen, mit Sporengeklirr, in geblümten 0rgandykleidem und mit Banjoklang an ihr vorüber. Beim lächelnden Grüßen war es ihr nicht leicht, ihre Grübchen in Zucht zu halten und immer noch so auszusehen, als läge ihr Herz im Grabe. Jäh hörte sie auf zu grüßen und zu winken, als Pittypat ins Zimmer stürzte und sie vom Fenster wegriß. »Kindchen, hast du den Kopf denn ganz und gar verloren, daß du Männer vom Schlafzimmerfenster aus grüßt? Ich bin entsetzt, Scarlett; was würde deine Mutter dazu sagen?«
»Sie wissen doch nicht, daß es mein Schlafzimmer ist.«
»Aber sie könnten es denken, und das ist ebenso schlimm. Alle werden nun über dich reden, und jedenfalls weiß Mrs. Merriwether, daß es dein Schlafzimmer ist!«
»Und nun erzählt die alte Katze das überall herum?«
»Kindchen, Dolly Merriwether ist meine beste Freundin!«
»Meinetwegen, aber eine alte Katze ist sie trotzdem - ach, es tut mir ja leid, Tantchen, weine nur nicht! Ich habe ganz vergessen, daß es mein Schlafzimmerfenster war. Ich wollte sie nur vorbeifahren sehen. Ach, ich wollte, ich könnte mitfahren.«
»UmHimmels willen, Kindchen!«
»Jawohl, ich habe es satt, zu Hause zu sitzen.«
»Scarlett, versprich mir, daß du so etwas nicht wieder sagst. Sonst müßten die Leute ja denken, du ehrtest nicht das Andenken des armen Charlie.«
»Ach, Tantchen, weine doch nur nicht!«
»0h, nein ... sieh, nun mußt du auch weinen«, schluchzte Pittypat voller Wohlbehagen und suchte in der Rocktasche nach ihrem Taschentuch. Auch Scarlett wurde jetzt überwältigt und verlor alle Fassung. Sie schluchzte laut - nicht um den armen Charlie, wie Pittypat dachte, sondern weil das Räderrollen und Gelächter nun verklungen war. Melanie kam aus ihrem Zimmer hereingerasselt, eine Bürste in der Hand, ihr sonst so ordentliches schwarzes Haar war frei vom Netz und plusterte ihr in hundert winzigen Wellen und Löckchen ins Gesicht.
»Ihr Lieben, was ist denn?«
»Charlie!« jammerte Pittypat, barg den Kopf an Mellys Schulter und gab sich ganz dem Genuß ihres Kummers hin.
»Ach!« Mellys Lippen zitterten sogleich, als der Name ihres Bruders fiel. »Sei tapfer, Liebes, nicht weinen. Ach, Scarlett!«
Scarlett hatte sich aufs Bett geworfen