Скачать книгу

Die Worte des Arztes nahm Ellen Bleckmann wie in Trance wahr. Starr saß sie auf dem Stuhl in dem spartanisch eingerichteten Besprechungszimmer von Prof. Dr. Dr. Wagner. Die Farbe war fast gänzlich aus ihrem Gesicht gewichen. Sie nickte gelegentlich, obwohl sie das Gehörte gar nicht wirklich verstand. Nicht wegen der Fachbegriffe, die der Arzt verwendete, nein! Im Prinzip stellte er den Sachverhalt anschaulich und gut nachvollziehbar dar: Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium, Metastasen an Lymphen, Lunge und Knochen. Krebsart: schnellwachsend. Lebenserwartung ohne Chemotherapie: 6 Monate. Mit Chemotherapie bei gutem Gesundheitszustand: vielleicht ein Jahr. Das bestimmt nur, wenn die Chemo überhaupt anschlug. Was gab es da nicht zu verstehen?

      Als Ellen noch immer nicht reagierte, fuhr Professor Dr. Dr. Wagner, dem eine gewisse Routine in dieser Art von Gespräch anzumerken war, fort: „Die Medizin ist heute so fortgeschritten, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, den Krebs auch in einem sehr fortgeschrittenem Stadium so gut wie möglich in Schach zu halten.“ Besonders beruhigend klang das in Ellens Ohren nicht. „In Schach halten“, an all den Stellen, die ihr der Arzt eben genannt hatte?

      „Vielen Dank für Ihre Mühe, Herr Professor“, brachte sie schließlich schwach hervor, stand langsam auf und schlurfte zur Tür. Obwohl das Gespräch von seiner Seite aus noch nicht beendet war, hinderte der Arzt sie nicht daran zu gehen. Jeder Patient reagierte schließlich anders auf schlechte Nachrichten. Manche heulten, manche wurden ungehalten und aggressiv. Er hatte auch schon erlebt, dass Patienten die Diagnose verdrängten und so taten, als sei alles in Ordnung. Diese Frau hier ergriff die Flucht.

      Eine Information wollte der Professor allerdings noch loswerden und rief Ellen hinterher: „Der soziale Dienst wird Sie im Laufe des Nachmittags in Ihrem Zimmer aufsuchen und ihnen Informationen zu….“ Mehr hörte Ellen nicht mehr. Die Tür war bereits hinter ihr zugefallen. Geistesabwesend lief sie Richtung Gynäkologische Station.

      Sie hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihre Tasche auszupacken. Erst heute Morgen war sie hier angekommen und hatte damit gerechnet, eine ganze Weile hier zu bleiben. Sie sollte doch morgen operiert werden. Das Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Wagner hätte eigentlich nur die Vorbesprechung zur OP werden sollen. Der computertomographischen Untersuchung hatte sie sich bereits vor einigen Tagen unterzogen. Da war noch keine Rede davon gewesen, dass ihr Krebs unheilbar sei. Ganz im Gegenteil: „Nur um sicherzustellen, dass wir bei der OP auch nichts übersehen“, hatte es geheißen als man sie in „die Röhre“ schob und man schien recht zuversichtlich, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Und nun… Nun hieß es, ihr Krebs sei unheilbar? Nur mit einer Chemo „in Schach zu halten“? Und von einer OP war plötzlich auch gar nicht mehr die Rede. Das konnte doch nicht wahr sein! Warum ausgerechnet sie?

      Gedankenversunken und mit gesenktem Kopf betrat Ellen ihr Zimmer. Sie schaute weder nach links noch nach rechts, sondern lief sofort zu ihrer Tasche, die neben dem Bett an der Tür stand, öffnete diese und begann auszupacken. Dabei bemerkte sie nicht, dass sie nicht alleine im Zimmer war. Eine ältere Frau saß strickend in ihrem Bett am Fenster und beobachtete ihre neue Zimmergenossin neugierig dabei, wie sie ihren Schrank einzuräumen begann. Ellen spürte, dass die schlechten Nachrichten des Arztes langsam in ihrem Bewusstsein ankamen. Die Tränen begannen in ihr hochzusteigen. „Hallo, ich bin Josephine“, stellte sich die Frau ungefragt vor. Ellen zuckte zusammen und schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. „Tag“, erwiderte sie knapp und widmete sich sofort wieder ihren Kleidern. Dabei wischte sie sich verstohlen eine Träne von der Wange. Die Fremde sollte schließlich nicht mitkriegen, dass sie weinte. „Warum sind Sie denn hier?“ wollte die Frau wissen. Sie musterte Ellen von oben bis unten, ohne dabei mit dem Stricken aufzuhören und lächelte freundlich, als Ellen wieder kurz aufschaute. Ellen antwortete nicht und hängte ihre braune Tweedjacke auf einen Kleiderbügel. Wieso räumte sie eigentlich ihren Schrank ein? Sie wusste ja nicht einmal, ob sie noch hier bleiben musste. Sie hatte das Besprechungszimmer verlassen, bevor der Arzt zu Ende geredet hatte. „Der Menge an Kleidern zu urteilen, die sie mitgebracht haben, bleiben Sie länger hier“, bohrte die Frau weiter, offensichtlich erpicht darauf, ein Gespräch zu beginnen. „Ich habe eine anstehende O…“ Ellen wollte OP sagen, merkte aber gerade noch, dass das ja nun wohl nicht mehr der Fall war. „Ich habe einige Untersuchungen hier“, gab sie dann zur Antwort, ohne sich umzudrehen und hoffte, dass die Frau sich mit dieser Information zufrieden geben und sie nicht weiter mit Fragen belästigen würde. Ganz schön dreist, gleich zu fragen, warum sie hier sei, dachte Ellen. So etwas machte man doch nicht. Die Frau musste doch sehen können, dass sie mit den Tränen zu kämpfen hatte und ihr nicht nach Reden zumute war. Es gab schon komische Leute. „Brustkrebs oder Unterleibskrebs?“ fragte die Frau, die sich mit ‚Josephine‘ vorgestellt hatte, weiter. Ohne auf eine Antwort von Ellen zu warten, fuhr sie fort: „Ich selber habe Unterleibskrebs. Naja, damit hat es angefangen. Hab schon die 6. OP hinter mir. Alles schon raus: Gebärmutter, Eierstöcke…, aber der verdammte Krebs macht eben auch an anderen Stellen weiter. Morgen kommt die 7. OP. Weiß gar nicht, warum ich mir das immer wieder antue. Ist eh nichts mehr zu machen. Alles nur ein Hinauszögern. Aber man hängt halt irgendwie doch am Leben oder hat Angst vor dem Sterben, nicht wahr? Und das selbst in meinem Alter.“ Ohne Ellen die Chance zu geben, etwas darauf zu erwidern, redete sie weiter: „Vor 3 Jahren habe ich meinen Mann verloren. Auch Krebs. Ein Jahr später hat man ihn dann bei mir festgestellt. Seit zwei Jahren verbringe ich fast meine ganze Zeit in Krankenhäusern oder auf Kur. Hätte mir meine Rente auch ein bisschen anders vorgestellt, aber was soll man machen? Man muss die Dinge eben so nehmen, wie sie kommen, finden sie nicht auch?“ „Mhhh“, meinte Ellen nur. Eigentlich hatte es sie gar nicht interessiert, was die Frau zu erzählen hatte, als sie aber hörte, dass auch sie Krebs hatte, war sie hellhörig geworden. Ellen setzte sich auf ihr Bett. Erst jetzt nahm sie wahr, dass das mittlere Bett im Zimmer nicht belegt war. Deshalb hatte sie zunächst auch gedacht, dass sie alleine sei, als sie das Zimmer betreten hatte. Sie sah zu der Frau hinüber, die ihr gerade so unbefangen ihre gesamte Lebensgeschichte in wenigen Sätzen erzählt hatte, obwohl sie eine Wildfremde für sie war. Sie musste mindestens zwanzig Jahre älter sein als sie selbst, hatte kurze, graue Haare, die, obwohl sie sehr dünn waren, sorgfältig geföhnt und toupiert waren. Ihre goldenen Ringe, die alle mit schweren Edelsteinen bestückt waren, klapperten bei jeder Handbewegung mit den Stricknadeln um die Wette. Auf ihrem Nachttisch stand ein Blumenstrauß, der lieblos in der bunten Plastikfolie, in der er gekauft worden war, in eine Vase gestellt worden war und schon recht welk aussah. Daneben stand eine Saftflasche. „Wie kommen Sie darauf, dass ich Krebs habe?“ fragte Ellen, verärgert über die Indiskretion ihrer Zimmergenossin. „Wenn auf der gynäkologischen Station jemand das Zimmer betritt und kein neugeborenes Baby auf dem Arm hält und stattdessen heult, dann ist das normalerweise einer schlechten Diagnose zuzuschreiben. Wie ich eben sagte: Ich habe viel Zeit in Krankenhäusern verbracht und meine Erfahrungen gesammelt.“ „Brustkrebs“, bekannte Ellen kaum hörbar und sah aus dem Fenster. Die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. Sie hatte gehofft, dass die Frau mit dieser Antwort endlich Ruhe geben würde, aber sie redete ohne Punkt und Komma weiter: „Ach wissen Sie, da gibt es ja heute so viele Möglichkeiten und Sie sind ja noch jung, da würde ich mir keine Gedanken machen. Diese Klinik ist fachlich sehr gut, auf dem neuesten Stand. Wurde mir von meiner Frauenärztin empfohlen und ich muss sagen, ich bin im Großen und Ganzen zufrieden. Naja, bis auf ein paar Ausnahmen. Es gibt den ein oder anderen Arzt, den ich menschlich nicht mag und der mich, glaube ich, auch nicht auf seine Liste der Top 10 Lieblingspatientinnen setzen würde. Aber die machen gute Arbeit hier. Ich meine, immerhin haben sie mir noch ganze 6 Monate garantiert“, sie kicherte und nahm ihr Strickzeug wieder auf, das sie abgelegt hatte, als sie ihre Krankheitsgeschichte erzählt hatte. „Das haben Ihnen die Ärzte so gesagt, dass sie nur noch 6 Monate haben?“ fragte Ellen, die erstaunt darüber war, mit welcher Gelassenheit die alte Dame über ihre Krankheit sprach. „Ja, ja, das haben sie gesagt“, meinte die Frau, ohne von ihrem Strickzeug aufzuschauen. „Und das nehmen Sie so einfach hin? Da würde ich glaube ich anders reagieren“, erwiderte Ellen und biss sich auf die Zunge. Wie denn? fragte sie sich im selben Augenblick. Immerhin hatte sie gerade dasselbe gesagt bekommen. Wie oft die Ärzte hier diesen Satz wohl aussprachen? fragte sie sich. „Ach, wissen Sie, wenn man mal in meinem Alter ist…Ein Arzt hatte mir sogar mal nur drei Monate gegeben, aber das ist schon neun Monate her.“ „Man sieht Ihnen aber gar nichts an.“ Ellen hatte ein

Скачать книгу