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Vorschrift hatte er nicht gehandelt. Aber trotzdem: Wo kämen wir hin, wenn alle Leute immer nur wegsehen würden…

      Als Udo Voss endlich in seinen Golf einstieg, sandte die Sonne die letzten Strahlen in den abendlichen Himmel. Er kraulte Hasso am Hals. „Guter Hund“, flüsterte er Hasso zu, um sich selber zu beruhigen, „guter Hund“. Udo startete den Motor.

       Freitag, 1. Oktober

      Justus Voigt hatte in seinem Büro mit den oft wiederholten Übungen seine Stimme um eine halbe Oktave tiefer trainiert, um so mehr Überzeugungskraft darzustellen. Das tat er immer vor Versammlungen.

      Die Duftnote von Voigts Parfüm hatte sich im Versammlungsraum bereits ausgebreitet. Er legte sich akkurat das nächste Blatt mit einigen Zahlen zurecht und korrigierte mit der rechten Hand den Sitz seiner rahmenlosen Brille. „Kommen wir nun zur Auswertung der Tätigkeit der persönlichen Ansprechpartner. Ich möchte an dieser Stelle zum wiederholten Male betonen, dass es die Aufgabe der persönlichen Ansprechpartner ist, unsere Kunden schnellstmöglich in Beschäftigung zu bringen, Vermittlungshemmnisse zu beseitigen und Unwillige zur Aufgabe ihrer Blockadehaltung zu bewegen, wenn nötig, mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten, einschließlich der konsequenten Anwendung von Sanktions- und anderen geeigneten Maßnahmen. Dabei sind in erster Linie all jene wieder in Arbeit zu bringen, die dem Arbeitsmarkt entsprechend den Direktiven der Bundesanstalt am besten entsprechen.“ Der Leiter des Jobcenters rückte sich abermals die rahmenlose Brille mit dem Luxusgestell zurecht.

      „Im vergangenen Monat September hatten wir ein Angebot von 683 Stellen, von denen nur 417 vermittelt werden konnten. 417 Jobs von sechs Mitarbeitern! Das sind nur zwei Drittel! Ich sage das hier in aller Deutlichkeit noch einmal: Das ist entschieden zu wenig. Besonders positiv hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber unsere Mitarbeiterin Evelin Krause, die allein in 211 Jobs vermittelt hat.“ Voigt machte eine kleine Pause und Frau Krause genoss dabei die Aufmerksamkeit sichtlich. „Die rote Laterne trägt wieder einmal Frau Gutrecht mit ganzen 17 Vermittlungen. Das sind wiederum sechs weniger als im Vormonat.“

      Alle Blicke ruhten nun auf der ältesten Kollegin. Aber Frau Gutrechts Blick war selbstbewusst und gefasst.

      „Ein besonderes Maß für die Qualität Ihrer aller Arbeit ist die Anzahl der Widersprüche. Insgesamt kann man mit der Entwicklung im letzten halben Jahr zufrieden sein. Meine Vorgabe, dass mindestens 45 Prozent negativ beschieden werden, ist eingehalten worden, wobei es auch hier wieder Unterschiede gibt. Positiv hervorheben muss ich an dieser Stelle, dass wiederum Frau Krause trotz ihres jungen Alters wieder eine hervorragende Arbeit geleistet hat, ganz im Gegensatz zu Frau Gutrecht.“ Bei dem Namen Gutrecht wurde er lauter. „In einem Falle hörte ich sogar davon, dass Sie, Frau Gutrecht, einen Kunden zur Klage aufforderten.“ Er sah sie tadelnd an. „Was in Gottes Namen haben Sie sich dabei gedacht? Die Kollegen der Rechtsabteilung konnten diesen Fall gerade noch klären, indem sie dem Kunden einen Vergleich vorschlugen. Ein Urteil in dieser Sache hätte fatale Auswirkungen auf die Finanzlage der Bundesagentur gehabt. Mit dieser, unserer Lösung kann sich kein Nachahmer auf ein solches Urteil berufen. Man könnte beinahe meinen, dass Sie die Kunden geradezu ermuntern, aufmüpfig zu werden und damit der Kaste der Advokaten und Rechtsanwälte zuarbeiten. Ich kann an dieser Stelle wohl verlangen, dass Sie mehr Teamgeist beweisen müssen. Was haben Sie dazu zu sagen? Wir hören.“

      „Es sind heute eine ganze Reihe von Vorwürfen gegen mich vorgebracht worden. Leider entsprechen diese nicht alle der ganzen Wahrheit.“

      In der Dienstberatung wurde es unruhig.

      „Ruhe!“ befahl Voigt. Bewusst drückte er seine Stimmlage nach unten. „Welche Wahrheit denn? Es stimmt also nicht, dass Sie die niedrigste Vermittlungsrate haben, oder wie soll ich das verstehen?“

      „Nein, das nicht, Herr Voigt. Aber Sie sollten weitere Fragen nach den Hintergründen stellen und nicht nur ein paar x-beliebige Zahlen auf eine Ihnen genehme Art und Weise interpretieren. Ich habe auch meine Statistik.“

      „Da bin ich aber gespannt.“ Voigt lachte verächtlich.

      „Ja, es ist richtig, ich habe 17 meiner Kunden in Arbeit gebracht. Alle 17 haben einen Job bekommen, der ihnen ein auskömmliches Leben ermöglicht. Den 23 vom Vormonat geht es ebenso. Alle sind aus unserer Statistik verschwunden. Nur zwei von ihnen mussten sich im ganzen letzten Jahr wieder im Jobcenter melden. So gesehen ist meine Tätigkeit hier durchaus ein Erfolg für die Betroffenen. Ich glaube nicht, dass Frau Krause eine ähnlich geringe Rücklaufquote hat. Es geht doch hier um Menschen und nicht um die Statistik! Haben Sie sich die Arbeitsangebote schon mal genauer angesehen, Herr Voigt? Was kommt denn für die Betroffenen bei der Annahme eines Großteils der möglichen Beschäftigungen unter dem Strich heraus? Würden Sie etwa einen 400-Euro-Job annehmen, der gleichzeitig von Ihnen verlangt, den eigenen PKW auf eigene Kosten zu Kundenfahrten zu nutzen oder täglich über 100 Kilometer zu fahren, um zur Arbeitsstelle und zurückgelangen? Sie wissen doch: Die Fahrtkostenpauschale gibt es von den gezahlten Steuern zurück. Und wer keine Steuern zahlt, hat eben Pech gehabt? Oder wie sehen Sie das? Was bleibt dann nach Abzug der Spritkosten, und ich spreche noch nicht einmal von verschleißbedingten Reparaturkosten, von diesen 400 Euro noch übrig? In einem anderen Angebot war sogar ein eigener PC Voraussetzung für die Aufnahme der Tätigkeit. Ehrlich gesagt, kann ich unter diesen Umständen niemanden in eine Tätigkeit unter Androhung von Sanktionen pressen, ja pressen, bei der ich annehmen muss, dass es für diesen Unternehmer nur um billigste Arbeitskräfte geht, die er so billig wie möglich auch wieder loswerden kann, wenn er sie nicht mehr benötigt. Wenn die Unternehmer nicht gezwungen werden, ihre Arbeitnehmer ordentlich zu behandeln und zu bezahlen, haben wir bald das Chaos und fast jeder braucht zum Überleben staatliche Unterstützung. Das dürfte dann sehr, sehr teuer für den Staat werden; oder, das ist viel wahrscheinlicher, die staatliche Unterstützung für die Betroffenen wird heruntergefahren werden.“

      Voigt schnaufte und verfiel in seine höhere, normale Stimme. „Habe ich mich hier verhört, oder maßen Sie sich hier tatsächlich an, die Richtlinien des Landrates und der Bundesanstalt zu ignorieren. Das geht entschieden zu weit, Frau Gutrecht! Es geht bei den Richtlinien für die Vermittlung auch darum, dass unsere Kunden mit einem Minijob erst einmal einen Fuß in die Tür zum ersten Arbeitsmarkt bekommen. Immerhin ist es möglich, und das trifft noch viel mehr auf die Zeitarbeit zu, dass eine Minijobstelle in eine Vollzeitstelle umgewandelt wird. Diese Chancen sind immer vorhanden, wie mir Herr Maurer von der Power-PSA bestätigte.“

      „Dass ich nicht lache!“, platzte Frau Gutrecht dazwischen. „Ihre Statistik scheint Wunschdenken zu sein.“

      Blicke wechselten zwischen den Anwesenden, aber niemand anderes wagte es, eine Bemerkung zu machen. Verstohlen grinsten einige Mitarbeiter in die Hand.

      Voigt hatte sich mit seiner Stimme wieder in Griff. Er ignorierte den Zwischenruf. „Es ist nun einmal so, dass der Kunde für eine Arbeit schon mal ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen muss. Nur soviel zu Ihrer Bemerkung zu den Spritkosten, Frau Gutrecht!“ Dabei schlug Voigt mit der Faust auf den Tisch.

      „Genau so ist es“, bestätigte Frau Krause. „Ich selber habe im Interesse meiner Kunden gute Kontakte zu dieser Zeitarbeitsfirma aufgebaut. Ich finde, jeder der dieses Angebot annimmt, kann erhobenen Hauptes stolz auf die eigene Leistung sein. Es geht doch darum, das Gefühl zu entwickeln, wieder gebraucht zu werden.“

      Voigt nickte ihr anerkennend zu.

      „Stolz auf die eigene Leistung und wieder gebraucht werden“, parodierte Frau Gutrecht die Äußerungen von Frau Krause. „Dass ich nicht lache! Sie müssen noch viel lernen, Kindchen. Stolz und Gebrauchtwerden reichen für ein reales Leben leider nicht aus, meine Gute. Wenn ich arbeite, will ich mir auch was leisten können und in den Urlaub fahren können, aber zumindest nicht jeden Cent vor dem Ausgeben umdrehen müssen. Denken Sie mal darüber nach. Wohnen Sie eigentlich immer noch bei Mutti?“

      „Was hat es mit meiner Beschäftigung zu tun, dass ich bei meiner Mutter wohne?“ Frau Krause brach in Tränen aus. „Was haben Sie denn immer gegen mich. Dauernd hacken Sie auf mir umher.“ Dann rastete sie vollkommen aus. „Und du, Justus, musstest du unbedingt meine Vermittlungen von Kunden anführen? Das hast du doch

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