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handelte sich um kurdische Volkslieder, die daran erinnerten, dass Menschen in der Türkei für Jahrzehnte ins Gefängnis kamen, nur weil sie sich bei öffentlichen Auftritten ihrer Muttersprache bedient hatten. Es ging um die Rohingya in Myanmar, denen man die Staatsbürgerschaft verweigert und die deshalb Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt sind, sodass sie sich ständig auf der Flucht befinden und der Internationale Gerichtshof in Den Haag sogar von Völkermord gesprochen hat. Es ging um die Bürgerbewegungen in der arabischen Welt genauso wie um pakistanische und sudanesische Revolutionsdichter und Sänger.

      Karl hatte den Eindruck, sich in einer anderen Welt zu befinden und diese Klänge vermittelten ihm das Gefühl, dass es eine andere Möglichkeit geben könnte, eine Welt, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschte, eine humane Welt, die nicht von Gewalt, Brutalität, Schmerz und Unterdrückung geprägt war. Auch wenn er das Wort in seinen von Sachlichkeit geprägten politischen und wirtschaftlichen Analysen nicht sehr schätzte, so hatte er doch in dieser harmonischen Atmosphäre das Gefühl, dass die Liebe eine Chance verdient hatte, dass es vielleicht doch die Möglichkeit gab, all das Hässliche in der Welt zu überlieben.

      Eine ganze Stunde war Karl schon gedankenverloren durch diese Klanginstallation geschwebt, als er glaubte, in diesen sphärischen Klängen seinen Namen zu hören, erst ganz leise, so als gehörte er zu diesen Klängen, doch allmählich wurde die Stimme immer lauter, sodass er schließlich aus seinen Träumen in die reale Welt zurück geholt wurde; er drehte sich um und konnte es kaum fassen: hinter ihm stand sein Freund Arthur, der genau wie er selbst außerordentlich überrascht war, hier so unvermittelt auf seinen Freund zu treffen. Nach einer kurzen von körperlicher Distanziertheit geprägten Begrüßung verließen sie gemeinsam den Portikus, denn in diesen heiligen Hallen waren Unterhaltungen natürlich nicht erwünscht.

      Nachdem Karl und Arthur gemeinsam einen Spaziergang am Main entlang gemacht und anschließend in einem nahe gelegenen Restaurant zu Abend gegessen hatten, verbrachten sie den Rest des Abends bei einem Glas Wein in Arthurs Wohnung.

      „Ich habe dir ja schon bei unserem letzten Treffen erklärt, dass ich der Überzeugung bin, dass nur der Spiegel des Willens, also die sogenannte reale Welt dem Gesetz vom vierfachen Grund unterworfen ist, nicht aber der Wille selbst; die Erscheinung des Willens ist eine Individuation unter den Bedingungen von Raum, Zeit und Kausalität. Diese Realität gibt es allerdings nur in der Gegenwart, denn noch nie hat ein Mensch in der Vergangenheit gelebt und es wird auch niemals ein Mensch in der Zukunft leben, Leben findet immer nur in der ausdehnungslosen Gegenwart statt. So wie dem Willen das Leben, so ist dem Leben die Gegenwart vollkommen sicher, Leben bedeutet Gegenwart ohne Ende, ich zitiere aus meinem letzten Aufsatz: ‚Wen daher das Leben, wie es ist, befriedigt, wer es auf alle Weise bejaht, der kann es mit Zuversicht als endlos betrachten und die Todesfurcht als eine Täuschung bannen, welche ihm die ungereimte Furcht eingibt, er könne der Gegenwart je verlustig werden‘.

      Während also die einzelne Erscheinung des Willens zum Leben anfängt und wieder aufhört, bleibt doch der Wille zum Leben an sich davon unberührt, er ist zeitlos und der Tod hebt lediglich die Täuschung wieder auf, die die Individuation von dem Willen an sich trennt.“

      „Mein lieber Arthur, wenn das stimmen würde, was du da sagst, dann gäbe es ja gar keine historische Entwicklung und es wäre für den Einzelnen auch vollkommen sinnlos, seine Zukunft zu planen und das kann ich auf gar keinen Fall akzeptieren. Du warst doch auch gerade in der Ausstellung im Portikus. Ist dir denn da nicht deutlich geworden, dass es in dieser Welt ungeheure Ungerechtigkeiten gibt, die man auf gar keinen Fall einfach akzeptieren darf; vielmehr, und das haben ja gerade diese revolutionären Dichter und Sänger deutlich gemacht, kommt es darauf an, sich gegen die Unterdrücker in dieser Welt zu wehren und wenn es sein muss, auch mit Gewalt zu wehren. Es ist zwar richtig, dass wir nur in der Gegenwart leben können, aber unser Verhalten in der Gegenwart bestimmt unsere Zukunft, die wir eines Tages als Gegenwart erleben werden.“

      „Es kommt nicht auf irgendwelche gesellschaftlichen Veränderungen an, sondern darauf, mein eigenes Wesen anhand meiner Individuation zu erkennen und zu bejahen und also den vorher ohne Bewusstsein existierenden Willen zum Leben durch die Erkenntnis zu bereichern und mein Leben als von mir gewollt zu betrachten, sodass der blinde Drang nun durch Bewusstheit ersetzt wird. Wenn jedoch nach der Erkenntnis das eigene Wollen endet, so handelt es sich um die Verneinung des Willens zum Leben, mit anderen Worten, der Wille ist vollkommen frei, sodass er auch die Möglichkeit hat, sich selbst aufzuheben.“

      Wie ich bereits sagte, hat in der Natur, in der Welt der Erscheinung alles einen Grund und eine Folge, es gilt uneingeschränkt der Satz vom Grunde, da der Wille zum Leben, also das Ding an sich, gar nicht in Erscheinung tritt, ist er auch nicht dem Satz vom Grunde unterworfen, er kennt weder Grund noch Folge, für ihn gibt es absolut keine Notwendigkeit, sodass er vollkommen frei ist, denn die Freiheit ist ja nichts anderes als das Nichtvorhandensein einer Notwendigkeit, wie ich auch geschrieben habe ‚Jedes Ding ist als Erscheinung, als Objekt, durchweg nothwendig: dasselbe ist AN SICH Wille, und dieser ist völlig frei, für alle Ewigkeit‘.

      Einzig und allein der Mensch ist unter allen Erscheinungen des Willens zum Leben von einem so hohen Grad an Erkenntnis geprägt, dass er eine absolute und reine Spiegelung des Wesens der Welt darstellt. Aber er ist sich bewusst, dass er als endliches Individuum sich in einem unendlichen Raum und einer unendlichen Zeit befindet, sodass die Erkenntnis seines Wesens immer nur relativ und niemals absolut sein kann: ‚sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. – Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart‘.“

      „Es tut mir leid, mein lieber Arthur, aber hier kann ich dir auf gar keinen Fall folgen, denn deine letzten Ausführungen kommen mir jetzt doch zu sehr in die Nähe des Religiösen und du weißt ja, dass ich die Religion einmal als Opium fürs Volk bezeichnet habe und dieser Überzeugung bin ich nach wie vor.

      In unserer modernen Gesellschaft haben sich die Produktionsmittel in wenigen Händen konzentriert, wohingegen die Produktionskräfte, die den Mehrwert erzeugen und für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt sorgen, einzig und allein in den Händen der Arbeiter, des Proletariats liegen. Der moderne Arbeiter kann jedoch nur so lange leben, wie er Arbeit findet, ist also vollkommen abhängig von der Bourgeoisie, der er seine Arbeit stückweise als Ware anbieten muss.

      Die Bourgeoisie ihrerseits bezahlt diese Ware jedoch so schlecht, dass die Arbeiter im Vergleich zu ihnen ein elendes Leben führen müssen. Damit die Arbeiter nicht eines Tages ihr Elend gewaltsam beenden, indem sie die Eigentümer der Produktionsmittel enteignen, werden sie von den Herrschenden auf einen Sankt Nimmerleinstag vertröstet, an dem sie angeblich das große Glück erwartet. Die Religion ist also nichts weiter als ein Machtinstrument der Herrschenden zur Unterdrückung des Proletariats.“

      „Da hast du vollkommen recht, mein Eigentum ist immer dasjenige, das durch meine eigenen Kräfte bearbeitet wurde und deshalb ist die Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats in jedem Fall ein Unrecht. Außerdem sprichst du einen anderen wesentlichen Punkt an, mein lieber Karl, nämlich das große Glück, nach dem angeblich alle Menschen streben; das Glück ist aber nichts weiter als die Befriedigung eines Wunsches, also die Beseitigung eines Mangels. Sobald dieser Wunsch erfüllt, also der Mangel beseitigt ist, hört natürlich auch der Wunsch auf zu existieren, sodass das Glück ebenfalls endet. Das Glück ist nichts weiter als die Befreiung von einem Mangel, von einem Schmerz, von einem Leiden, ist immer nur von negativer Natur und kann niemals von Dauer sein. Wenn man das ständige Streben nach Glück insgesamt betrachtet, ist es doch nichts weiter als nur ein Trauerspiel.

      Aber ich möchte noch einmal zurückkommen auf meine Ausführungen über die Bejahung des Willens zum Leben, die natürlich auch die Bejahung des Leibes bedeutet; obwohl das Streben nach Glück immer mit der Beseitigung eines Mangels gleichzusetzen ist, bleibt deshalb dem Individuum doch nichts anderes übrig, als ständig seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu gehört natürlich auch die Befriedigung des Geschlechtstriebes, wodurch nicht nur die eigene Existenz, sondern das Leben über den Tod des Individuums hinaus bejaht wird, sodass man sagen kann, dass die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens sind. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist also nichts weiter als die Bejahung des Willens zum Leben, wohingegen sexuelle Enthaltsamkeit die Verneinung des Willens zum Leben bedeutet.“

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