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Die Krebs-WG. Sara M. Hudson
Читать онлайн.Название Die Krebs-WG
Год выпуска 0
isbn 9783748587552
Автор произведения Sara M. Hudson
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Plötzlich fuhr Ellen hoch. Immer wieder hatte sie Udo Jürgens Schlager „Ich war noch niemals in New York…“ in ihrem Traum gehört. Sie saß senkrecht und schweißgebadet in ihrem Bett und brauchte erst einen Moment, um zu verstehen, wo sie eigentlich war. Schließlich stellte sie fest, dass sie von dem Lied gar nicht geträumt hatte, sondern dass ihre liebe Mitpatientin mit Kopfhörern strickend in ihrem Bett saß und lautstark einen Vers nach dem anderen schmetterte. In der Zwischenzeit war es dunkel geworden und das Tablett mit Essen stand unberührt auf Ellens Nachttisch. Sie musste einige Stunden geschlafen haben, wenn sie sogar nicht einmal mitbekommen hatte, dass ihr das Essen gebracht worden war.
Frau Althoff hatte nicht mitbekommen, dass Ellen aufgewacht war und sie fassungslos anstarrte. Endlich war das Lied zu Ende. Doch schon begann sie „Griechischer Wein“ zu singen.
Nachdem Ellen einige Male „hallo, etwas leiser, bitte“ gerufen hatte und keine Reaktion erhielt, sah sie keine andere Möglichkeit, als aufzustehen und zu der Frau hinüber zu gehen, um diesen Wahnsinn zu beenden.
„He, Sie sind hier nicht allein im Zimmer“, Ellen schrie fast. Als die Frau aber noch immer nicht reagierte, zupfte Ellen sie unsanft am Ärmel. Frau Althoff zuckte zusammen und blickte von ihrem Strickzeug auf. „Oh, verzeihen Sie. War ich wieder zu laut? Ich vergesse mich immer, wenn ich Udo Jürgens höre. Tut mir leid.“ Diese Worte schrie sie, denn sie trug noch immer ihre Kopfhörer und hatte die Musik offensichtlich voll aufgedreht. Ellen erwiderte etwas, was Frau Althoff allerdings nicht verstehen konnte.
„Sie müssen schon lauter sprechen, Kindchen“, meinte sie und entfernte ihre Kopfhörer erst, als Ellen wild gestikulierend vor ihrer Nase rumfuchtelte.
„Ach so, deshalb habe ich nichts verstanden“, meinte Frau Althoff. „Was haben Sie gesagt?“
„Ich habe gesagt, dass Sie hier nicht alleine im Zimmer sind“, wiederholte Ellen genervt. „Es ist immerhin…“, sie schaute kurz auf ihre goldene Armbanduhr „halb acht“, vervollständigte sie dann ihren Satz kleinlaut. Es hatte sich für sie schon viel später angefühlt.
„Haben Sie vielleicht Lust, Karten zu spielen? Ich finde es immer so langweilig im Krankenhaus. Ich bin eine Nachtschwärmerin, müssen Sie wissen, und zu Hause gehe ich vor zwei Uhr morgens nicht ins Bett.“ Na, das konnte ja heiter werden, dachte Ellen.
„Nein danke“, antwortete Ellen knapp.
„Dann vielleicht einen Film schauen? In einer dreiviertel Stunde beginnt das Abendprogramm. Sie dürfen wählen.“ Ellen atmete tief ein. Diese unmögliche Person hatte absolut kein Gespür dafür, dass sie überhaupt keine Lust hatte sich mit ihr zu unterhalten, geschweige denn mit ihr fernzusehen. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und sich mit ihrem Schicksal auseinandersetzen.
„Geben Sie mal ihr Glas her. Ich habe hier was Gutes für Sie, “ sagte Frau Althoff und griff nach der Saftflasche, die auf ihrem Nachtisch stand. Sich selbst schenkte sie zuerst einen ordentlichen Schluck ein, bevor sie auf Ellens Glas deutete. Diese fuhr sie zornig an:„Hören Sie, ich habe keinen Nerv zum Kartenspielen oder Fernsehen. Mir wurde heute mitgeteilt, dass ich, egal wie ich’s mache, nicht mehr lange zu leben hab. Mein Kopf spielt verrückt. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und Sie kommen mir mit Udo Jürgens, Kartenspielen, Fernsehen und Saft trinken. Heute Nachmittag erzählen Sie mir noch, dass ich es eh nicht bis zum Ruhestand schaffen werde. Haben Sie denn gar kein Taktgefühl?“
Die alte Dame sah Ellen von oben bis unten an. Sie atmete tief ein und begann dann mit ruhiger Stimme: „Gerade weil ich weiß, wie es Ihnen geht, mache ich Ihnen diese Vorschläge, Kindchen. Ich habe doch das Gleiche schon hinter mir. Mir hat damals niemand wirklich geholfen, weder als ich meinen Mann verloren hatte, noch als bei mir selbst diese Krankheit diagnostiziert wurde. Da musste ich ganz alleine durch. Die Hand getätschelt zu bekommen und gesagt zu kriegen, wie schlimm das ja alles ist, hätte ich aber auch schon damals nicht für besonders hilfreich gehalten.
Da Sie weder jemand hier her begleitet, noch bisher besucht hat, gehe ich davon aus, dass Sie, wie ich, keine Familie haben, oder mit der Sache irgendwie selbst fertig werden wollen. Ich weiß, dass das alles nur schwer alleine geht, Kindchen. Das ist eben meine Art, Ihnen Hilfe anzubieten.“
Ellen antwortete nicht. Sie hatte sich kraftlos auf das leere, mit Schutzfolie überzogene Bett fallen lassen, das zwischen ihnen stand und sah Frau Althoff mit großen Augen an. Die Frau hatte ja recht: Sie hatte wirklich niemanden, der ihr jetzt zur Seite stehen würde. Wer war da denn schon? Ihre Kollegen? Oder etwa ihr Chef? Außerhalb der Arbeit hatte sie mittlerweile nur wenige Kontakte und als Einzelkind, dessen Eltern seit deren Ruhestand am Gardasee lebten, auch niemanden, der in ihrer unmittelbaren Nähe lebte und sich um sie kümmern würde.
Ihren Eltern hatte sie von der Krankheit noch gar nichts gesagt. Sie wollte sie nicht beunruhigen. Ihr Vater hatte ohnehin Herzprobleme und konnte Aufregung nicht vertragen. Sie hatte geglaubt, damit durchzukommen, ihnen alles zu verschweigen. Von der OP hätten sie nie etwas erfahren müssen. Sie wäre in ein paar Tagen wieder zu Hause gewesen, hätte ihren Eltern vielleicht erzählt, dass sie für ein paar Tage verreist war und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber jetzt…
„Wie dem auch sei“, sagte Frau Althoff bestimmt. „Sie müssen auf andere Gedanken kommen. Ich weiß, wir kennen uns nicht. Aber nehmen Sie meinen wohlgemeinten Rat an: Es hilft wirklich nichts, zu jammern und in Selbstmitleid zu versinken. Das tut ihrem Gesundheitszustand überhaupt nicht gut. Was sie tun müssen, ist weitermachen. Kämpfen solange es geht! Je schneller Sie ihr Schicksal annehmen, desto besser! Dann bekommen Sie auch die Kraft, zu kämpfen und geben Ihrer verbleibenden Zeit mehr Qualität. Außerdem erwischt es früher oder später eh jeden von uns.“
In Ellens Augen blitzten Zorn und Verzweiflung auf und sie schrie:
„Sie mit Ihren blöden Weisheiten! Wie soll ich denn weitermachen, wenn es nicht mehr lange zum Weitermachen gibt? Ein halbes Jahr, ein Jahr… Das sind doch keine Aussichten! Wie können Sie nur sagen, dass ich das alles lockerer sehen muss?“
Frau Althoff stand auf, legte ihren tragbaren CD-Player auf ihren Nachttisch, nahm die Saftflasche und ein frisches Glas und setzte sich neben Ellen aufs Bett. Die Schutzfolie knisterte. „Das hat nichts mit ‚locker sehen‘ zu tun. Sie wissen nie, wann es vorbei ist, Kindchen. Ob Sie nun gesund sind oder nicht. Es kann immer aus sein, ohne dass man damit rechnet. Ein Unfall, ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt…. Der Tod macht vor keinem Halt. Die Wenigsten machen sich darüber rechtzeitig Gedanken und meinen, das reicht noch, wenn man alt ist. Aber wer sagt, dass man so lange Zeit hat? Nicht viele wissen, wann und an was sie sterben werden. Wir wissen es. Naja, nicht genau wann, aber wir können den Zeitraum ziemlich eng eingrenzen.“
Ellen schüttelte verständnislos den Kopf. Mit den seltsamen Ansichten und Lebensweisheiten dieser Frau konnte sie sich absolut nicht anfreunden. Trotzdem ließ sie Frau Althoff gewähren, als sie ihr einen großen Schluck roten Saft einschenkte und ihr hinhielt. Sie drehte sich auch nicht von ihr weg, als sie ihr die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Trinken Sie, dann geht es Ihnen gleich wieder besser.“ Misstrauisch nahm Ellen das Glas und roch daran.
„Das ist ja gar kein Saft“, schniefte sie und wischte sich eine Träne von der Wange.
„Naja, aber wenn man es genau nimmt, war es mal Saft. Jetzt nennt man es Port. Zum Wohl“, erwiderte Frau Althoff kichernd, langte zu ihrem Nachttisch hinüber und holte sich ihr eigenes Glas. Sie prostete Ellen zu und trank es dann in einem Zug leer. Ellen lächelte müde, hob aber schließlich doch ihr Glas, prostete Frau Althoff zu und trank.
Einige Zeit später betrat die Nachtschwester Zimmer 211 auf ihrem abendlichen Rundgang. Sie hatte im Berichtbuch gelesen, dass es Probleme in diesem Zimmer gab. Sie erwartete Gezeter und Beschwerden und hatte sich deshalb dieses Zimmer auf ihrer Runde bis zum Schluss aufgehoben. Sie wollte erst alle anderen Patientinnen versorgt wissen, da sie bestimmt heute Abend noch so einige Scherereien mit den Bewohnern dieses Zimmers haben würde.