Скачать книгу

alles begann…

      Ungebetener Besuch

      Es war ein ganz normaler Dienstagmorgen im Februar 2006. Wie so oft hatte ich bis weit nach Mitternacht an meinem ersten Zürcher Retail-Marktbericht gearbeitet, und war danach erschöpft ins Bett gefallen. Nicht in mein eigenes, sondern in das meiner Freundin Victoria, in die ich mich unsterblich verliebt hatte und bei der ich seit sechs Monaten wohnte. In der Nacht, in den kurzen Momenten zwischen Wachen und Träumen, machte ich ihr stumm eine Liebeserklärung und nahm mir vor, sie am nächsten Morgen sanft damit zu wecken. Zufrieden über diese Absicht, kuschelte ich mich näher an Victoria heran. Dass sie da war, gab mir ein gutes Gefühl. Was konnte mir mit einer so klugen, bildschönen und lebensbejahenden Frau an der Seite schon geschehen!

      Mit diesem Gedanken fiel ich in tiefen Schlaf, ziemlich zufrieden. Brachte eine intakte Beziehung nicht unweigerlich beruflichen Erfolg mit sich? Im Traum zumindest war es so. Ich lief schwerelos Shoppingmeilen entlang und suchte exklusive Locations für Armani, Gucci, Prada und ich weiss nicht wen alles sonst. Gerade als ich dabei war, den Deal meines Lebens zu machen, rüttelte mich mein Traumwesen unsanft: «Aufwachen, aufwachen …!»

      Aufwachen, wieso? Noch völlig benommen erkannte ich die Stimme von Victoria: «Nun werde doch endlich wach. Die Kripo ist da!» Ich schlug die Augen auf. Einen Moment zweifelte ich an meinem Verstand. War das, was ich gerade sah, wirklich wahr? Standen die Schweizer Polizisten, drei Männer und eine Frau, tatsächlich im Schlafzimmer vor dem Bett oder waren sie einfach nur meiner Fantasie entsprungen? Vielleicht befand ich mich noch immer in einer Schlafphase und es war nur die Fortsetzung meines Traums. «Grüezi, Herr Riebe», sagte der Grössere aus der Gruppe. «Verstehen Sie Mundart?» Ich nickte verschlafen und richtete mich auf. «Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung», fuhr er in Schwyzerdütsch fort, «aber wir sind aufgrund einer Anzeige von Gernot C. Riebe da. Sie werden beschuldigt, vom Server Ihres Bruders wichtiges Datenmaterial entwendet zu haben. »

      Datenmaterial entwendet! Das durfte nicht wahr sein. Einen Moment war ich völlig fassungslos. Dann kam Wut in mir hoch, und ich sprang völlig aufgebracht aus dem Bett. Am liebsten hätte ich die Polizisten kurzerhand aus der Wohnung geworfen. «Hey, habt ihr nichts Besseres zu tun, als einen erschöpften Menschen am frühen Morgen aus dem Schlaf zu reissen? Kinderschänder und Kriminelle lasst ihr frei herumlaufen, aber ein Überfallkommando auf einen unbescholtenen Bürger loslassen, das könnt ihr!»

      So hätte ich am liebsten geschrien. Vielleicht habe ich das auch. Die Polizisten erwarteten jedoch keinen Wutausbruch, sondern eine sachliche Erklärung von mir. Doch ausser dass das alles «Blödsinn» sei, fiel mir nichts dazu ein. Ich musste dermassen ratlos gewirkt haben, dass einer der Männer mir zu Hilfe kam: «Wir bedauern ausserordentlich, doch die Kollegen in Kreuzlingen haben sich mit einem Rechtshilfeersuchen an uns in Zürich gewandt. Wir sind nur beauftragt, das Anliegen …»

      «Ihre Kollegen spinnen!», fiel ich ihm wild gestikulierend ins Wort. «Prüfen die so einen Mist vorher nicht?» Meine Stimme klang schneidend und durchdringend, selbst mir erschien sie einen Tick zu laut. «Anordnung ist Anordnung. Bevor wir die ganze Wohnung auf den Kopf stellen und jeden Winkel durchsuchen, rücken Sie lieber gleich das Datenmaterial heraus.» Der Polizist, der das sagte, ein junger Kerl, schien sich seiner Sache sicher.

      «So ein Mistkerl!»

      «Ich habe nichts, was ich herausrücken könnte. Was soll das?» Ich war mir keiner Schuld bewusst, fühlte mich aber trotzdem mies. Meine Gedanken rasten, gingen alle Möglichkeiten durch, die zu einem solchen Verdacht geführt haben könnten. Wie kam mein Bruder dazu, mir Datenklau zu unterstellen? Fühlte er sich verletzt, weil ich nicht mehr für ihn arbeitete? Wollte er meiner Selbstständigkeit Steine in den Weg legen? Trotzdem konnte und wollte ich nicht glauben, dass Gernot C. so rücksichtslos reagierte. Das alles musste ein Missverständnis sein.

      Die Polizisten machten sich, nachdem ich ihnen wohl keine grosse Hilfe war, an die Arbeit. In Windeseile durchsuchten sie Schubladen, Schränke, hoben Matratzen hoch, nahmen Bilderrahmen von der Wand und verrückten Möbelstücke. Victoria, die sich einen Bademantel über ihr Negligé von Agent Provocateur gezogen hatte, schaute mich tief besorgt an. Wie gerne hätte ich sie jetzt … ach, ist ja auch egal. Ich zuckte frustriert die Schultern, ging kurz ins Badezimmer und zog mich an, während es um mich herum schepperte und polterte. «So ein Mistkerl», murmelte ich vor mich hin, und meinte Gernot C., der mir den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte.

      Ich stand mittlerweile unschlüssig zwischen Flur- und Wohnbereich. Die Polizistin trug mehrere Laptops an mir vorbei. «Gehören die Ihnen?»

      Ich nickte stumm. «Die müssen wir konfiszieren.»

      In dem Moment erst realisierte ich die möglichen Auswirkungen dieser Aktion. «Scheisse», rief ich erschrocken und malte mir aus, dass ich die nächsten Wochen, vielleicht sogar Monate, nicht an mein Arbeitsmaterial herankommen würde. Ich geriet in Panik. Meine Existenz. Dachte denn keiner an meine berufliche Existenz? Den USB-Stick, auf dem ich sicherheitshalber die Informationen der Marktstudie noch einmal abgespeichert hatte, würden sie sicher gleich finden. Und so war es auch.

      «Abgeführt und verfrachtet»

      Einer der Polizisten hielt ihn triumphierend in die Höhe. Nur waren auf dem nicht die Daten, die sie sich erhofften.

      «Kommen Sie, wir fahren in Ihr Büro!» Der Polizist, der mich am Bett angesprochen hatte, gab das Zeichen zum Aufbruch.

      Ich verabschiedete mich flüchtig von Victoria und nicht so liebevoll, wie ich es gewöhnlich tat, auch die Liebeserklärung, die ich mir vorgenommen hatte, musste warten. Ich folgte den Beamten. Was für ein Tag!

      Draussen wurde ich in den Fond des Polizeiwagens verfrachtet. Zwei der Polizisten stiegen vorne ein. Die beiden anderen nutzten ein weiteres Dienstfahrzeug.

      Der Fahrer und sein Begleiter blieben stumm. Auch gut. So hatte ich Zeit zum Nachdenken. Aber mein Ärger und meine Wut verhinderten jeden klaren Gedanken. Selbstmitleid und Verzweiflung kamen über mich. Und immer wieder Wut. Diese Art von Wut, bei der man weiss, dass sie nichts bringt und alles nur noch schlimmer macht.

      Die Wut war mit Angst vermischt. Gerüchte und vage Behauptungen können Vertrauen und somit Karrieren vernichten. Was, wenn dieser ganze Quatsch an die Öffentlichkeit käme. Ich, ein Optimist durch und durch, war auf Untergangsfantasien eingestellt. Meine Mitarbeiterinnen würden kündigen, mein Vermieter schmiss mich womöglich raus … Ich hasste solche Vorstellungen. Aber sie waren da. Waren in meinem Kopf.

      Haarsträubende Szenen tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Dinge aus meinem Leben, die ich lieber verdrängt hätte. Ich wollte an etwas Schönes denken, etwas völlig anderes.

      Eine alte Ansichtskarte fiel mir ein, ziemlich abgegriffen und an den Ecken eingeknickt, die mir mein Vater einmal gezeigt hatte. Ich interessierte mich schon als Junge für elegante Häuser und exklusive Geschäfte, und er hatte damals gemeint, dass die Hansestadt Elbing an imposanten Gebäuden, Kirchen und Kunstwerken nicht zu überbieten gewesen wäre. Tatsächlich waren die Bauwerke, die ich betrachtete, beeindruckend, die ganze Atmosphäre dort. Und auf einmal befand ich mich in meiner Vorstellung inmitten von historischen Handelshäusern, engen Altstadtgassen und dem Elbingfluss. Ganz so, wie mein Vater es wohl im Jahre 1944 gesehen hatte, bevor er als kleiner Junge seine Heimat verlassen musste.

      Mit dreizehn Jahren hatte ich noch keine Ahnung davon, dass «das Geld auf der Strasse liegt» und man sich eigentlich nur «bücken» muss, um es aufzuheben. Und schon gar nicht sprach ich damals so gut Englisch, um die elegantere Version zu verstehen, die da heisst: The streets are paved with gold. Ich war Paperboy, Zeitungsjunge und trug morgens vor der Schule mit dem Fahrrad Zeitungen aus, um mein Taschengeld aufzubessern. Mit vierzehn jobbte ich in den Sommerferien als Tellerwäscher auf der Insel Mainau am Bodensee. Mit fünfzehn verkaufte ich Eis und putzte abends zweimal wöchentlich Böden in der Universität Konstanz. Mit sechzehn versuchte ich mich nachmittags und abends als Barkeeper im Restaurant Mandarin in Konstanz. Ausserdem arbeitete ich in den Ferien in einer Dosenfabrik in Ermatingen Akkord. Mit siebzehn und achtzehn Jahren betätigte ich mich als Küchenjunge im Guten Hirten. Später bediente ich abends und

Скачать книгу